Berlinale | Interview - "Die Zuschauer in die Schuhe einer jungen Frau katapultieren"
"Never Rarely Sometimes Always" war für viele ein Bären-Favorit. Am Samstag erhielt das Abtreibungsdrama denn auch den Preis der großen Jury. Regisseurin Eliza Hittman über ihren Film, der viel mehr erzählt als die Geschichte einer ungewollten Schwangerschaft.
RBB|24: In "Never Rarely Sometimes Always" reist eine 17-Jährige vom ländlichen Pennsylvania nach New York, um dort eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Wie haben Sie die Idee für den Film entwickelt?
Eliza Hittman: Ich habe im Jahr 2012 das erste Mal über den Film nachgedacht. In der Zeitung las ich über den Tod einer jungen Irin, der eine lebenserhaltende Abtreibung versagt wurde. Ich war verzweifelt und habe Literatur über die Abtreibungsgeschichte Irlands gelesen. Aber wer bin ich schon - eine kleine Regisseurin aus Brooklyn - um einen Film über irische Frauen zu machen, die für eine Abtreibung ihr Leben aufs Spiel setzten und für einen Tag nach London fuhren.
Also haben Sie ihre Geschichte in die heutige USA verlegt?
Ich habe nach dem amerikanischen Äquivalent dieses Narrativs gesucht und bin relativ schnell auf die ländlichen Gegenden Amerikas gekommen. Da bleibt den Frauen auch nichts anderes übrig, als für eine Abtreibung große Distanzen zu überwinden. New York ist ein Zufluchtsort für Frauen in Not, für Frauen, die Abtreibungen machen wollen oder machen müssen.
Wie kamen Sie auf Pennsylvania?
2013 habe ich mich mit meinem Freund und Editor ins Auto gesetzt, und wir sind immer Richtung Westen gefahren. Drei Stunden lang. Irgendwann fuhren wir durch eine verarmte, ehemalige Kohlegegend in Pennsylvania. Es fühlte sich an wie eine Zeitreise in die Vergangenheit. Da wusste ich, dass ich den Ursprungsort unserer Geschichte gefunden habe. Ich habe mich selbst gefragt, wie ich in der Situation eines jungen Teenagers hier handeln würde. Wo ich hingehen würde. Ich bin also selbst in eine Schwangerschaftsklinik gegangen und habe dort einen Schwangerschaftstest machen lassen. Da arbeiteten nur Freiwillige. Überall standen Sachspenden rum, ältere Damen in Wolljacken wuselten um mich herum.
Und trotzdem sind acht Jahre zwischen erster Idee und Film vergangen. Warum haben Sie sich so viel Zeit genommen?
Aus persönlichen Gründen hatte ich das Thema erstmal ein paar Jahre beiseite gelegt. Als Trump Präsident wurde, war es auf einmal wieder da. Da habe ich gemerkt, welche Dringlichkeit das Thema hat.
Wie haben Sie recherchiert?
ich habe mit Leuten von "Planned Parenthood" und anderen Organisationen gesprochen, in Pennsylvania und New York. Ich wollte wirklich verstehen, welch schwierigen Weg eine Frau gehen muss, welche Hürden sie überwinden muss. Mir war klar, dass ich aus der Perspektive einer Jugendlichen erzählen wollte. Ich bin selbst mit dem Greyhound Bus gefahren und habe versucht, mit den Augen einer Siebzehnjährigen zu sehen.
Warum haben Sie die junge Debütantin Sidney Flanigan in der Hauptrolle besetzt?
Ich habe knapp 200 Mädchen gecastet. Mir war relativ schnell klar, dass ich keine Schauspielerin haben will, die schon zehn Filme gemacht hat. Mir war ein neues, unverbrauchtes Gesicht wichtig. Ein schon etablierter Star hätte von meiner Geschichte nur abgelenkt.
Die emotionalste Szene des Films ist die Befragung durch die Sozialarbeiterin nach ihren sexuellen Erfahrungen, in denen sie mit "Never, Rarely, Sometimes oder Always" antworten soll.
Wir haben mit zwei Kameras gedreht, eine sehr nah an Sidneys Gesicht, eine neben ihr. Sie war quasi umzingelt von zwei Kameras. Das hat den Moment für sie noch intensiver werden lassen und den Druck erhöht. Wir haben auf 16mm in einer Einstellung gedreht. Ohne Unterbrechung. Das hat die Intensität und die Verletzlichkeit des Moments erhöht.
Es geht nicht nur um die Abtreibung an sich. Sie zeigen vor allem auch sehr subtil, wie Männer Frauen behandeln. Der Druck, der auf jungen Mädchen lastet, wie sie ständig sexualisiert werden.
Ich wollte die Zuschauer in die Schuhe einer jungen Frau katapultieren. Dass sie sehen, wie es ist, die ganze Zeit dem männlichen Blick ausgesetzt zu sein. Ich nenne das immer die Mikro-Momente, kleine Augenblicke: etwa Skylers Freundlichkeit gegenüber einem Kunden, der sofort denkt, sie würde flirten. Durch solche Situationen zu kommen, ohne Schaden zu nehmen, ist für viele junge Frauen ihre eigene Coming-Of-Age-Geschichte. Und ihre eigene Erfahrung. Ich wollte diese Situationen nicht übertreiben, aber ich wollte sie beharrlich einbinden. Männer, die uneingeladen am Leben der Mädchen teilnehmen wollen. Diese Erfahrungen machen fast alle junge Frauen. Fragen Sie mal in ihrem weiblichen Freundeskreis. Das ist erschreckend.
In den vergangenen Tagen wurde das Urteil gegen Harvey Weinstein gefällt. Ein Meilenstein für die #Metoo-Bewegung. Glauben Sie an eine wirkliche Veränderung in der Filmbranche?
Es gibt auf jeden Fall ein größeres Bewusstsein. Es wird gerade neu definiert, was es heißt, ein Opfer zu sein. Wir machen zwei Schritte vor und einen zurück. Aber immerhin bewegen wir uns. Die Jury hat ihn als schuldig befunden. Aber nicht als so schuldig, wie wir alle wissen, dass er schuldig ist. Wir kennen das Strafmaß noch nicht. Es ist ein Unterschied, ob er für fünf oder zwanzig Jahre ins Gefängnis kommen wird. Ich hoffe, dass er die Höchststrafe bekommt.
Mit Jeremy Irons gab es in diesem Jahr einen Jurypräsidenten, der sich in der Vergangenheit gegen Abtreibung ausgesprochen hat – und Sie nun ausgezeichnet hat!
Ich wusste vorher gar nichts von seinen Statements. Ich bin erst während des Festivals darauf aufmerksam gemacht worden. Ich war anfangs schon etwas irritiert und habe mir wenig Hoffnungen gemacht. Es freut mich, dass er den Film gesehen hat und die Leistung aller Beteiligten anerkannt hat. Er ist Schauspieler, die einzige Rolle, die er noch nie gespielt hat, ist die einer Frau. Ich bin froh, dass er seinen Horizont erweitert hat.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview mit Eliza Hittman führte Anna Wollner für rbb|24.
Sendung: Inforadio, 01.03.2020, 08:00 Uhr