Theaterkritik | "Extinction" an der Volksbühne - Die Auslöschung von Kunst und Intellekt
Der junge französische Star-Regisseur Julien Gosselin ist zurück an der Volksbühne. Diesmal mit einem fünfstündigen bildstarken Abend über das Ende der Menschheit: "Extinction" holt die großen österreichischen Literaten in die Gegenwart. Von Barbara Behrendt
Bei den Ohrstöpseln, die einem am Eingang angeboten werden, sollte man unbedingt zugreifen. Denn im Saal wummern die Techno-Beats nicht nur, sie schrauben sich ins Gehirn und lassen den Brustkorb vibrieren. Julien Gosselin meint es ernst mit dem Elektro-Club, den er in die Volksbühne holt – schön, wenn da wenigstens die Ohren geschützt sind.
45 Minuten lang darf man auf der großen Bühne tanzen und umsonst Bier trinken, wenn man denn möchte. Oder man schaut aus den Sitzreihen den anderen dabei zu. Bis die Kamera nach einer guten halben Stunde, als die ersten Zuschauer:innen schon wieder gehen wollen, einer jungen Frau an die Bar folgt. Wir sehen sie auf den großen Leinwänden über der Bühne. Dann ihre Freundin. "Rosa, du musst in Wolfsegg anrufen!" sagt sie.
Wolfsegg – das ist der Heimatort des Protagonisten in Thomas Bernhards Roman "Auslöschung". Franz-Josef Murnau heißt er, seine Eltern und sein Bruder sind gerade bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Jetzt also spielt Rosa Lembeck den Murnau. Doch mehr als diesen ersten kleinen Appetizer im Techno-Club gibt es nicht, Rosa kommt erst am Ende des Abends zurück.
Ein perfekt ausgeleuchteter Live-Film in Schwarz-Weiß
Das Bühnensetting wechselt vom heutigen Amüsierwillen zur Dinner-Party im Wien von 1913. Größer könnte der Kontrast zu Teil Eins kaum sein: Eine Fin-de-Siècle-Villa steht hier, von der man aus dem Zuschauer:innenraum nur die Außenwände sieht – was das Ensemble innen spielt, erscheint ausschließlich auf der Leinwand. Ein zweieinhalbstündiger Live-Film in wunderschönen Schwarz-Weiß-Bildern. Auch wenn man die Schauspieler:innen gern in ihrer Bühnenpräsenz wahrgenommen hätte, ziehen diese perfekt inszenierten und ausgeleuchteten Bilder ungeheuer in den Bann. Dem hinreißenden Ensemble kommt man so auf andere Weise nah. Carine Goron zum Beispiel aus dem französischen Team, in deren Gesicht in Nahaufnahme sich tausend Zerrissenheiten spiegeln.
Überhaupt stehen im Zentrum des fünfstündigen Abends einige komplexe Frauenporträts. Julien Gosselin vermischt drei Texte von Arthur Schnitzler ("Traumnovelle", "Komödie der Verführung", "Fräulein Else") und folgt den weiblichen Figuren auf ihrer Suche nach Rollen zwischen Ehefrau, Geliebter und Künstlerin. Gemeinsam mit den Männern feiern sie ein rauschendes Fest in der Villa.
Es ist der Juni 1913, man palavert über Kunst und Musik, man begehrt sich und fällt höchst sinnlich übereinander her. Marie Rosa Tietjen führt mit Hugo von Hofmannsthals "Brief des Lord Chandos" ein grandios-groteskes Avantgarde-Theaterstück auf – und nur Carine Gorons Figur "Albertine" schaut immer wieder besorgt in den Himmel, wo dann zuletzt, wie bei Lars von Triers "Melancholia", die ohrenbetäubende Apokalypse hereinbricht. Oder auch die Bomben des Ersten Weltkriegs.
Rosa Lembeck in einem furiosen Bernhard-Solo
Die dritte Zeitebene folgt im letzten Teil mit Thomas Bernhards "Auslöschung" von 1986. Auch dieser Teil wirkt stilistisch wieder völlig anders als der zweite. Dass hier kein Mann als grantelnder, alternder Protagonist Franz-Josef Murnau auftritt, sondern die junge Rosa Lembeck die Bernhardschen Hasstiraden herausspuckt wie im Roman, in einem furiosen, mindestens 70-minütigen Solo, lässt einen Thomas Bernhards Worte ganz neu hören.
Streckenweise ist das in aller stilprägenden Misanthropie ungeheuer komisch. Wenn Lembeck von den Auslöschern spricht, die die Natur umbringen, oder von unserer Fotomanie, die nie etwas Natürliches, Reales abbildet, klingt das ungewöhnlich aktuell. Und mit Bernhards "Worten, die nichts mehr taugen", ist plötzlich auch eine Verbindung zu Hofmannsthals Worten, die einem "im Munde zerfallen wie modrige Pilze", geschaffen.
Extinction: Die Auslöschung von Kunst und Intellekt
In drei Zeitebenen wird in "Extinction" also nicht der Klimawandel verhandelt, sondern die Auslöschung von Kunst und Intellekt. Die Verbindung zwischen Schnitzler, Hofmannsthal und Thomas Bernhard präsentiert Julien Gosselin nicht auf dem Silbertablett. Doch man kann durchaus einen roten Faden finden von der Zerstörung der Kultur durch die beiden Weltkriege hin zu Bernhards Hass auf die bornierte Nachkriegsgesellschaft in Österreich und Deutschland.
Nicht, dass man alle Schnitzler-Texte kennen müsste, um dem Abend folgen zu können – doch ganz unvertraut sollte man mit der großen österreichischen Literatur auch nicht sein, sonst können einem die nur lose verknüpften fünf Stunden lang werden. Bis zum Ende halten bei der Premiere wahrlich nicht alle Zuschauer:innen durch.
Doch obwohl einiges unverbunden bleibt (von einer blutigen Splatter-Szene in österreichischen Trachten wäre noch zu reden), gelingt Gosselin eine kluge Mischung aus Hochglanz-Bildungstheater und bildgewaltigem Live-Film – mit außergewöhnlich gutem Ensemble. Ganz anders als sein Deutschland-Debüt "Sturm und Drang", das vergangenes Jahr an der Volksbühne floppte. Diesmal führen die Gedanken übers Welt- und Menschenende zu fünf Stunden intelligenter Unterhaltung.
Sendung: rbb24 Inforadio, 08.09.2023, 7:45 Uhr