Interview | Preisverleihung
Am Samstagabend werden die Hauptpreise der 74. Berlinale verliehen. Unsere Filmkritiker:innen Anna Wollner und Fabian Wallmeier verraten, welche Filme sie für bärenwürdig halten - und welche nicht.
rbb|24: In den letzten Tagen und Nächten war der Kinosaal euer Zuhause. Was war euer persönlicher Lieblingsfilm auf der Berlinale?
Anna Wollner: Mein Lieblingsfilm ist ein Geheimtipp, der keiner mehr ist, denn alle Vorstellungen sind mittlerweile restlos ausverkauft: "The Outrun" von Nora Fingscheidt, ein unglaublich wuchtiger Film über eine alkoholkranke junge Frau, gespielt von Saoirse Ronan, die in der Einsamkeit der schottischen Inseln zu sich selbst zurückfindet. Die Schlussszene, als Ronan vor dem Ozean steht und die Wellen dirigiert, ist für mich das Bild, das von diesem Festival bleiben wird.
Fabian Wallmeier: Meine beiden Lieblingsfilme sind Wettbewerbsbeiträge. Ich bin ein großer Fan von Hong Sangsoo und finde auch "A Traveler's Needs" herausragend. Isabelle Huppert spielt eine Französin, die in Korea gelandet ist, und dort mit einer ungewöhnlichen Lehrmethode Französisch unterrichtet. Das ist sehr komisch und wird am Ende dann doch auch noch bewegend, wenn es um den Umgang mit Altern und Hilfsbedürftigkeit geht. Mein zweiter Favorit ist "A Different Man", eine mutige Betrachtung von Körperbildern, dabei aber auch freudig im Stilmix und sehr komisch.
Könnten diese beiden Filme auch den Hauptpreis gewinnen?
Fabian: Hong Sangsoo eher nicht, viele können mit seinem Stil gar nichts anfangen, was ich auch verstehen kann. "A Different Man" vielleicht schon aus dem Grunde nicht, weil er bereits auf dem Sundance-Festival gelaufen ist und dort breite Aufmerksamkeit bekommen hat.
Welche Filme haben eurer Meinung nach die besten Chancen beim Bärenrennen?
Anna: Das ist in diesem Jahr schwer einzuschätzen, weil die Jury so unterschiedlich besetzt ist. Aber ich glaube, ein typischer Goldener-Bär-Kandidat ist tatsächlich mein Lieblingsfilm aus dem Wettbewerb: der iranische Beitrag "My Favorite Cake" über eine ältere, einsame Dame, die aus gesellschaftlichen Konventionen auszubrechen versucht, und einen Taxifahrer mit nach Hause nimmt. Das wäre wieder ein Goldener Bär für einen iranischen Film. Und das wäre auch wieder einer, der nicht persönlich übergeben werden darf. Denn die beiden Regisseur:innen Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha dürfen nicht ausreisen.
Ich könnte mir auch vorstellen, dass "A Traveler's Needs" gewinnt - einfach weil es einer der beiden Filme im Wettbewerb ist, die ich nicht sehen konnte. Das war bislang immer so: Ein Film, den ich nicht sehen konnte, kriegt am Ende irgendeinen Bären.
Fabian: Ich könnte mich auch sehr gut auf einen Goldenen Bären für "My Favorite Cake" verständigen, aus ähnlichen Gründen wie Anna. Ein anderer Kandidat ist für mich "Dahomey" von Mati Diop, eine Doku über Restitution von Kunstraub-Objekten. Auch das ist ein politisch relevantes zeitgeistiges Thema, und dazu finde ich den Film in seiner Knappheit von 67 Minuten künstlerisch überzeugend umgesetzt. Als letztes vielleicht noch "Pepe", ein auch formal sehr origineller Film mit einer ungewöhnlichen Perspektive. Aber sicher eher ein Außenseiter.
Anna: Aber der würde keinen Goldenen Bären kriegen, der kriegt das Goldene Nilpferd!
Wo seht ihr die deutschen Wettbewerbsbeiträge "In Liebe, eure Hilde" von Andreas Dresen und "Sterben" von Matthias Glasner?
Anna: Liv Lisa Fries in "Hilde" und Corinna Harfouch in "Sterben" sind für mich heiße Anwärterinnen auf die Silbernen Bären "schauspielerische Leistung". Das sind zwei komplett unterschiedliche Filme, die mich trotzdem sehr berührt haben. Bei Andreas Dresen haben wir dieses zurückgenommene Schauspielerkino, das am Ende seiner Hauptdarstellerin Liv Lisa Fries als Hilde Coppi vollkommen vertraut. Ganz anders Matthias Glasners dreistündige Familienaufstellung mit Harfouch und einem famos aufspielenden Lars Eidinger.
Fabian: Ich kann nur hoffen, dass Andreas Dresen diesmal gar keinen Preis mit nach Hause bringt, weil ich den Film überhaupt nicht gut fand. Der Hauptdarstellerin bin ich erst am Ende ein bisschen näher gekommen. Bei Glasner fand ich Corinna Harfouch und Lars Eidinger ebenfalls sehr gut. Und ich finde auch das Drehbuch exzellent in seiner Härte – und seinem Humor.
Anna: Ich weiß nicht, ob das nach den Regularien möglich wäre, aber ich würde Harfouch und Eidinger gemeinsam den Silbernen Bären für die beste schauspielerische Leistung geben. Und zwar auch für eine spezielle Szene – eine 24 Minuten lange Aussprache zwischen Mutter und Sohn nach der Beerdigung des Vaters, die wie ein Showdown beim Western inszeniert ist. In einem Durchgang gedreht, mit zwei Kameras. Schuss. Gegenschuss. Alleine wegen dieser Szene würde ich noch einmal in diesen dreistündigen Film gehen. Denn besser als die beiden kann man so etwas nicht spielen. Auch Nina Mélo, die Hauptdarstellerin von "Black Tea", ist eine klassische Bären-Kandidatin. Im Film geht es um Afrika, China, um Rassismus - und ich kann mir vorstellen, dass der Jury-Präsidentin das gefällt.
Fabian: Ich fand Lily Farhadpour, die Protagonistin aus "My Favourite Cake" sehr überzeugend, sie trägt den Film. Und wie schon erwähnt Isabelle Huppert in "A Traveler's Needs", ihrer lustigsten Rolle in einem Film von Hong Sangsoo. Wenn man dagegen eine weniger subtile und sehr laute Darstellung auszeichnen will, wäre Raúl Briones Carmona aus "La Cocina" ein geeigneter Kandidat. Und für die beste schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle habe ich einen ganz klaren Favoriten: Adam Pearson in "A Different Man". Ich habe lange nicht mehr erlebt, dass eine Nebenfigur einen Film dermaßen unvergesslich kapert, wie er das tut.
Was hat euch noch beeindruckt am Wettbewerb?
Fabian: Das Produktions-Design in "The Empire". Ich habe selten so originell gebaute Raumschiffe gesehen wie in diesem Film, das eine wie eine Kathedrale, das andere wie eine Art Versailles.
Anna: Der Himalaya Film "Shambala" – weil sie das Equipment die ganze Zeit durch die Lager getragen haben müssen. Ach ja, und ich finde es ist die Berlinale mit den schlimmsten Zahnarztszenen: In "Sterben" zieht die Zahnarzthelferin ihrem Chef einen Zahn, wir haben den zertrümmerten Unterkiefer von Dave Franco in "Love Lies Bleeding" und selbst in "Des Teufels Bad" gibt es einen Moment, wo Kinder ein Skelett auseinandernehmen und ihm die Zähne ziehen. Wir hatten vor ein paar Jahren mal die "Katzen"-Berlinale, das hier war für mich die "Zahn"-Berlinale.
Wenn es einen Negativ-Bären für den schlechtesten Filme geben würde – wer sollte den kriegen?
Anna: "The Empire" und "Pepe". Da bin ich die ganze Zeit über kopfschüttelnd dagesessen.
Fabian: Ich fand "Another End" grauenhaft einfallslos, "Gloria" war Erbauungs-Kitsch der langweiligsten Art und das prätentiöse Geraune von "Black Tea" einfach schrecklich.
Das war die letzte Berlinale unter der Leitung von Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek. Wie ist eure persönliche Bilanz dieser Ära?
Anna: Ich bin froh, dass es vorbei ist. Die hatten keinen leichten Start gehabt, keine leichte Mitte und kein leichtes Ende. Corona, der ausgeblutete Potsdamer Platz, es gab keine Festivalstimmung, keine Stars. Wenn man bei dieser Berlinale Adam Sandler in "Spaceman" schon als Hollywood-Größe verkaufen muss, dann ist irgendwas schiefgelaufen.
Fabian: Ja, der Potsdamer Platz war verwaist. Aber dafür können sie nichts. Ich bin traurig, dass Chatrian geht. Er ist ein echter Cinephiler, der sich für Filmkunst interessiert. Klar, man braucht auch Stars. Aber ich bin ihm die letzten Jahre gerne gefolgt mit seiner Wettbewerbs-Auswahl. Sie war mutiger und kontroverser als zuvor.
Ab April übernimmt Tricia Tuttle die Intendanz des Festivals. Was kann sie anders und besser machen?
Fabian: So viel ändern muss sich gar nicht. Ich hoffe, sie schafft den Encounters-Wettbewerb nicht ab, sondern versucht ihn aufzubauen. Nach dem Vorbild von "Un certain regard", dem Neben-Wettbewerb von Cannes.
Anna: Ich hoffe auf ein bisschen frischen Wind – und eine Balance zwischen den Filmen, die Fabian im Kino sehen will, und den Filmen, die ich im Kino sehen will.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Ula Brunner für rbb|24.
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