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Quelle: dpa-Zentralbild

Kaugummiautomaten in Berlin

Ich glaub es knackt

Etwa 60.000 Kaugummiautomaten gibt es in Berlin. Sie hängen in Seitenstraßen, verbeult, zerkratzt, beschmiert - und immer noch versenken Kinder gerne ihren Reichtum darin. Doch das Geschäft mit den quietschbunten Kugeln ist härter geworden. Von Sebastian Schneider

Gegenüber der Schule, in einem verbeulten, roten Stahlkasten, herrscht die Drei-Klassen-Gesellschaft. Links: Armbänder aus Plastik, ein Euro das Stück. In der Mitte: "Tolle Überraschungen", also winzige Spielzeugkreisel, hellblaue Flummis, das macht 50 Cent. Rechts aber wartet die Verheißung: Kaugummikugeln Marke "Rainforest", in irren Pastellfarben, für redliche 20 Cent. Rund um den Einwurfschlitz ist der weiße Lack abgeplatzt. Der Geschmack von Grundschülern bleibt unbestechlich. "Kaugummis laufen am besten. Das ist so", sagt ein Händler.

Generationen von Kindern haben ihr Taschengeld in Automaten wie dem in der Neuköllner Karlsgartenstraße versenkt. Seit mehr als 60 Jahren hängen diese Kisten an Deutschlands Hauswänden, die ersten wurden aus den USA importiert. Gut eine halbe Million gibt es in der Bundesrepublik noch, in Berlin sind es etwa 60.000, schätzt der Bundesverband der Automatenaufsteller.

Eindeutiger Beweis in der Neuköllner Karlsgartenstraße: Die Münzschlitze links und in der Mitte sind heile, der rechts für die Kaugummis ist zerkratzt. | Quelle: rbb|24 / Schneider

Man blickt einfach drüber hinweg

Genau weiß das niemand, weil die Standorte nicht genehmigt werden müssen - die Dinger hängen meistens an Wohnhäusern, der Aufsteller beteiligt den Hauseigentümer mit ein paar Prozenten am Umsatz. Im Grunde gibt es nur zwei Regeln: Kaugummiautomaten sind dort, wo oft Kinder vorbeikommen, und sie hängen immer auf deren Augenhöhe. Was vermutlich der Grund dafür ist, dass sie Erwachsenen nicht mehr auffallen. Man blickt einfach drüber hinweg.

In den Straßen Kreuzbergs und Neuköllns sind die Automaten gut getarnt: Durch eine Patina aus abgewetzten Stickern, Schrammen und Graffiti-Tags. "es häng davon ab", hat ein Philosoph auf die Kiste in der Karlsgartenstraße geschrieben. Ab und an kommen die Leute vom Gesundheitsamt vorbei und schauen, ob die Kugeln hinter den vergilbten Scheiben noch genießbar sind - also, theoretisch jedenfalls.

Ein Selbstversuch: Man kramt eine Münze aus der Hosentasche, steckt sie in den Schacht und ist sofort wieder Wicht - das Knacken und Knirschen, wenn man den schwarzen Griff nach rechts dreht, ist mit nichts zu vergleichen. Für viele Kinder bedeutet der Gang zum Kaugummiautomaten den ersten Kauf ihres Lebens. Man reißt an der verkratzten Schublade, stopft sich die Chemiebombe in den Mund und lässt es krachen: Ein Zuckerschwall ergießt sich auf der Zunge, garniert von einer Idee künstlichen Orangenaromas. Aber irgendwie schmeckt es auch oll. Werden die Dinger überhaupt noch ausgetauscht? Die Adresse auf dem Schild wirkt beängstigend alterslos.

"Es könnte ja sein, dass mich einer aushorchen will"

Anruf beim Aufsteller also, eine Nummer in Falkensee: Nur ein Anrufbeantworter geht ran, die Frauenstimme schlägt vor, man könne auch ein Fax schicken. Zum Rückruf kommt es nie. Man weiß, dass Berlin vor allem aus dem Umland beliefert wird. Die Branche selbst aber ist auffallend verschwiegen. Ein anderer Mann aus dem Kreis Oberhavel nimmt wenigstens persönlich ab. Ob man die Anfrage erst einmal per Mail schicken könne? "Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber es könnte ja auch sein, dass mich da einer aushorchen will", gibt er zu bedenken, grüßt freundlich und meldet sich nicht wieder.

Die Aufsteller hätten Angst, dass ihnen jemand ihren Platz wegnehme, sagt Paul Brühl. "Manche halten ihren Laden so geheim, die wissen manchmal gar nicht mehr, wo ihre Automaten hängen", erzählt Brühl und lacht. Er ist der Geschäftsführer des Verbands der Automaten Fachaufsteller in Deutschland, es gibt mehrere dieser Bünde.

Das süße Gift der Nostalgie

Ihre Mitglieder sind größtenteils ältere Herren, die das Geschäft mit der Familie betreiben, ergänzt von ein paar Quereinsteigern. Es rentiere sich erst, wenn man mindestens 2.000 Automaten besitze, rechnet Brühl vor. Jede Kiste bringe zwischen zehn und 200 Euro Umsatz pro Jahr, bei einem Anschaffungspreis von etwa 350 Euro. "Das reicht dann aber nur für den Nebenerwerb. Sie müssen eigentlich groß genug sein, dass Sie das Befüllen der Automaten auslagern können - sonst macht das einen riesigen Aufwand."

Die Zeiten seien härter geworden, sagt Brühl, was daran liege, dass es weniger Kinder gebe. In Berlin werden außerdem viele Häuser saniert, nur wenige der schmuddeligen Stahlkästen dürfen später wieder an die frisch getünchten Fassaden. Dabei bräuchten die Automaten kaum Zuwendung: Seit 40 Jahren die gleiche, simple Mechanik, "die Dinger halten ewig", schwärmt Brühl. Alle paar Monate nur müsse man die Kaugummis tauschen. Gelackte Ware, sehr langlebig.

Auf einmal ergibt der Geschmack der blassrosa Konservierungsbombe Sinn. Schon nach zwei Minuten Gekaue ist von den falschen Früchten nichts mehr zu erahnen, sie wurden verdrängt von bitterem Nichts. Warum sollte ein Erstklässler für sowas sein Taschengeld ausgeben? Zum Teufel mit dem schlauen Dahergerede, das süße Gift der Nostalgie ist unwiderstehlich. Sofort will man wieder am schwarzen Griff drehen - und wühlt nach den nächsten 20 Cent.

Beitrag von Sebastian Schneider

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