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Quelle: dpa/Paul Zinken

Interview | Ungeklärte Vermisstenfälle

"Manche hören auch nach Jahrzehnten nicht auf zu suchen"

Seit drei Jahren muss die Familie von Rebecca Reusch damit leben, dass die Berliner Schülerin verschwunden ist. Traumapädagogin Doreen Wilke erklärt im Interview, welche Folgen so eine Erfahrung für Betroffene mit sich bringt und was helfen kann.

Die Berliner Schülerin Rebecca Reusch ist seit dem 18. Februar 2019 verschwunden, damals war sie 15 Jahre alt. Die Polizei konnte bis heute keine Erklärung für ihr Verschwinden finden, geschlossen wird die Akte jedoch nicht. Am dritten Jahrestag nach Rebeccas Verschwinden fragen wir Traumapädagogin Doreen Wilke, wie es Angehörigen damit geht, wenn ein nahestehender Mensch auf unerklärliche Weise nicht mehr auftaucht.

rbb|24: Frau Wilke, was geht in Angehörigen vor, wenn ein nahestehender Mensch verschwindet, ohne dass sich eine Erklärung dafür findet?

Doreen Wilke: Die Angehörigen bleiben immer im Ungewissen, da ist nichts Greifbares. So kann man keinen gängigen Trauerprozess starten, denn es ist nicht wirklich etwas zum Trauern da. Betroffene befinden sich in einem ständigen emotionalen Ausnahmezustand.

Zur Person

Welche Folgen kann ein solcher Verlust für trauernde Angehörige haben?

Es kann zu anhaltenden Trauerstörungen kommen. Das heißt, dass die Trauer einfach keinen Abschluss findet, sondern bleibt. Dadurch kann zum Beispiel eine posttraumatische Belastungsstörung entstehen. Häufig sind Depressionen, Schlafstörungen und psychosomatische Störungen, wie Rückenschmerzen, Magenschmerzen in dem Zusammenhang beobachtet. Das hat manchmal zur Folge, dass der Betroffene seinen Alltag nicht mehr bewältigen kann, zum Beispiel nicht mehr arbeiten gehen kann und dadurch nicht mehr versorgt ist. Verlust von sozialen Kontakten, Verlust von Hobbys - das alles erleben die Betroffenen.

Die Berliner Schülerin Rebecca Reusch ist seit drei Jahren verschwunden. Eine Erklärung gibt es bis heute nicht. Was bedeutet das für ihre Familie?

Ich kenne die Familie zwar nicht, aber was uns häufig begegnet ist, dass Betroffene ewig weiter die Vorgänge durchdenken, immer weiter suchen und nicht wahrhaben wollen, dass der nahestehende Mensch verschwunden ist. Manche Angehörige hören über Jahrzehnte hinweg nicht auf nach ihren Vermissten zu suchen. Diese Suche wird zu ihrem Lebensinhalt. Manche können nicht damit aufhören, immer wieder Strohhalme zu finden, an denen sie sich festhalten, die ihnen Hoffnungsansätze auf ein Wiedersehen geben. Betroffene erleben das Aufgeben der Suche häufig wie einen Verrat an den Verschwundenen: Ich höre auf mich mit dir zu beschäftigen, an dich zu glauben. Keine Hoffnung mehr zu haben, ist wie etwas begraben, was eigentlich nicht begraben werden kann, weil ja nichts da ist.

Sie arbeiten als Traumapädagogin. Wie versuchen Sie, Menschen, die Ähnliches erleben wie Rebeccas Familie, zu helfen?

Es ist hilfreich, wenn Angehörige jemanden finden, der ihnen ohne Bewertung und ohne Fragen zu stellen, zuhört. Dann können sie ihre ganze Trauer, ihren ganzen Verlust, ihren ganzen Schmerz und auch ihre Wut mit jemandem teilen. Um die ganzen Gefühle loszuwerden, braucht es ein Gegenüber, dass sie wahrnimmt, das für sie da ist und dabei trotz allem neutral bleibt. Nehmen wir mal an, Rebeccas Mutter wäre bei mir. Dann würde ich sagen: Sie sind noch da, Sie leben noch und Sie suchen noch. Sie haben nicht aufgegeben. Wow, was für eine Stärke. Wieviel Energie dahinter doch steckt. Das ist so bewundernswert. Die Rückmeldung, dass sie vollkommen in Ordnung sind, wie sie gerade sind, brauchen Angehörige.

Welche Rolle spielt das Gefühl Wut bei Betroffenen?

Nicht immer sind alle Gefühle ganz klar voneinander zu trennen. Wütend bin ich auf etwas, was nicht lösbar ist. Ich habe zum Beispiel eine Kette, die total verknotet ist. Ich brauche diese Kette aber unbedingt, die ist wichtig, ich kann diesen Knoten aber nicht lösen. Dann kann es passieren, dass ich unwirsch werde oder Selbstzweifel bekomme.

Betroffene werden wütend, lassen diese Wut oft aber gar nicht zu, weil Wut nicht gesellschaftskonform ist. Wenn Klienten hier bei mir sind, dürfen die auch richtig wütend werden. Es ist ok mal laut zu werden, es ist ok mal laut zu schimpfen, und es ist auch ok, wenn wir uns etwas suchen, wo wir die Wut hinkanalisierten können. Das braucht es unbedingt.

Die Kriminalkommission schließt den Fall Rebecca nicht ab, denn Mord verjährt nicht. Macht das die Situation für Angehörige extra schwer, wenn die Hoffnung immer fortwährt, dass sie nicht doch noch gefunden wird?

Es ist meines Erachtens hilfreich für die Angehörigen, Fälle nicht abzuschließen. Das klingt nämlich nach Deckel drauf machen, aber es ist ja nichts da zum Deckel drauf machen. Es gibt keinen Trauerprozess, es gibt kein Ritual. Wenn ein Fall einfach abgeschlossen wird, dann ist das Signal an die Betroffenen: Der Verschwundene wird vergessen, der Verschwundene ist egal geworden. Das kann meiner Meinung nicht hilfreich sein, Akten zu schließen. Helfen tut sehr gut, wenn man Familien wie Rebeccas Familie ein Netzwerk an die Hand gibt. Wenn sie erfahren dürfen, dass sie Hilfe bekommen, dass sie in ihren Gefühlen so sein können, wie sie sein möchten.

Gibt es in Deutschland Ihrer Meinung nach genug Hilfsangebote für betroffene Angehörige?

Natürlich gibt es Hilfsangebote für jeden Menschen. Es gibt zum Beispiel ein großes Angebot an Selbsthilfegruppen, die ich meinen Klienten immer wieder ans Herz lege. Trotzdem müsste viel mehr getan werden. Jeder weiß selbst, was für ihn am besten ist.

Wenn jetzt Rebeccas Mutter sagen würde: Mir tut es gut, drei Mal in der Woche zu einer Maltherapie oder einer Musiktherapie oder einer Traumafachberatung zu gehen, dann hat sie ein Problem. Das sind nämlich alles Leistungen, die die Krankenkasse nicht übernimmt. Die Trägerlandschaft ist in dem Bereich oft finanziell schlecht ausgestattet, um Betroffenen Angebote zu machen oder bestehende Projekte aufrecht zu erhalten. Es wäre eine große Chance, wenn es mehr Therapieplätze gäbe und auch andere Therapieformen als die geläufigen von Krankenkassen gezahlt würden. Betroffene wieder in die Gesellschaft zu integrieren, da hätten wir alle etwas davon.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führte Anna Bordel, rbb|24.

Sendung: Abendschau, 18.02.2022, 19:30 Uhr

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