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Interview | Berliner Schuldnerberatung

"Wir haben hier gestandene Männer, die plötzlich anfangen zu weinen"

Die Zahl der Privatinsolvenzen in Berlin und Brandenburg steigt. Marco Rauter von der Schuldner- und Insolvenzberatung in Neukölln bekommt täglich mit, was das bedeutet. Im Interview spricht er über Scham, Inkassotricks und gibt Tipps für Schuldner.

rbb|24: Herr Rauter, was für Menschen kommen in Ihre Beratungsstelle?

Marco Rauter: Es sind Menschen aus allen Schichten, viele sogenannte Transferleistungsempfänger. Aber es kommen auch Lehrer, Friseure, Polizisten, Universitätsprofessoren. Viele sind auch Selbstständige, die während der Pandemie ihre Arbeit verloren haben, beispielsweise Taxifahrer, Gastronomen oder Betreiber eines Spätverkaufs. Es ist leicht gesagt, zu behaupten: Mir kann das nicht passieren. Aber es ist sehr unterschiedlich, wo Schulden herkommen.

Wo kommen die Schulden denn her?

Weggebrochene Einnahmen wegen einer Firmenpleite, einer Erkrankung, dem Tod des Partners, einer Trennung zum Beispiel. Auf der Ausgabenseite eine drastische Mieterhöhung oder eine Scheidung samt Unterhaltszahlungen. Oft bricht das ganze Konstrukt zusammen, wenn plötzlich eine Einnahmequelle wegfällt. Es gibt viel Unwissenheit, welche Schritte man in so einer Situation unternehmen sollte.

Was tun die Menschen dann?

Viele brauchen zuerst ihre kompletten Ersparnisse auf, gehen ans Limit ihres Dispo-Kredits, kündigen sogar ihre private Altersvorsorge, um Sozialleistungen bekommen zu können. Das Problem ist ja: Ich muss alles zu Geld machen, bevor ich einen Anspruch auf Sozialleistungen habe. Dadurch besteht übrigens langfristig die Gefahr zusätzlicher Altersarmut. Das werden wir noch über Jahre merken. Viele leihen sich auch erstmal Geld bei Familie oder Freunden, was natürlich auch nachvollziehbar ist, aber oft für Streit sorgt.

Was man sicher sagen kann: Es müssten eigentlich schon jetzt Leute zu uns kommen, die noch gar nichts von uns wissen - obwohl sie jetzt schon in Schieflage sind. Unsere Beratung ist kostenlos. Aber oft kommen Schuldner später, als es sein müsste. Viele wissen nicht, dass man auch in die Beratung kommen kann, wenn man nicht Transferleistungsempfänger ist und noch nicht überschuldet ist.

Wann gilt man denn als überschuldet?

Überschuldet ist man, wenn man jeden Monat mehr ausgibt, als man einnimmt. Ein Beispiel: Man hat im Monat Einnahmen von 1.000 Euro und kann damit jedes Mal seinen Dispo ausgleichen. Im Folgemonat lebt man aber von 1.200 Euro und so weiter. Man lebt also über seine Verhältnisse und rutscht immer tiefer rein. Verschuldet wäre man, wenn man seine 1.000 Euro braucht, um seinen Dispo auszugleichen, dann am Monatsende wieder bei minus 1.000 Euro Dispo rauskomme. Dann geht das Ganze wieder von vorne los.

Zur Person

Marco Rauter

Wie helfen Sie den Menschen, die zu Ihnen kommen?

Zunächst mal: Wir sagen den Leuten nicht, was sie zu tun haben, sondern bieten ihnen Lösungswege auf. Entscheiden müssen sie selber, wir bieten an, den Weg gemeinsam mit ihnen zu gehen. Das muss freiwillig passieren, sonst wird es nicht funktionieren. Auch wenn es schwer ist. Das positive Beenden von Fällen geht nicht im gleichen Maße voran, wie die Neuaufnahmen. Der Schrank wird also voller und das belastet die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Deshalb versuchen wir alles, um die Klienten zeitnah dahin zu bekommen, dass sie selbstständig werden.

Wie machen Sie das?

Wir sagen: Das Tempo bestimmen Sie, umso schneller wir Sie selbstständig kriegen, desto seltener müssen Sie wiederkommen. Erstmal überprüfen wir, ob wir mit den Gläubigern, vertreten oft durch ein Inkassounternehmen, einen Vergleich hinbekommen. Nach dem Motto: besser als gar nichts. Meist bleibt aber nur der Weg ins Insolvenzverfahren, um seine Schulden wegzubekommen.

Wenn sie in die Insolvenz gehen, haben Schuldner hier bei uns in Neukölln im Durchschnitt etwa 15 Gläubiger und 45.000 Euro Schulden. Mit solchen Zahlen bekommen Sie keinen Vergleich mehr hin. Unsere Erfahrung mit Schuldnern, die nicht in Insolvenz gehen, ist: Alles, was länger als zwei oder drei Jahre dauert, wird nicht durchgestanden.

Was passiert als Erstes?

Ein Schwerpunkt sind Kontopfändungen, die beliebteste Maßnahme der Gläubiger. Das bedeutet, dass Leute nicht mehr an ihr Bargeld kommen. Dann schicken die Banken diese Kontoinhaber direkt zu uns. Bei einer solchen Bedrohung bieten wir eine Beratung spätestens am nächsten Werktag an. Als Erstes wandelt man dann ein Girokonto in ein Pfändungskonto um, ein sogenanntes P-Konto. Das Geld darauf darf man bis zu einem bestimmten Sockelbetrag weiter nutzen. Das ist wichtig für Miete, Strom, Gas und Nahrung, damit bleibt die Existenz gesichert.

Wir bieten an, mit einer Vollmacht direkt an die Gläubiger heranzutreten. Dabei beobachten wir, dass unser offizieller Briefkopf oft eine andere Reaktion hervorruft. Die geforderte Summe ist dann plötzlich niedriger, die andere Partei merkt, dass sie einen nicht veräppeln kann. Manchmal schreiben Inkassounternehmen das Wort "Haftbefehl" fett in Forderungsschreiben, um Schuldner einzuschüchtern. Das sind aber meist nur Drohgebärden. Glücklicherweise haben wir in Deutschland keinen Schuldturm mehr, dass man wegen seiner Schulden im Gefängnis landet, ist so gut wie ausgeschlossen. Beliebt sind auch gelbe Umschläge, um offizieller zu wirken.

Was schreiben Sie in solche Briefe an Gläubiger?

Es ist uns sehr wichtig, wirklich ernsthaft zu verhandeln. Wir sind ehrlich und sagen, was machbar ist und was nicht. Ein Beispiel: Wir haben einen runden Tisch gemeinsam mit der Energiewirtschaft etabliert, um zu verhindern, dass Schuldnern sofort der Strom abgestellt wird. Wir haben erreicht, dass die Versorger eine Liste der Telefonnummern unserer Beratungsstellen akzeptieren. Wenn der Anbieter von einer dieser Nummern angerufen wird, wird das Abschalten des Stroms erst einmal um vier Wochen aufgeschoben.

Aber das funktioniert auf Vertrauensbasis: Wenn ständig von einer bestimmten Nummer angerufen wird, akzeptiert der Versorger das irgendwann auch nicht mehr. Sowas ist wichtig, um den Gläubigern zu zeigen: Wir wollen Euch nicht austricksen, sondern gemeinsam eine Lösung finden. Wir sind nicht deren Gegner.

Sie haben das Thema Strompreise schon angesprochen. Welche Rolle spielen die stark gestiegenen Energiekosten heute in Ihrer Beratung?

Noch schlägt das Problem nicht durch, allerdings stehen die Betriebskostenabrechnungen für 2021 noch aus. Und man muss ganz klar sagen: Wenn die kommt, kann einem die ganze Finanzplanung zusammenbrechen. Wenn Sie am Ende des Monats noch höchstens 100 Euro über und kaum Ersparnisse haben, und dann kommt plötzlich eine Forderung von 1.000 Euro – dann funktioniert das nicht mehr. Und dieses Problem wird mit den steigenden Energiekosten noch viele treffen.

Denn wir sehen es ja: Irgendwann steigt das Einkommen nicht mehr so stark wie die Preise es tun. Wir bekommen von Banken Informationen, dass Dispokredite auffällig öfter ausgereizt werden, als noch vor ein paar Jahren. In 2020 und 2021 haben die Gläubiger wegen der Pandemie etwas die Füße stillgehalten. Das scheint sich jetzt wieder zu ändern.

Was könnte man aus Ihrer Sicht tun?

Ich persönlich glaube, das Problem lässt sich nur politisch lösen, der Staat muss einen Weg finden, hier steuerlich zu entlasten. Ob das dann eine Art "Strompfennig" ist oder an anderer Stelle subventioniert wird, muss sich zeigen. Aber ohne staatliche Unterstützung wird das nicht gehen.

Drei Jahre Privatinsolvenz, um sich zu entschulden, sind überschaubar. Aber was nützt uns das, wenn Leute aufgrund prekärer Einkommensverhältnisse wieder anfangen, neue Schulden zu produzieren? Das nennen wir "Drehtüreffekt" – diese Menschen kommen aus der Armut im Grunde nicht mehr raus. Auch bei eingeschränktem Konsumverhalten klappt es nicht, durchzukommen ohne neue Verbindlichkeiten aufzubauen.

Es sollte in der Debatte darüber nicht nur um Transferleistungsempfänger gehen, sondern vor allem auch um Menschen, die prekäre Jobs haben. Wir haben hier Klientinnen, die jeden Tag zwei Jobs nachgehen und zwar harten Jobs. Sie verdienen damit gerade zuviel, um Unterstützung zu bekommen. Es lohnt sich für die kaum, arbeiten zu gehen.

Sie sind seit 20 Jahren Schuldner- und Insolvenzberater in Berlin. Was ist heute in ihrer Beratungsstelle anders als früher?

Die Verweildauer hat sich verlängert. Als ich vor etwa 15 Jahren in Lichtenberg gearbeitet habe, war das eine andere Situation. Dort kamen Leute aufgrund einer gescheiterten Selbstständigkeit, einer Scheidung oder wegen gescheiterten Investitionen in Schrottimmobilien. Die waren meistens relativ strukturiert, hatten das Ziel, mit dem Insolvenzverfahren wieder da rauszukommen.

Heute fällt es oft schwerer, die Klienten wieder dazu zu motivieren und zu aktivieren, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Ich beobachte aber auch eine Verstetigung von Schulden - sie ziehen sich inzwischen oft in die nächste Generation. Für die heranwachsenden Kinder von Schuldnern hat sich das verselbständigt. Die kennen es von zuhause gar nicht anders. Für die sind Schulden Normalität.

Bei den Betroffenen selbst kehrt mit der Zeit Enttäuschung ein, sie sehen sich auf der Schattenseite des Lebens und gehen auch nicht mehr davon aus, es dort herauszuschaffen. Ihnen fehlt der Antrieb, es stellt sich eine Art Gleichgültigkeit ein. Sich ein Ziel zu setzen, seinen Tag zu organisieren, fällt vielen schwer. Früher hatten wir Leute ein bis zwei Monate in der Beratung. Heute sind es ein bis zwei Jahre.

Woran liegt das?

Ein großes Problem für Schuldner ist zum Beispiel die zunehmende Abkehr vom Bargeld. Als es noch keine Lohnkonten gab, war ihr Einkommen für Menschen, die nicht so gut mit Geld umgehen können, greifbarer. Heute fällt es vielen schwerer, den Überblick über ihre Ausgaben zu behalten. Nehmen Sie die zunehmend angebotenen Kleinstkredite: "Kauf heute, zahl morgen." Sich Turnschuhe für 200 Euro anzuschaffen, war früher schlicht nicht möglich, wenn man das Geld nicht hatte. Heute bedeutet das nur wenige Klicks und das verführt die Leute. Selbst junge Menschen kommen heute schnell zu Schuldsummen von 5.000 bis 8.000 Euro, sie haben mehrere Handyverträge oder Handys auf Raten. Darin sehe ich eine sehr große Gefahr.

Bei notwendigen Anschaffungen, zum Beispiel einer Waschmaschine, ist ein solcher Kleinstkredit ok. Aber da sagen wir immer: Eins nach dem anderen. Am Monatsende gehen plötzlich zehn Euro für diese Sache drauf, wieder zehn für die andere – und wenn das alles nicht mehr hinhaut, haben Sie sofort einen Schufa-Eintrag. Solche Altlasten hat doch fast jeder, ich übrigens auch. Ich habe mir zum Beispiel schon so oft vorgenommen, meinen alten Festnetzvertrag zu kündigen, aber dann vergesse ich es doch wieder und ärgere mich dann.

Im Wort Schulden steckt das Wort Schuld. Welche Rolle spielt Scham bei den Klienten, die zu Ihnen kommen?

Einer der wenigen positiven Aspekte dieser Pandemie ist aus meiner Sicht, dass dieses Stigma, das mit Schulden verbunden ist, kleiner geworden ist. In der Pandemie ist sichtbar geworden, dass es jeden treffen kann und zwar auch völlig unverschuldet. Aber natürlich ist das Schamgefühl immer noch groß. Wir haben hier gestandene Männer, die während des Beratungsgesprächs plötzlich anfangen zu weinen. Sie können ihre Familie nicht mehr ernähren und das zehrt sehr an ihrem Selbstbild. Manche Männer schicken auch ihre Frau zu uns, weil sie sich schämen. So etwas zu erleben, nimmt einen mit.

Was mir wichtig ist: In eine solche Lage zu geraten, hat nichts mit persönlichem Versagen zu tun. Wichtig ist nur, sich professionelle Hilfe zu holen. Wenn man bei einer nahestehenden Person immer wieder ungeöffnete Briefumschläge sieht oder andere Anzeichen, dass die Person die Kontrolle verliert, dann sollte man seine Hilfe anbieten. Es hilft Betroffenen unheimlich, wenn sie merken, dass sie ihren Problemen nicht ausgeliefert und nicht alleine sind und dass sie sich mitteilen können.

Wir bieten einen Weg an, erhobenen Hauptes aus der Sache rausgehen zu können. Eine Privatinsolvenz selbst ist dann für Betroffene übrigens längst nicht mehr so belastend, wie man als Außenstehender vielleicht denkt. Sie haben dann wieder eine Perspektive. Wenn wir per Vollmacht verhandeln, dann bekommen die Schuldner in der Regel kaum noch Post. Das ist für die meisten ein ungeheurer Gewinn an Lebensqualität. Sie müssen plötzlich keine Angst mehr haben, wenn sie zum Briefkasten gehen. Oder davor, dass der Nachbar sieht, dass der Briefkasten vor ungeöffneten Briefen überquillt.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Sebastian Schneider, rbb|24

Sendung: Abendschau, 03.03.2022, 19:30 Uhr

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