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Video: rbb24 Abendschau | 07.12.2022 | Quelle: dpa/Marijan Murat

Interview | Kinderarzt Steffen Lüder

"Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das erste Kind wegen dieser Überlastung stirbt"

Kein einziges freies Krankenhausbett mehr auf einer Kinderstation, nirgendwo in Berlin: Von dieser Situation berichtet Kinderarzt Steffen Lüder im Gespräch mit rbb|24. Er warnt vor potenziell tödlichen Folgen der aktuellen Extremsituation.

rbb|24: Herr Dr. Lüder, die angespannte Lage auf den Kinderstationen der Krankenhäuser ist gerade deutschlandweit in den Schlagzeilen. Sie sind niedergelassener Kinderarzt in Neu-Hohenschönhausen und haben in dieser Woche ehrenamtlich in der Kinder-Rettungsstelle einer Berliner Klinik ausgeholfen. Was haben Sie dort erlebt?

Steffen Lüder: Am Montag zwischen 10 und 17 Uhr, als ich in der Rettungsstelle unterstützt habe, gab es einen schier unendlichen Ansturm von Eltern und kranken Kindern. Die zwei Ärzte und vier medizinischen Fachangestellten sind mit der Arbeit nicht hinterhergekommen. Um 11 Uhr gab es in der ganzen Stadt kein freies Kinderklinikbett mehr - nirgendwo in Berlin. Die Kollegen haben sich die Ohren heiß telefoniert, um Kinder nach Brandenburg zu verlegen: nach Frankfurt (Oder), nach Rüdersdorf, nach Eberswalde.

Müssen Sie als Arzt in so einer Situation Triage unter den Kindern betreiben? Also entscheiden: Welches Kind ist so krank, dass es das Krankenhausbett bekommt?

Ja, das müssen wir. Wir hatten innerhalb meiner sieben Stunden Dienst in der Rettungsstelle acht Kinder, die wir ins Krankenhaus einweisen wollten. Aber es mussten welche dieser Kinder wieder nach Hause geschickt werden. Denn es wäre zwar gut gewesen, sie stationär aufzunehmen - aber es gab noch kränkere Kinder, die dringender ins Krankenhaus mussten.

Mit was für Problemen kommen die Kinder?

Ich habe am Montag 47 Kinder untersucht während meines Einsatzes in der Rettungsstelle - die hätten die Kolleginnen noch zusätzlich auf dem Zettel gehabt, wäre ich nicht dagewesen. Die ganz Kleinen kommen oft mit RS-Viren, Atemproblemen, Bronchitis, Bronchiolitis. Die Größeren über zwei Jahre kommen mit typischen Grippe-Symptomen: Die sind platt, haben hohes Fieber, Husten, Schnupfen.

Zur Person

Merkt man den Eltern an, dass die Notlage in den Kinderkliniken ihnen zusätzlich Sorgen macht?

Selbstverständlich, das belastet die Familien, uns Ärzte, das Pflegepersonal - alle Beteiligten. Manche Eltern standen mit ihren Kindern vorher in der Schlange bei den Kinderarztpraxen und wurden da weggeschickt zu den Kinderkliniken. Wenn vor der Praxistür noch 30 kranke Kinder stehen und man weiß, man hat nur noch eine Stunde offen - dann ist das nicht zu schaffen. Dann kommen die Eltern entnervt bei der Kinder-Rettungsstelle an und kriegen da gesagt: Rechnen Sie mit Wartezeiten von sechs bis zehn Stunden.

Sechs bis zehn Stunden - bis überhaupt ein Arzt oder eine Ärztin sich das kranke Kind gründlicher anschaut?

Ja, das kann derzeit durchaus passieren. Wer in der Notaufnahme ankommt und erstmal mit der Kategorie "geringer Behandlungsbedarf" eingestuft wird, muss damit rechnen. Denn wenn andere Kinder mit einem dringenderen Behandlungsbedarf sich melden - also solche mit schlimmeren Krankheitssymptomen - dann werden die Kinder mit dem geringeren Bedarf immer weiter nach hinten geschoben. Das schafft natürlich Unmut, aber wir Ärzte können nur ein Kind nach dem anderen behandeln, anders geht es nicht.

Kinderkliniken überlastet

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Wie groß ist die Frustration, die dadurch auf allen Seiten entsteht?

Alle sind extrem frustriert. Die beiden Klinikkollegen haben am Ende ihres Dienstes eine Überlastungsanzeige geschrieben, um sich juristisch abzusichern, falls im Laufe des Tages Fehler passiert sind. Die beiden taten mir leid - die können arbeiten, wie sie wollen, aber sie kommen nicht hinterher. Ich glaube, es ist nur eine Frage der Zeit, bis das erste Kind in einer Berliner Kinderklinik aufgrund dieser Überlastungssituation stirbt. 

Sie befürchten tatsächlich tödliche Folgen dieser Notlage?

Ja, definitiv. Man hat einfach keine Zeit, sich um alle angemessen zu kümmern. Da gibt es Säuglinge, erst 18 Wochen alt, die brauchen Beatmung - und man findet kein Bett, wo sie diese Atemunterstützung bekommen können. Wenn so ein Baby dann nach Frankfurt (Oder) verlegt werden muss, macht der kleine Körper während des Transports natürlich nicht unbedingt eine Verbesserung durch. Und meist sagt das Transportteam: Wir können erst in anderthalb oder zwei Stunden da sein. Wir haben also Versorgungsprobleme auf allen Ebenen.

Wo sehen Sie die Ursachen dafür, dass sich die Lage in den Kinderarztpraxen und Kinderkliniken so dramatisch zuspitzen konnte wie jetzt?

Da spielen viele Faktoren zusammen. Fangen wir mal beim Medizin-Nachwuchs an: Zurzeit beginnen so viele Menschen in ganz Deutschland ein Medizin-Studium wie 1989 in der alten Bundesrepublik. Unser Land ist mit der Wiedervereinigung 20 Prozent größer geworden - wir haben aber nicht 20 Prozent mehr Medizin-Studierende. Da laufen wir schon seit vielen Jahren sehenden Auges in eine Unterversorgung.

Nächster Punkt: In den Kinderkliniken werden immer weiter Betten abgebaut. Als ich meinen Facharzt in Pädiatrie, also Kinderheilkunde, gemacht habe, hatte die Klinik, in der ich gearbeitet habe, 110 Betten. Heute hat sie nur noch 60 Betten und damit auch weniger Ausbildungsplätze für Assistenzärzte, die sich auf Kinder spezialisieren wollen.

Welche Rolle spielen die Personalprobleme in der Pflege?

Eine große! Unser vorheriger Gesundheitsminister, Jens Spahn von der CDU, hat die Pflegeausbildung umgestellt - und den Beruf der Kinderkrankenpflege mit Altenpflege und Krankenpflege zusammengerührt. Wer kommt auf so eine Idee? Dass die Schwester, die sich um 800 Gramm leichte Frühgeborene kümmert, einfach so auf die Intensivstation zu den erwachsenen Herzpatienten wechselt und dann demnächst - husch - ins Altersheim? 

Das kann nicht funktionieren. Wir brauchen speziell ausgebildetes Personal in der Kinderkrankenpflege. Es käme doch auch keiner auf die Idee, dass eine Hort-Erzieherin den Abitur-Jahrgang auf die Prüfungen vorbereiten soll.

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Wie problematisch ist in dieser Situation die aktuelle Infektionslage? Nach den zwei vergangenen Corona-Wintern mit Masken und Schutzmaßnahmen scheinen sich jetzt Ansteckungen mit Atemwegserkrankungen zu häufen.

Absolut, wir erleben gerade eine saisonale Explosion. Jedes Kind muss Infekte durchmachen. Wenn ein Baby geboren wird, ist es immunologisch ein unbeschriebenes Buch. Mit jedem kleinen Husten oder Schnupfen wird eine Immunologie-Seite in diesem Buch vollgeschrieben - das Abwehrsystem lernt. Wenn dann 30, 40 Seiten gefüllt sind, spricht man von "immunologischer Kompetenz", dann hat das Kind ein halbwegs stabiles Abwehrsystem. 

Weil Kinder während Corona viel zu Hause waren, haben die meisten Ansteckungen nicht stattgefunden, die Immunologie-Bücher der Kinder sind leer geblieben. Wir haben also zwei, drei Jahrgänge, die die üblichen saisonalen Infekte nicht mitgemacht haben. Und genau diese Kinder trifft die aktuelle Infektwelle jetzt mit voller Kraft. Das ist, als hätten wir fünf Jahre lang keinen Schwimmunterricht an den Schulen gemacht - und würden uns jetzt wundern, dass mehr Kinder ertrinken.

Lassen Sie uns zum Schluss darüber reden, wie sich die Lage verbessern kann: Was muss dafür Ihrer Ansicht nach passieren?

Wir brauchen einen kompletten Systemwechsel in der Medizin. Ich bin seit 22 Jahren in der Pädiatrie und kann mir nicht vorstellen, dass irgendein Reförmchen etwas gerade rücken kann. Wir reden hier über Versäumnisse der letzten 25 Jahre - und ich bin ehrlich: Ich habe keine Hoffnung. Wo sollen die zusätzlichen Ärzte herkommen? Wer holt die Schwestern zurück, die diesen Beruf verlassen haben? Die kommen nicht von allein zurück, wenn die Arbeitsbedingungen weiter so schlecht sind. Gesundheit und Kapitalismus - das sind zwei Dinge, die nicht zusammengehen. Solange unser medizinisches System marktwirtschaftlich organisiert ist, solange wird es keinen Ausweg geben. 

Von der Politik bin ich massiv enttäuscht: Wir als Berliner Kinderärzte haben schon im September einen Warnbrief an unsere Gesundheitssenatorin, Frau Gote, geschickt. Darin haben wir die katastrophale Lage geschildert, um einen Termin mit ihr gebeten - aber es gab keine Antwort, noch nicht mal eine Eingangsbestätigung nach unserem Schreiben. Wir haben das Gefühl: Die Gesundheitssenatorin will gar nicht mit uns reden. Wie kann es sein, dass die Politik so die Augen verschließt und den Kopf in den Sand steckt?

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Das Interview für rbb|24 führte Anne Kohlick.

Sendung: rbb24 Abendschau, 07.12.2022, 19:30 Uhr

Beitrag von Anne Kohlick

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