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Video: rbb|24 explainer | 14.12.2022 | Jana Herrmann & Hasan Gökkaya | Quelle: rbb

Metallspitzen, Bügel oder Kanten

Wie in Berlin Architektur gegen Obdachlose eingesetzt wird

Wer ein Dach über dem Kopf hat, bemerkt nichts. Obdachlose hingegen spüren täglich, wie speziell designte Stadtmöbel sie aus dem öffentlichen Raum verdrängen sollen. Ob schmale Sitzflächen oder Poller mit Metallspitzen - "defensive Architektur" gehört auch in Berlin längst zum Stadtbild. Von Hasan Gökkaya

Andreas Abel steht an einem kalten Tag im Dezember vor dem Berliner Ostbahnhof und klopft auf's Metall, das in Form einer Pyramide auf einen viereckigen Betonpoller montiert wurde. "Die Deutsche Bahn ließ diese Metallspitzen hier installieren, seitdem können Obdachlose sich hier nicht mehr hinsetzen oder hinlegen", sagt er. Abel, schlank, groß, schwarze Kleidung, ist Streetworker beim Berliner Verein Gangway, der mit Obdachlosen zusammenarbeitet. Er ist hier, um auf etwas hinzuweisen, wofür es in der Sozialwissenschaft und in der Stadtplanung längst einen eigenen Begriff: defensive Architektur.

Was diese defensive Architektur bewirkt, ist laut Abel vor dem Berliner Ostbahnhof gut zu erkennen, weil Metallspitzen auf Betonpollern das Sitzen verhindern. Aber auch auf dem Alexanderplatz, wo Bügel auf Sitzbänken es unmöglich machen, sich hinzulegen. Und neben dem Berliner Fernsehturm, wo Querverstrebungen auf einem Luftschacht eine klare Botschaft signaliseren: weiter gehen, hinsetzen oder hinlegen ist hier nicht erwünscht.

Sozialforscher und Vereine werfen Behörden und Unternehmen seit Jahren vor, mit spezieller Architektur vor allem Obdachlose und wohnungslose Menschen aus dem öffentlichen Raum verdrängen zu wollen. Denn bei defensiver Architektur handelt es sich um ein spezielles Design von Stadtmöbeln und Objekten, die verhindern, dass sich Menschen zu lange an bestimmten Plätzen wie Haltestellen und Parkbänken aufhalten können.

Andreas Abel: Diese Betonpoller und Metallspitzen sollen offenbar Obdachlose abschrecken | Quelle: rbb

Warum sind hier Metallspitzen?

An diesem Tag sind hier keine Obdachlosen zu sehen. Dabei wurde der Platz früher gerne von ihnen aufgesucht; man setzte sich, man trank Bier, man schlief ein. Das änderte sich aber, als auf eine leicht erhöhte Fläche, die die Parkebene von der Straße trennt, Betonpoller aufgestellt wurden. Obdachlose Menschen kamen - wohl anders als erhofft - weiterhin zu dem Platz, denn sie konnten zwar nicht mehr liegen, aber noch auf den Pollern sitzen. "Das gefiel nicht allen, deshalb wurden ein paar Jahre später auch noch die Metallspitzen hinzugebaut", sagt Abel. Er wirft der Deutschen Bahn deshalb obdachlosenfeindliche Maßnahmen vor.

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Aber nicht nur die Bahn, sondern auch die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) und die Bezirke der Stadt wollten Obdachlose im öffentlichen Raum nicht sehen, sagt er. "Also machen sie es ihnen so ungemütlich wie möglich - mal dezent, mal offensichtlich so wie hier mit den Metallspitzen."

Der Streetworker will zeigen, wie unterschiedlich defensive Architektur aussehen kann. Es geht zum Alexanderplatz, wo Abel direkt vor einem U-Bahn-Eingang auf einer runden Sitzfläche Platz nimmt - ein paar Sekunden später steht er aber schnell wieder auf. "Das Material ist aus Stein, die Oberfläche ist also sehr, sehr hart und sehr kalt. Obdachlose setzen oder legen sich deshalb hier so gut wie gar nicht hin", sagt er. Tatsächlich ist die Sitzfläche auch recht schmal: Wer sich hier hinlegt und dreht, fällt runter.

Ist das aber böse Absicht? Könnte es nicht sein, dass das harte Material sich besser eignet, weil Stein robuster als Holz ist und der Alex zu den belebtesten Orten Berlins gehört?

Verein Querstadtein: defensive Architektur nimmt zu

Abel glaubt nicht, dass Material und Design der Bänke Zufall sind. Und er hat noch ein anderes Beispiel auf dem Alexanderplatz. In der Nähe des Fernsehturms gibt es einen großen Luftschacht. Abel hält die Hände darüber, warme Luft schießt hoch. "Besonders im Winter kamen Obdachlose wegen dieser warmen Luft hierher. Die Leute haben ihre Schlafsäcke auf dem Gitter ausgebreitet und geschlafen." Irgendwann seien die langen Querverstrebungen montiert worden, die nun auf dem Gitter zu sehen sind. Jetzt könne sich hier niemand mehr hinlegen, sagt Abel: "Welchen Sinn haben diese Querverstrebungen außer den, es Obdachlosen schwerer zu machen?"

Auch der Verein Querstadtein, der Stadtführungen mit ehemaligen Obdachlosen anbietet, kritisiert solche Maßnahmen. Das Konzept "defensive Architektur" ist eins der Themen bei der Tour von Dieter Bichler vor. In den letzten 20 Jahren seien immer mehr Objekte in Berlin so konstruiert worden, dass sie von Obdachlosen kaum genutzt werden könnten, sagt Bichler rbb|24. Beispiele seien gewellte Sitzbänke in Parks oder Sitzflächen mit Armlehnen in der Mitte.

Letztere kommen auch in Berliner U-Bahnhöfen und Bushaltestellen vor. Die Bügel seien installiert worden, damit ältere Menschen sich besser aufstützen könnten, sagt ein BVG-Sprecher auf Anfrage. Warum die Armlehnen zumeist nur mittig und nicht aber auch an den Rändern verbaut werden, wo man sie zum Aufstützen ja auch bräuchte, konnte der Sprecher nicht beantworten.

In der Mitte montiert verhindern die Bügel auf jeden Fall, dass man sich auf die Sitzfläche legen kann, da die Beine nicht gestreckt werden können. Streetworker Abel wirft der BVG deshalb auch Kalkül vor, denn angesichts der mittigen Montage erscheint ihm das Design nicht logisch. "Ich schließe daraus, dass die Bügel in erster Linie dazu dienen, dass sich Obdachlose nicht mehr hinlegen können." Die BVG weist den Vorwurf allerdings zurück, obdachlosenfeindliche Architektur einzusetzen.

Ein klassisches Beispiel: Sitzbänke mit Bügeln in der Mitte - so kann sich niemand hier schlafen legen | Quelle: rbb

Bezirke und Unternehmen weisen Vorwürfe zurück

Die Bezirke Lichtenberg und Mitte geben an, von defensiver Architektur keinen Gebrauch zu machen. Auch die Deutsche Bahn weist den Vorwurf zurück, obdachlosenfeindliche Architektur einzusetzen.

Bei der Frage, wer für was verantwortlich ist, wird es unübersichtlich. Die Deutsche Bahn gibt auf Nachfrage an, für die Betonpoller am Ostbahnhof nicht zuständig zu sein, da der Bereich zum Bahnhofsvorplatz gehöre. Die Aussage widerspricht Abels Erzählung, wonach er in direkten Gesprächen mit der Bahn die Poller bereits kritisiert habe. Zudem fühlte sich die Bahn zumindest 2019 noch angesprochen; damals teilte sie in einem Statement mit, die Poller dienten dazu, den Parkbereich von der Straße zu trennen.

Der Bezirk Mitte gibt an, für die Planung von Luftschächten wie dem mit den Querverstrebungen neben dem Berliner Fernsehturm, nicht zuständig zu sein. Die Deutsche Funkturm GmbH, eine Tochtergesellschaft der Deutschen Telekom AG und Inhaberin des Berliner Fernsehturms, antwortete auf eine Anfrage von rbb|24 nicht.

Offenbar gibt niemand gern zu, Obdachlose mit derlei Maßnahmen gezielt zu vertreiben. Eine Einbildung sei defensive Architektur jedenfalls nicht, sagt die Berliner Armutsforscherin Susanne Gerull: "Sie kommt aus dem anglo-amerikanischen Raum und hat dort bereits Ende der 1960er angefangen - unter dem Label der Kriminalprävention." Mit der Zeit sei das Konzept aus den USA immer weiter in die europäischen Großstädte geschwappt. Gerull ist Professorin für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit mit den Schwerpunkten Armut an der Alice Salomon Hochschule Berlin.

"Goldene Keule" für den Hansaplatz

Sie war 2021 auch Mitglied der Jury, die die "Goldene Keule" für den "obdachlosenfeindlichsten Ort" Berlins verlieh. Der Negativpreis von Gangway ging an den Hansaplatz, auch weil der Bezirk dort sehr rigide gegen Obdachlose vorgehe. Den zweiten Platz belegte der Berliner Ostbahnhof mit seinen spitzenbewehrten Pollern.

Gerull sagt, dass defensive Architektur sich vor allem gegen Obdachlose richte - und am Ende nicht zielführend sei. "Obdachlose können sich ja nicht in Luft auflösen. Wenn sie aus dem einen Bahnhof vertrieben werden, gehen sie in einen anderen. Wird im öffentlichen Raum das Sitzen und Schlafen durch Mäuerchen verwehrt, finden sie eben andere Plätze."

Einen großen Aufschrei lösten die Maßnahmen in der Bevölkerung bisher aber nicht aus. Wohl auch, weil etwa jeder dritte Mensch in Deutschland sich laut Gerull wünscht, Obdachlosen nicht auf Fußgängerzonen zu begegnen. Das gehe aus einer repräsentativen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung [fes.de] hervor (2021).

Durch Querverstrebungen auf dem Luftschacht können sich Menschen hier kaum hinlegen | Quelle: rbb

Von "feindlicher" und "defensiver" Architektur

Frank Eckardt, Leiter des Bereichs Sozialwissenschaftliche Stadtforschung an der Bauhaus-Universität Weimar, weist noch auf etwas anderes hin. "Wir haben es in Deutschland meistens mit 'defensiver' und nicht 'feindlicher' Architektur zu tun, dadurch ist sie von der Bevölkerung nur sehr dezent wahrnehmbar, vor allem wenn man selbst nicht betroffen ist", sagt er. Die "feindliche" Variante würde eher im Ausland zum Einsatz kommen, etwa in London, wo es auch Stacheldraht und Eisenspitzen gebe, "die einen verletzen könnten."

Tatsächlich wird im Englischen auch der Begriff "hostile architecture" verwendet, übersetzt: "feindliche Architektur". Die Orte, die Abel an diesem Tag abläuft, zeigen kein Design auf, das gefährlich für Menschen sein könnten. Sie erfüllen aber ihren Zweck, wenn es darum gehen sollte, das Liegen und Schlafen zu verhindern.

Engagement für Obdachlose

Frank Zander erhält Bundesverdienstkreuz erster Klasse

Seit 27 Jahren engagiert sich Frank Zander für Obdachlose und verteilt Weihnachtsessen an sie. Am Montag wurde er dafür von Bundespräsident Steinmeier mit dem Bundesverdienstkreuz erster Klasse ausgezeichnet.

Metallspitzen sprechen eine deutliche Sprache

Zurück zum Ostbahnhof, wo sich defensive Architektur nicht dezent, sondern ziemlich offen zu zeigen scheint. Die Metallspitzen auf den Betonpollern dürften kaum einen anderen Sinn haben als den, dass sich Menschen dort nicht hinsetzen sollen. Sitzflächen wie die von der BVG, die durch Armlehnen in der Mitte getrennt sind, lassen zumindest Raum für Interpreationen und auch Gegenargumente zu, wie zum Beispiel, dass sich ältere Menschen zumindest teilweise aufstützen können.

Zudem wird das von der Armutsforscherin Gerull bezeichnete Drittel der Menschen, die Obdachlose im öffentlichen Raum ungerne sehen, vermutlich die Gegenfrage stellen: Warum sollten Obdachlose auf Sitzflächen in U-Bahn- und Bus-Haltestellen oder auf Sitzbänken in Parks und Luftschächte im öffentlichen Raum schlafen dürfen?

"Also erst einmal ist das hier ein Bahnhof", sagt Abel, "hier gibt es nicht nur Obdachlose, sondern auch Mütter und Kinder, die sich generell über viel mehr Sitzgelegenheiten freuen würden."

Dann holt er noch einmal aus: "Natürlich ist dieser Ort nicht zum Schlafen gedacht. Aber wir haben in Berlin obdachlose Menschen, und die müssen nun einmal draußen schlafen, weil sie dafür keinen Wohnraum haben. Ich denke nicht, dass wir es in den nächsten Jahren schaffen werden, keine Obdachlosen mehr in der Stadt zu haben. Diese Menschen müssen am Ende irgendwo sein, irgendwo schlafen. Das müssen wir als Gesellschaft hinnehmen und ihnen diesen Raum zur Verfügung stellen."

Ganz aus dem Blickfeld verschwänden Obdachlose auch durch defensive Architektur nicht, sagt Abel. Oft würden sie trotzdem am selben Ort bleiben, ihre Situation werde eben nur noch ungemütlicher. Außerdem befürchte er psychologische Konsequenzen für die Menschen. "Für sie ist ja klar, warum diese Poller mit Metallspitzen hier stehen. Das ist eine Form von Kommunikation. Man sendet ein Signal, die Botschaft ist: 'Wir wollen euch nicht, verschwindet, ihr seid a-sozial, ihr seid Dreck'".

Wer solche Signale lange genug abkriege, könne sich verändern. "Wenn ihnen immer nur gesagt wird, 'geht weg', dann macht das etwas mit diesen Menschen. Sie beginnen dann auch nicht mehr so freundlich mit ihrer Umwelt zu kommunizieren. Wobei ich sagen muss, dass die Obdachlosen, die ich getroffen habe, sehr freundliche Menschen sind. Ich glaube, würde man mit mir immer so umgehen, ich würde deutlich aggressiver reagieren."

Sendung: rbb24|explainer, 15.12.2022, 17 Uhr

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Beitrag von Hasan Gökkaya

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