Interview | Leben mit dem Wolf
Das Pony von Ursula von der Leyen ist von einem Wolf gerissen worden. "Ungewöhnlich" sei das, sagt die Wolfsexpertin Marie Neuwald vom Nabu. Sie erklärt auch, warum es Weidetieren nichts helfen würde, wenn mehr Wölfe gejagt würden.
rbb|24: Guten Tag, Frau Neuwald. Sie sind Expertin für Wölfe. Wie vielen der Tiere in freier Wildbahn haben Sie schon Aug in Aug gegenübergestanden?
Marie Neuwald: Gesichert tatsächlich nur einem. Es gab noch ein paar andere Situationen, in denen ich in Brandenburg unterwegs war und gezielt gesucht habe. Aber da bin ich mir nicht sicher. Doch vor einem Monat war ich in der Lausitz und konnte da Wölfe beobachten.
2021 sind die Risse in Deutschland trotz Wachstums des Wolfsbestandes um 15 Prozent zurückgegangen. Die Riss-Statistik zeigt: Schafe (914 von insgesamt 1.173 Rissen in Brandenburg) werden am liebsten genommen. Wie ungewöhnlich ist es, dass in diesem September das Pony von Frau von der Leyen in Niedersachsen erwiesenermaßen von einem Wolfsrüden gerissen wurde [ndr.de]?
Tatsächlich ist es so, wie es die Zahlen, also die Riss-Statistik, auch bestätigen: Es ist sehr ungewöhnlich, dass Wölfe auf Pferde gehen. Wenn das passiert, sind meistens sehr kleine Pferde betroffen. Also meist Mini-Shetlandponys. Sie stellen von der Größe her für einen Wolf kein größeres Hindernis dar als beispielsweise ein Schaf. Für ausgewachsene Pferde – und auch Rinder – ist es noch unwahrscheinlicher als für kleinere Tiere, dass sie Opfer von Wölfen werden. Aber auch das kann man nicht komplett ausschließen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es Ziegen und Schafe betrifft, ist aber bedeutend höher.
Verfolgen denn Wölfe nicht auch öfter mal Reiter auf ihren Pferden?
Aus Brandenburg habe ich das noch nicht gehört. Es gab in Niedersachsen mal einen Fall, wo Wölfe zwei Reiterinnen nachgelaufen sind. Da wurde aber ganz genau hingeschaut und es kam danach nie mehr vor. Aber auszuschließen ist das nicht. Von daher ist es auch wichtig, dass Reiter im Wolfsgebiet wissen, wie sie sich bei Begegnungen am besten verhalten. In Panik wegzugaloppieren ist sicher nicht das Klügste. Es hilft, möglichst ruhig zu bleiben und dem Pferd vielleicht auch die Möglichkeit zu geben, die Wölfe anzuschauen. Die allermeisten Pferde, insbesondere die, die an Hunde gewöhnt sind, werden vor Wölfen keine große Angst haben.
Frau von der Leyen soll ja nach dem Vorfall mit ihrem Pony den Schutzstatus des Wolfes durchaus in Frage stellen.
Also meiner Meinung nach ist es nicht so, dass Frau von der Leyen da aus Emotionalität auf einmal Wölfe abschießen lassen möchte. Ich kenne den Brief, den sie als Kommissionspräsidentin an das EU-Parlament geschrieben hat. Da steht nicht drin, dass sie den Schutzstatus des Wolfes senken will, sondern dass sie ihn überprüfen wird. Sie hat sich sehr diplomatisch ausgedrückt und ich gehe nicht davon aus, dass da jetzt viel passieren wird.
Würde es nicht doch helfen, wenn Wölfe auch bejagt werden dürften in Deutschland? Im Moment "entnimmt" man ja nur Problemwölfe.
Die Aufnahme des Wolfes ins Jagdrecht macht aus unserer Sicht keinen Sinn. Denn Wölfe sind territoriale Tiere. Das heißt, es gibt ein Rudel von etwa acht Tieren, das in einem Territorium von etwa 300 Quadratkilometern lebt. Das wird freigehalten von anderen Wölfen. Eine Bejagung ändert also nichts. Es wird sicher in Zukunft durch abwandernde Jungtiere noch mehr Gebiete mit Wölfen in Deutschland geben. Aber es wird nie sehr viele Wölfe auf einer kleinen Fläche geben. Denn das lassen die Wölfe untereinander schon nicht zu.
Aber würden weniger Wölfe nicht für die Landwirte mit Weidetieren Entlastung schaffen?
Für Weidetiere macht das auch nicht unbedingt Sinn, wenn der Wolf bejagt wird. Es wird ja immer mal vorgeschlagen, eine gewisse Quote von Wölfen jährlich abzuschießen, damit es weniger Risse gibt. Dann wären zwar weniger hungrige Wolfsmäuler zu stopfen, aber Weidetiere machen nur etwa ein bis zwei Prozent der Wolfsnahrung aus. Es kann aber auch nur ein einziger Wolf für Weidetiere gefährlich werden. Das heißt, deren einziger Schutz ist der aufwändige Herdenschutz. Deshalb fordern wir auch von der Bundesregierung, diesen noch mehr zu fördern.
Gibt es in Deutschland mehr Wölfe als in Sibirien oder Kanada pro Kopf? Es wird ja gern behauptet, die Wölfe vermehrten sich in Deutschland rasend und unkontrolliert. Dabei ist die Population zuletzt nur um fünf Prozent gewachsen.
In absoluten Zahlen wage ich das zu bezweifeln. In Kanada oder Sibirien gibt es mehr Wölfe an sich – aber das sind Staaten, in denen es sehr wenige Menschen gibt und sehr viel Wildnis. Es kann also schon sein, dass es hier pro Kopf mehr Wölfe gibt. Die Frage ist doch aber, ob man als Maß nicht lieber die Länder in Europa nimmt, in denen Wölfe nie ausgerottet waren. Wie beispielsweise in Italien oder Spanien. Da waren die Wölfe zwar stark dezimiert, aber nie ganz weg. Und gerade in Italien gibt es eine ganz ähnliche Bevölkerungsstruktur wie hier in Deutschland. Also im Verhältnis ein recht kleines Land mit vielen Menschen.
Daran sieht man, dass Wölfe keine Wildnis als Lebensraum brauchen. Wölfe kommen sehr gut in Kulturlandschaften wie in Deutschland zurecht. Das liegt daran, dass wir einen hohen Wildbestand haben. Der Großteil der Wolfsbeute sind nicht Nutztiere, sondern Wildtiere – vor allem Rehe und Wildschweine. Von diesen Tieren gibt es in Deutschland mehr als genug. Wölfe brauchen also einerseits genug Futtergrundlage, aber auch Rückzugsorte für die Aufzucht ihrer Jungen. Sie kommen aber auch gut damit zurecht, dass da mal eine Siedlung, ein Industriegebiet oder ein ehemaliger Truppenübungsplatz ist.
Warum leben mit etwa 37 Prozent aller deutschen Wölfe ausgerechnet so viele in Brandenburg? Ist Ostdeutschland aus irgendeinem Grund besser für die Wölfe geeignet?
Es ist tatsächlich verwunderlich, dass Wölfe so lange gebraucht haben, sich auch in den westlichen Bundesländern auszubreiten. Seit etwa drei Jahren gibt es Tendenzen, dass sie sich auch in Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Hessen ansiedeln.
Dass es vor allem in Sachsen und Brandenburg so viele Wolfs-Territorien gibt, liegt auch daran, dass die ersten Wölfe, die wieder nach Deutschland zurückkehrten, aus Polen kamen. Und wenn man die Lausitz kennt, weiß man, dass es da viele alte Tagebaue gibt, die ein sehr gutes Wolfshabitat sind. Es gibt dort einen hohen Wildbestand und viele Flächen, wo sie ihre Ruhe haben. Schon seit etwa zehn Jahren gibt es auch wieder Wölfe in Niedersachsen. Da gibt es viele große Agrarflächen – damit kommen die Wölfe auch gut klar, weil es auch dort viel Wild gibt.
Idealisieren Städter die Wölfe, die die Landbewohner dämonisieren?
Diese Vermutung liegt in der Theorie sehr nahe, lässt sich aber anhand von Umfragen nicht bestätigen. Wir haben 2021 eine Forsa-Umfrage beauftragt zur Akzeptanz von Wölfen in Deutschland. Da haben wir explizit die Antworten von Menschen auswerten lassen, die in Städten beziehungsweise im ländlichen Raum wohnen. Da gab es in der Befürwortung und Ablehnung von Wölfen nur marginale Unterschiede. Da wo Wölfe sich neu niederlassen im ländlichen Raum, ist das Thema für mein Gefühl präsenter als beispielsweise in Berlin. In Berlin ist die Wahrscheinlichkeit, einem Wolf zu begegnen, schon sehr gering.
Aber die anfängliche Aufregung legt sich auch im ländlichen Raum schnell wieder. Gerade bei Leuten, die keine Weidetiere besitzen. Sie merken schnell, dass sie so gut wie nie Wolfsbegegnungen haben. Und wenn doch, laufen die meist sehr unaufgeregt ab. Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass die Menschen im ländlichen Raum besser über Wölfe informiert sind, als Städter.
Gibt es überhaupt überlieferte Angriffe auf Menschen?
Obwohl wir ja seit über 20 Jahren wieder Wölfe in Deutschland haben, gab es hier noch keinen einzigen Fall, bei dem sich ein Wolf aggressiv gegenüber einem Menschen gezeigt hat. 2016 gab es einen Wolf in Niedersachsen, der dann im Endeffekt auch entnommen – was getötet heißt – wurde. Da hatte sich das Tier zuvor aktiv Menschen genähert, um um Futter zu betteln. Aber allein das will man von Wildtieren nicht. Deshalb ist es auch ganz wichtig, Wölfe niemals anzufüttern und Nahrungsquellen unzugänglich zu machen.
Es gibt eine Studie norwegischer Forscher, die 2021 veröffentlicht wurde. Dort wurde nachgeschaut, wie viele Wolfsangriffe es zwischen 2002 und 2020 weltweit gab. Für Nordamerika und Europa wurden die Zahlen zusammengefasst. Da waren es hier 14 Übergriffe, von denen zwei tödlich verliefen. Beide in Nordamerika. Für die große Fläche und den langen Zeitraum, die da betrachtet wurden, sind das ja äußerst geringe Zahlen.
Was auch wichtig ist: In den allermeisten der 14 Fälle waren die Wölfe vorher schon auffällig geworden. Deshalb ist es auch hier bei uns ganz wichtig, dass man, wenn man einen Wolf sieht, die Sichtung auch meldet. Damit auffällige Muster frühestmöglich erkannt werden können.
Ab wann gilt ein Wolf als auffällig?
Es ist nicht auffällig, wenn ein Wolf, den man auf einem Waldweg antrifft, kurz stehenbleibt und schaut. Das ist ok – denn es handelt sich durchaus um ein Wildtier, das weiß, was ein Mensch ist. Ich bin mir sicher, sehr viel mehr Wölfe sehen in unseren Wäldern Menschen als umgekehrt. Aber der Wolf sollte sich nicht aktiv auf den Mensch zubewegen. Er sollte sich leicht verscheuchen lassen. Kurz gucken darf der Wolf, aber dann sollte er sich seines Weges trollen.
Wie verscheucht man so einen Wolf denn am besten?
Bei Wolfsbegegnungen sollte man möglichst Ruhe bewahren. Man muss sich weder auf den Boden legen noch schreiend wegrennen. Sondern ruhig stehenbleiben und dem Wildtier – und das gilt nicht nur für Wölfe – die Möglichkeit geben, sich selbständig zu entfernen. Es also nicht in die Ecke drängen. Wenn man sich unwohl fühlt, kann man sich groß machen, rufen, klatschen und dann sollte der Wolf schon verschwunden sein.
Gilt das so auch für Hundebesitzer, die auf Wölfe treffen?
Für Hundehalter, die mit ihrem Tier im Wolfsgebiet unterwegs sind, ist es ganz wichtig, den Hund angeleint beziehungsweise nah am Mensch zu lassen. Denn bei einer Begegnung mit einem Wolf hilft es, dass der Wolf den Hund mit dem Mensch assoziieren kann. Damit der Wolf gar nicht auf die Idee kommt, dass es sich bei dem Hund um einen gebietsfremden Eindringling handeln könnte, der ihm sein Territorium streitig machen will.
Hunde können von Wölfen als Konkurrenten aufgefasst werden. Aber Angriffe auf Tiere in Privatbesitz sind die absolute Ausnahme. Jagdhunde haben da ein höheres Risiko. Denn die sind ja auch abseits ihrer Besitzer im Wald unterwegs. Aber auch hier gibt es gute Empfehlungen. Nämlich, dass vor einer Jagd alle Jäger darüber unterrichtet werden, ob Wölfe im Revier gesichtet worden sind. Jäger können ihre Jagdtechnik auch anpassen und ihre Hunde nicht ganz so weit von sich weglassen. Zudem gibt es Schutzwesten für Jagdhunde, die eigentlich gegen Wildschweine eingesetzt werden, die aber auch gegen Wolfsangriffe ganz gut helfen. Aber generell muss man sagen, dass man einen Jagdhund im Einsatz immer einem gewissen Risiko aussetzt.
Apropos Wildschwein: Wem würden Sie lieber bei einem einsamen Waldspaziergang über den Weg laufen, einem Wildschwein oder einem Wolf?
Ich glaube, ich hätte bei beiden Tieren nicht direkt panische Angst. Wildschweine haben, genau wie Wölfe auch, ja in der Regel kein Interesse daran, in den direkten Konflikt mit Menschen zu gehen. Wenn es sich allerdings um eine Bache mit ihren Frischlingen handeln würde, da würde ich definitiv lieber einem Wolf begegnen. Aber es gibt insgesamt so viele ereignislose Wildtierbegegnungen täglich in Deutschland – gerade auch seit Corona, wo so viele Menschen entdeckt haben, dass die Natur wirklich schön zum Spazierengehen ist.
Würden Sie Kleinkinder im Wolfsgebiet unbeaufsichtigt im Wald spielen lassen?
Ich weiß ja nicht, wie die Elterngeneration heute die Betreuung ihrer Kinder einschätzt, aber ich selbst durfte als Kleinkind, und ich hatte keine überfürsorglichen Eltern, ganz sicher nicht alleine im Wald spielen. Als größeres Kind dann sicher schon irgendwann.
Ich denke, die Frage, ob man Kleinkinder alleine in den Wald lässt, stellt sich gar nicht. Ich weiß hingegen von Waldkindergärten, die trotzdem inzwischen im Wolfsgebiet liegen, weiter bestehen. Da wissen Kinder, Eltern und Erzieher, was sie bei einer etwaigen Wolfsbegegnung zu tun haben. Die Kinder werden da ja nicht alleine in den Wald gescheucht. Es sind immer Erwachsene da. Ich weiß von einer Einrichtung, in der die Kinder spielerisch lernen, dass sobald jemand "Wolf" ruft, sie sich inklusive Erzieher sammeln. Da hat jedes Kind eine Trillerpfeife am Rucksack. Das heißt, die könnten im Zweifelsfall auch jede Menge Rabatz machen. Das finde ich genau die richtige Herangehensweise. Man muss die Natur nicht meiden, nur weil da Wölfe sind. Denn man kann sich dementsprechend verhalten. Auch wenn es natürlich keine Garantie dafür gibt, dass nie etwas passieren wird. Denn Wölfe sind Wildtiere.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24
Sendung: Radioeins, 09.12.2022, 10 Uhr
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