Pilotprojekt in Berlin
Videochats, eine Onlinebücherei und sogar Computerspiele umfasst der neue Internetzugang in Berliner Gefängnissen. Unnötiger Luxus? Oder unverzichtbar für eine erfolgreiche Resozialisierung? Das Projekt ist umstritten. Von Tobias Schmutzler
"Ich fühle mich absolut abgeschnitten von der Welt da draußen." Seit drei Jahren sitzt Adrian U. in der Justizvollzugsanstalt Tegel. Zweieinhalb Jahre Haft hat er noch vor sich. Das Landgericht Berlin hat den 42-Jährigen wegen Verstoßes gegen das Waffen- und Kriegswaffenkontrollgesetz verurteilt. "Ich war ein notorischer Waffensammler - habe die Waffen aber nie eingesetzt", sagt Adrian U., als wir ihn am Telefon in seiner Zelle erreichen. Er habe seine Strafe akzeptiert - aber er fordert auch, dass das Leben im Haftraum mit der echten Welt Schritt hält.
Dabei geht es Adrian U. vor allem um die Digitalisierung. "Es wird allerhöchste Zeit, dass es einen Internetzugang in der Zelle gibt. Der Vollzug hinkt da total hinterher. Es geht darum, dass wir am gesellschaftlichen Leben teilhaben wollen. Im Moment werden wir ausgegrenzt." Er und viele andere Häftlinge verfolgen deshalb sehr aufmerksam, dass der Berliner Senat jetzt Schritt für Schritt einen eingeschränkten Internetzugang in den JVAs einführt.
Zuerst sind die 70 Zellen im Frauen-Gefängnis in Lichtenberg dran, die zum 1. Dezember 2022 mit entsprechenden Endgeräten ausgestattet worden sind. Bei der offiziellen Vorstellung sagte Justizsenatorin Lena Kreck (Die Linke), das Pilotprojekt sei ein wichtiger Schritt, "den Strafvollzug in Berlin zu digitalisieren und zu modernisieren." Die Gefangenen hätten ein Grundrecht auf Resozialisierung – das ergebe sich aus dem Grundgesetz und der Berliner Landesverfassung. "Resozialisierung bedeutet, sich auf ein Leben in Freiheit einzurichten", so Kreck. Derzeit werde im Vollzug "die Angleichung zwischen draußen und drinnen" nicht realisiert - gerade in Bezug auf die Digitalisierung.
Das soll sich jetzt ändern – mit einem auf den ersten Blick unscheinbaren Bildschirm, der in den Zellen am Schreibtisch installiert wird. Es ist ein Touchscreen, aber auch eine Kabelfernbedienung steht für die Navigation zur Verfügung. Konkret funktioniert das sogenannte Haftraummediensystem, so der sperrige offizielle Name, so: Auf einer Kachel-Oberfläche lassen sich unter anderem Unterhaltungsprogramme, Büroanwendungen und Kommunikationsdienste anwählen.
Einen Teil der Anwendungen können alle Häftlinge kostenlos nutzen. Dazu zählt ein digitales Antragssystem, mit dem die Papier-Bürokratie in den Anstalten weniger werden soll. Kostenfrei sind auch ausgewählte Internetseiten, beispielsweise aktuelle Nachrichtenartikel oder die Onlinebücherei der Zentral- und Landesbibliothek. Sogar Computerspiele können alle Gefangenen in geringem Umfang nutzen; zu den kostenfrei verfügbaren Titeln zählen das beliebte Smartphone-Spiel "Angry Birds" sowie die Klassiker Sudoku und Solitaire.
Grundsätzlich nicht anwählbar sind dagegen alle sozialen Medien von Instagram bis Facebook sowie Videoplattformen wie YouTube. Außerdem gibt es keinen allgemeinen Browser, mit dem Nutzerinnen und Nutzer frei Webseiten besuchen können. Stattdessen sind alle nutzbaren Dienste vordefiniert und können für jede gefangene Person individuell eingestellt werden. Der Internetzugang in der Zelle ist also extrem eingeschränkt und wirkt eher wie eine Art betreutes Surfen. Dadurch will die Justizverwaltung verhindern, dass Insassen sich gefährliche Informationen besorgen oder aus dem Gefängnis heraus in öffentliche Foren posten.
Aufwendigere Funktionen sind kostenpflichtig. Telefon, Videochat, Fernsehen, Radio, Emails, Office-Programme, aufwendigere Computerspiele – all das bekommen Häftlinge nur, wenn sie einen Vertrag mit dem Unternehmen abschließen, das die Geräte installiert. Die Telio Communications GmbH hat die Ausschreibung 2021 gewonnen. An die Firma zahlen Gefangene entweder einmalig für bestimmte Dienste oder dauerhaft in einem Abonnement.
Bei der Frage nach den genauen Preisen gab sich die Verwaltung zugeknöpft und nannte nur wenige Beispiele. Der TV-Zugang koste monatlich 13,95 Euro, Telefonieren ins Festnetz 3 Cent pro Minute, die Videotelefonie 20 Cent pro Minute. Eine Flatrate können Insassen nicht nutzen.
Bis Oktober 2023 sollen alle Justizvollzugsanstalten nacheinander mit Endgeräten ausgerüstet sein – und damit auch die Zelle von Adrian U. Er hält das Optionsmodell für sinnvoll. "Wenn ich mir die Pakete buchen kann, die ich haben will, und dann nur dafür zahle, dann finde ich das gut." Um die Kosten ins Verhältnis zu setzen: Wer in einer JVA nicht arbeitet, bekommt 40 Euro Taschengeld im Monat, berichtet Adrian U. Arbeiterinnen und Arbeiter kämen dagegen auf ein Monatsbudget von 250 bis 300 Euro. Davon könnten Gefangene aber nur einen Bruchteil frei ausgeben, also beispielsweise in Zukunft für das Haftraummediensystem.
"Ein Meilenstein" ist dieser kuratierte Internetzugang aus Sicht von Susanne Gerlach, Abteilungsleiterin für den Bereich Justizvollzug in der Senatsverwaltung für Justiz. Sicherheitsbedenken sieht die Justizverwaltung auch deshalb nicht, weil die Kommunikation der Gefangenen durchaus in Einzelfällen überwacht werden könne, wenn sie etwa Emails mit der Außenwelt schreiben.
Sechs Jahre lang war das System in der Entwicklung. Aus Sicht der drei Oppositionsparteien in Berlin war das allerdings verschwendete Zeit. CDU, AfD und FDP kritisieren einhellig, der Senat setze hier falsche Prioritäten. "Das ist ein Luxusprojekt, das es aus unserer Sicht nicht braucht", sagt Alexander Herrmann, rechtspolitischer Sprecher der CDU. Er hält den Internetzugang im Gefängnis sogar für kontraproduktiv: "Justizvollzug soll ja auch präventiv wirken - in dem Sinne, dass man sagt: Da will man nicht wieder hin. Und diese Wirkung gibt es nur, wenn es im Gefängnis nicht ganz so schön ist wie draußen."
Auch die FDP ist der Ansicht, der Senat sollte sich besser an anderer Stelle engagieren. "Resozialisierung bedeutet zunächst sinnvolle Beschäftigung, vor allem sinnvolle Arbeitsangebote für alle JVA-Insassen", so Holger Krestel, rechtspolitischer Sprecher der Liberalen.
Aus Sicht des Senats ist das Pilotprojekt vor allem deswegen besonders, weil es weitgehend kostenneutral für den Berliner Landeshaushalt sei. Die Kosten für Betrieb und Gerätewartung übernähme komplett das Dienstleistungsunternehmen Telio.
Doch die Argumentation, dass somit keine Kosten für das Land aufkämen, bezweifelt der rechtspolitische Sprecher der AfD. "Es werden Kosten für das Land entstehen, wenn in der JVA Tegel und an anderen Orten neue Internetkabel verlegt und die Wände aufgerissen werden", sagt Marc Vallendar. "Die Schaffung der Infrastruktur kostet mit Sicherheit Geld."
Die Internetverbindungen in die Haftanstalten zu ertüchtigen, sei zudem nicht verhältnismäßig, sagt der CDU-Abgeordnete Herrmann. "Schauen Sie sich an, wie viele Schülerinnen und Schüler in Berlin – zum Beispiel in meinem Wahlkreis in Marzahn-Hellersdorf – ohne technisches Equipment dastehen. Eine bessere Ausstattung im Justizvollzug als im Berliner Durchschnitt? Das ist nicht zu vermitteln", sagt Herrmann.
Aus seiner Sicht und der des AfD-Abgeordneten Vallendar ist zudem der Zugang der Häftlinge zum Internet bereits heute zufriedenstellend geregelt: Über Gruppenleiter oder Sozialarbeiter in den JVAs können Gefangene schon heute PCs nutzen, die allen zur Verfügung stehen, um etwa Berufsangebote zu recherchieren, Videochats und Email-Programme zu nutzen.
Dem widerspricht der Gefangene Adrian U. Bisher gebe es viel zu wenige verfügbare Rechner in den Haftanstalten. Knapp einhundert Gefangene würden sich manchmal um einen PC streiten. Der Häftling möchte unabhängig auf seiner Zelle die Möglichkeit haben, "Kontakt aufzunehmen mit der Familie oder auch mit Behörden, um die Zeit nach der Entlassung vorzubereiten". Auf die Frage, welche Dienste er als Erste nutzen will, sobald das Haftraummediensystem in seinem Haftraum installiert ist, antwortet Adrian U.: "Einfach alle."
Sendung: rbb24 Inforadio, 7. Dezember 2022, 18:25 Uhr
Beitrag von Tobias Schmutzler
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