High-Deck-Siedlung in Neukölln
Nach den Silvester-Krawallen ist die High-Deck-Siedlung in Neukölln in aller Munde. Jeden Tag pilgern Journalisten an den Ort des Geschehens. Doch auch wenn es jetzt im Stadtteil still ist, läuft die Debatte weiter. Von Efthymis Angeloudis
Die Sonnenallee kann ihrem Namen an diesem Tag nicht gerecht werden. Dunkle Wolken hängen über dem Estrel-Hotel. Dicke Regentropfen drücken die wenigen Passanten dicht an den Eingang des S-Bahn-Bahnhofs Köllnische Heide, unter überdachte Bushaltestellen neben dem Von-der-Schulenburg-Park und unter dem Brückenhaus, dem "Eingangstor", unter das die Sonnenallee führt. Der am Silvesterabend abgebrannte Reisebus unter dem Gebäude bietet die perfekte Kulisse für ein Kamera-Team, das gerade einen Lokalpolitiker interviewt. Schlimm sei es, heißt es. Die High-Deck-Siedlung ist in aller Munde.
Wenige Meter entfernt ist der Nachbarschaftstreff "Mittendrin", in dem Essen, Kochkurse, Bingo-Abende und Mieterberatungen angeboten werden. "Noch ein Journalist?", tut Uwe Feind hinter dem Tresen genervt und grinst dabei von Ohr zu Ohr. So viel Presse habe die High-Deck-Siedlung lange nicht gesehen. "Solche langweiligen Sachen wie unser Bingo-Abend sind nicht aufregend. Wenn's knallt, ist es aber spannend", sagt er mit dem gleichen Lächeln. "Gestern hatte ich einen Ihrer Kollegen von der taz da. Dem habe ich das gleiche erzählt, das ich Ihnen jetzt sagen werde."
Noch bevor er ansetzen kann, kommt ihm eine ältere Frau zuvor, die bis jetzt genüßlich ihre Suppe gegessen hat. Acht Jahre lebe sie in der High-Deck-Siedlung. So schlimm wie während dieses Jahreswechsels sei es noch nie gewesen. "Nächstes Silvester werde ich sicherlich nicht wieder hier verbringen."
Auch, aber nicht nur hier kam es zu gewaltsamen Ausschreitungen. Der unter dem Brückenhaus stehende Reisebus ging in Flammen auf, auch die darüber liegenden Wohnungen drohten abzubrennen. In dem naheliegenden Sonnencenter warfen Jugendliche die Fenster eines Geschäftes ein. In Zeitungen wurde die Siedlung anschließend als "Berlins schlimmste Gegend" bezeichnet.
Die Leute im Viertel seien von der medialen Aufmerksamkeit aufgebracht, sagt Feind dazu. "Aber dieses Aufspalten in verschiedene Ethnien mag ich nicht." Es gebe viele Leute verschiedener Nationalitäten, durch deren Einsatz die High-Deck-Siedlung ein lebenswerter Kiez bleibe, nur damit es dann an einem Abend wieder weggewischt werde.
Die High-Deck-Siedlung liegt ganz am Ende der Sonnenallee, zur Mauerzeit war hier Niemandsland. Ein Plattenbaugebiet mit 2.400 Wohnungen und über 6.000 Bewohnern. Die Gebäude sind durch Fußgängerbrücken, den sogenannten High-Decks, miteinander verbunden. Hier gibt es keine Altbauwohnungen und keine Hipster. Vielleicht trauen sie sich nicht hierher.
Den Jüngeren in der Siedlung steht der Frust ins Gesicht geschrieben. Niemand hat wirklich Lust, mit Journalisten zu reden. Wie denn auch, wenn die Frage, die alle stellen möchten, eigentlich eine verdeckte, höfliche Version von "Hallo, Sie sehen migrantisch aus. Was sagen Sie dazu, dass Jugendliche wie Sie Scheiße gebaut haben sollen?" ist.
"Ich bin enttäuscht", sagt eine junge Frau auf dem High-Deck der Joseph-Schmidt-Straße. Solche Sachen seien auch anderswo in Deutschland passiert. "Aber nur hier wird daraus gleich ein Riesenthema gemacht."
Auch in Kleinstädten und Dörfern Sachsens sollen Jugendliche die Polizei mit Pyrotechnik beschossen haben [sächsische.de]. In der Kleinstadt Borna bei Leipzig in Sachsen sollen an Silvester etwa 200 Personen heftig auf dem Marktplatz randaliert haben [t-online.de]. Randale und Vandalismus scheinen also tatsächlich nicht nur ein Problem Neuköllns zu sein.
"Es ist schade, dass diese Leute uns widerspiegeln an die Menschen, die sowieso nicht viel von uns halten", sagt ein Jugendlicher auf der Sonnenallee. Für ihn spiele dabei auch Social Media eine wichtige Rolle. "Die denken sich, wenn ich eine Rakete auf ein Fenster abfeuere und es knallt, bringt mir das viele Likes."
In einer Sache sind sich aber viele einig: Das waren nicht nur Jungs aus dem Kiez. Die High-Deck-Siedlung hat sich in den vergangenen Jahren zu einem Treffpunkt für Jugendliche aus unterschiedlichen Bezirken entwickelt. Kinder und Jugendliche verbringen mangels anderer Angebote ihre Freizeit eher auf dem "Deck" und der Straße. Die vielen Brückenstege, offene Treppenhäuser und labyrinthartige Durchgänge ermöglichen Treffpunkte, die nur schwer einsehbar sind.
Fehlende Angebote der Wohnungseigentümer, unzureichende Freizeit- und Beratungsangebote für unangepasste Kinder und Jugendliche sowie schwierige soziale Lebenslagen der dortigen Familien führen zu einer sich zuspitzenden sozialen Situation, sagt das EJF-Kinder- und Jugendhilfezentrum (KJHZ) Neukölln gegenüber dem rbb.
Feind hatte in der High-Deck-Siedlung allerdings noch keinen Stress. "Mein Auto wurde schon mal in Pankow zerkratzt, hier nicht." Das kann auch damit zusammenhängen, dass sich im "Mittendrin" die Kiezmütter zum Kaffee und Tee trinken treffen. "Und vor der Mutter oder der Freundin der Mutter wagt es niemand, Mist zu bauen", fügt er lachend hinzu. Soziale Kontrolle funktioniere hier noch. "Ich spreche mit den Müttern und sie fordern auch, dass man denen, die das gemacht haben, mal so richtig auf die Finger haut, im juristischen Sinn."
Wenige Tage später wird der abgebrannte Bus abgeschleppt. Die Sonne scheint wieder über der Sonnenallee und Menschen trinken Kaffee und unterhalten sich vor dem Kiosk oder dem Café. Nur die Kamera-Teams, die sich auf dem Marktplatz vor dem Sonnencenter tummeln, erinnern an die Geschehnisse der Silvesternacht. Die Bewohner erklären immer noch ungern, wie das, was hier passiert ist, mit ihnen zusammenhängen soll.
Auch Uwe Feind steht im Sonnenlicht telefonierend vor dem "Mittendrin". "Ich stehe immer noch hier, keine Einschusslöcher, keine Stichwunden. Wie Sie sehen, geht es mir gut", sagt er auf seine verspielte Art. "Kommen Sie doch bald mal wieder in die Siedlung." Spätestens nächstes Silvester oder wenn's mal wieder knallt.
Sendung: rbb24 Abendschau, 10.01.2023, 19:30 Uhr
Beitrag von Efthymis Angeloudis
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