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Audio: rbb24 Inforadio | 14.01.2023 | Quelle: dpa/S.Kahnert

Anstieg bei vermissten Minderjährigen

73 geflüchtete Kinder und Jugendliche in Berlin und Brandenburg vermisst

Beim BKA sind so viele Flüchtlingskinder als vermisst gemeldet wie seit Jahren nicht. Auch in Berlin und Brandenburg verschwinden Minderjährige immer wieder aus ihren Unterkünften. Einige tauchen in Belgien wieder auf. Von Roberto Jurkschat

Als Hamid* aus dem Jugendheim in Berlin-Lichtenberg verschwindet, ist er elf Jahre alt. Einem Betreuer sagte er, er wolle nur in den Supermarkt, um sich Süßigkeiten zu kaufen. Zwei Stunden später konnten die Betreuer der Einrichtung den Jungen aus Afghanistan nirgendwo finden. Als die Ermittler:innen der Kriminalpolizei eintreffen, folgen sie Hamids Fährte mit einem Spürhund, doch irgendwo auf der Frankfurter Allee verliert sich die Spur.

Lange Zeit gibt es keine Hinweise, die die Ermittler zu dem Jungen führen. Erst ein paar Wochen später bekommt die Vermisstenstelle des Berliner LKA einen Anruf von einer Hilfsorganisation aus Belgien. Der Junge sei in Brüssel aufgetaucht, wo er inzwischen von einer Pflegefamilie in Obhut genommen wurde.

Elfjähriger im Auto nach Brüssel

Wie Hamid nach Belgien gelangt ist, war den Ermittlern lange ein Rätsel. Über ein Handy hatte Hamid offenbar Kontakt zu seinen Eltern in Afghanistan. "Nach unseren Informationen wurde ein Fahrer in der afghanischen Community gefunden, der den Jungen abgeholt und nach Belgien gebracht hat", sagt Andrea Friese, Kommissariatsleiterin der Vermisstenstelle beim Berliner LKA.

Direkt vor der Einwanderungsbehörde in Brüssel sei Hamid aus einem Auto gestiegen. "Die Familie hatte sich wahrscheinlich erhofft, dem Kind nach Europa folgen zu können", sagt Friese. In Deutschland war das lange Zeit schwierig, nach 2017 wurden gerade aus Afghanistan etliche Asylanträge abgelehnt - anders als in Belgien, wo unbegleitete Minderjährige nach ihrer Ankunft außerdem sofort einen Vormund bekommen. Ein Asylantrag wird dort schnell durch die Behörden gestellt - für den Familiennachzug eine wichtige Vorauassetzung. In manchen Fällen seien vermisste Minderjährige aus Afghanistan nun schon in Belgien aufgetaucht, sagt Friese.

Weiterreise zu Bekannten oder Angehörigen

Dass unbegleitete Flüchtlinge vom Radar der Behörden verschwinden, ist in ganz Deutschland zuletzt wieder häufiger vorgekommen. Aktuellen Angaben des Bundeskriminalamtes (BKA) zufolge sind 2.009 unbegleitete Kinder und Jugendliche im Informationssystem der Polizei (INPOL) als vermisst eingetragen - so viele wie seit drei Jahren nicht.

In Berlin gelten aktuell 15, in Brandenburg 58 geflüchtete Kinder und Jugendliche als vermisst. Ermittler vermuten, dass die jungen Mernschen vor allem zu Bekannten oder Angehörigen und für bessere Perspektiven in anderen Städten und Ländern weiterreisen. "Grundsätzlich stellen wir fest, dass Deutschland nicht immer das Zielland, sondern auch Transitland ist", erklärt Andrea Friese vom Berliner LKA rbb|24. Dies habe auch etwas mit den langwierigen Asylantragsverfahren zu tun, die den Familiennachzug für die jungen Menschen erschwerten.

Friese sagt, junge Geflüchtete, die nur zwischenzeitlich in Berlin bleiben wollen, blieben nur kurz in den hiesigen Unterkünften, "um sich zu sammeln, Kraft zu tanken und geordnet Kontakt mit anderen Bekannten und Familienangehörigen am eigentlichen Zielort aufzunehmen". Anschließend verließen sie die Unterkünfte, um ihren Weg fortzusetzen.

 

Jugendämter unter Druck

Berliner Unterkünfte für minderjährige Flüchtlinge fast voll

Die Senatsverwaltung für Jugend muss immer mehr unbegleitete Minderjährige versorgen, die aus Kriegsgebieten in Berlin ankommen. Die Vermittlung in die reguläre Unterkünfte der Bezirke wird immer komplizierter. Von Roberto Jurkschat

Zehn Prozent der Flüchtlingskinder nach kurzer Zeit vermisst

Zahlen der Berliner Senatsjugendverwaltung zeigen, dass zumindest in der Hauptstadt viele Minderjährige relativ kurz nach ihrer Ankunft vermisst werden, in der Zeit zwischen der Erstaufnahme und der Vermittlung in eine reguläre Unterkunft. In dieser Zeit ist die Senatsverwaltung für Jugend für die Unterbringung zuständig.

Seit 2018 haben sich insgesamt 652 junge Menschen der Betreuung des Landesjugendamtes "entzogen", 52 dieser Vermissten waren Kinder unter 14 Jahren. Etwa jede:r zehnte Minderjährige verschwindet demnach kurz nach der Registrierung in Berlin. Dieser Anteil solcher Fälle sei in den vergangenen Jahren etwa gleich geblieben, wie eine Sprecherin der Senatsjugendverwaltung mitteilt, auch wenn die Zahl der Ankommenden im vergangenen Jahr deutlich gestiegen sei.

Seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges hatte das Landesjugendamt mehr als 3.000 unbegleitete Kinder und Jugendliche in Obhut genommen, im gesamten Jahr 2021 waren es knapp 700. Innerhalb weniger Monate hatte die Verwaltung die Aufnahmekapazitäten für Minderjährige mehr als verzehnfacht, Hotelzimmer und andere Räume aquiriert.

"Die Unzufriedenheit ist groß"

Allerdings kämpft das Landesjugendamt mittlerweile mit einem ähnlichen Problem wie das Ankunftszentrum in Tegel: Hilfsorganisationen beklagen, dass junge Menschen nach ihrer Ankunft lange "in der Luft hängen" und "zeitweise betreuungsfrei sind".

"Die Ankunftsprozedur in Berlin dauert inzwischen mehr als zwei Monate", sagt Daniel Jasch, Koordinator der Beratungsstelle BBZ in Berlin-Moabit. Bei der Inobhutnahme durch das Landesjugendamt sind die üblichen Unterbringungsstandards derzeit außer Kraft gesetzt, auch in den Bezirken gibt es kaum mehr freie Kapazitäten, um die unbegleiteten Kinder adäquat unterzubringen.

Helen Sundermeyer vom Bundesfachverband unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge (BumF) sieht hierin eine mögliche Erklärung, weshalb die Minderjährigen nicht in Berlin bleiben wollen. "Die jungen Menschen sind in einer fremden Umgebung und brauchen jemanden mit der richtigen Ausbildung, an die sie sich wenden können. Es gibt in Berlin aber viel zu wenige Betreuer. Die Unzufriedenheit ist groß."

Ein anderer Grund, weshalb junge Geflüchtete relativ schnell nach der Ankunft verschwänden, sei die mögliche Weiterverteilung in andere Bundesländer. "Manche wollen vielleicht nicht irgendwo aufs Land, sondern dorthin, wo sie jemanden kennen", sagt Sundermeyer.

LKA-Ermittlerin: Manche Fälle "schlichtweg nicht fahndungsfähig"

Um Vermisste zu finden, setzt die Polizei je nach Situation etwa Personenspürhunde, Drohnen und sogar Hubschrauber ein. Eine andere Möglichkeit ist es laut Friese, Vermisste über Mobiltelefone zu orten. Alle möglichen Kontakte der Vermissten bitte die Polizei um Mithilfe - "und um Nachfrage bei anderen Freunden, bei Lehrkräften und Mitschülern, Sportvereinen oder anderen möglichen Verbindungen".

Als letzte Option werde dann eine Öffentlichkeitsfahndung in Betracht gezogen, bei der sich die Polizei an die Presse wendet und um Unterstützung bittet. Ein probates Mittel sei auch die Veröffentlichung eines aktuellen Fotos im sogenannten "Berliner Fenster" der BVG.

Zu den Schwierigkeiten bei der Suche nach verschwundenen Flüchtlingskindern gehört, dass etwa das LKA in Berlin nicht immer mitbekommt, wenn die Vermissten wieder auftauchen. Einige Jugendliche, die nicht in Berlin bleiben wollen, geben laut Andrea Friese bei ihrer Registrierung einen anderen Namen an, damit sie aus Ländern wie Frankreich, Belgien oder Schweden später nicht wieder nach Deutschland geschickt werden. Denn eigentlich sieht das Dublin-Abkommen vor, dass Geflüchtete in dem EU-Land bleiben, in dem sie zuerst registriert wurden. Änderten Jugendliche ihre Personalien, seien sie "schlichtweg nicht fahndungsfähig", so Friese. Nicht auszuschließen sei deshalb, dass manche bereits mit anderem Namen in einem anderen Land registriert worden sind.

Helfer warnen vor Gefahren

"Die Suche nach vermissten Minderjährigen ist ein Stochern im Dunklen", sagt auch Helen Sundermeyer vom BumF. "Wir können nur hoffen, dass die Jugendlichen wirklich sicher bei Bezugspersonen landen und nicht von kriminellen Gruppen in Gefahr gebracht werden."

Eine Sorge, die auch das Deutsche Kinderhilfswerk zum Ausdruck gebracht hat. "Kriminelle Netzwerke üben psychischen oder physischen Druck auf Flüchtlingskinder aus, damit sie die Betreuungseinrichtungen verlassen", wie der Bundesvorsitzende des Kinderhilfswerks, Holger Hofmann einmal betonte. "Natürlich ist nicht auszuschließen, dass Flüchtlingskinder zu Verwandten weitergereist sind oder es bei ihrer Umverteilung Fehler in der Datenerfassung gibt. Aber dazu gibt es nach unserem Kenntnisstand überhaupt keine belastbaren Zahlen, nicht einmal Näherungswerte, die es erlauben würden, auch nur annähernd einzuschätzen, wie viele Kinder und Jugendlichen betroffen sind."

Zumindest in Berlin sehen Helfer und das LKA aber derzeit keine akute Verbindung zwischen den Vermisstenfällen und der Organisierten Kriminalität.

*Name von der Redaktion geändert

Sendung: rbb24 Inforadio, 14.01.2023, 12:00 Uhr

Beitrag von Roberto Jurkschat

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