Entfernung von Schrotträdern
Berlin ist ein Fahrradfriedhof. Fahrräder werden irgendwo abgestellt - und nie wieder abgeholt. Wieso das mehr als ein Müllproblem für die Stadt bedeutet und warum einige Bezirke gar nichts dagegen tun. Von Laura Kingston
Das Berliner Auge ist an Müll gewöhnt und der typische Berliner daran, ihn zu ignorieren. Blöd nur, wenn der Müll an Fahrradständern festgekettet ist, die der radfahrende Berliner benutzen will. Die Zahl der sogenannten "Schrotträder" nimmt in Berlin zu. Damit sind Fahrradleichen gemeint, die abgestellt und nie wieder abgeholt wurden. Manche Bezirke hauchen ihnen neues Leben ein, andere lassen sie weiter verrotten.
Ein grauer Montag im Januar, Berlin Hauptbahnhof. Ronny Höhne steht zwischen einer Menge Fahrräder und versucht, zu entscheiden, welches Fahrrad bloß ein bisschen kaputt und welches richtig Schrott ist - heißt, es hat mindestens einen Platten, unter Umständen auch schon Rost angesetzt. Kurz: Es macht einen verwahrlosten Eindruck. Dann bekommt es eine gelbe Banderole mit dem Hinweis: Der Mensch, dem das Fahrrad gehört, hat vier Wochen Zeit, seinen Schrott abzuholen.
Am Washingtonplatz haben Ronny Höhne und seine Kollegen vom Ordnungsamt Mitte viel zu tun. Der sei ein Hotspot für Fahrradleichen. Höhnes Vermutung: "An allen Bahnhöfen sind ganz viele Fahrräder, die [...] vielleicht sogar irgendwo entwendet wurden und dann halt wieder hier abgestellt, weil man dann einfach irgendwo anders hin ist und sich am nächsten Bahnhof das nächste Fahrrad geholt hat."
Nach der vierwöchigen Frist schaltet sich der Verein "Goldnetz" ein, meldet die Fahrräder bei der Polizei zur Sachfahndung an. Die Beamten prüfen die Fahrräder auf Diebstahl und melden sich bei den ursprünglichen Besitzern, aber "zu 80 Prozent erhalten wir immer die Freigabe von der Polizei, weil die Besitzerin dann auch tatsächlich sagen: "Mein Gott, nach sechs Jahren habe ich mir vier neue Fahrräder gekauft und die Versicherung hat gezahlt", erzählt Andrea Krebs von "Goldnetz" im Interview mit dem rbb am Montag. Mit "Freigabe" meint sie: die Fahrräder können in ihrer Werkstatt aufgemotzt werden. "Good Bikes" ist ein Projekt zur Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen, die Räder für gute Zwecke wiederherstellen - wie etwa für Geflüchtetenheime.
Allein im Bezirk Mitte hat sich die Zahl der markierten Fahrradüberreste von 2021 auf 2022 auf über 1.000 verdoppelt. Und das sind nur die, die auch wirklich markiert wurden. 2020 sollen es nach dpa-Angaben berlinweit 4.000 gewesen [Berliner Zeitung] sein. Eine rbb24-Anfrage an alle Bezirke zu ihren Zahlen im Jahr 2022 deutet darauf hin, dass der Fahrradmüll auf den Straßen mehr geworden ist.
Allein in den Bezirken Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg, Neukölln, Reinickendorf, Tempelhof-Schöneberg, Steglitz-Zehlendorf und Pankow waren es im vergangenen Jahr mehr als 3.700 Schrotträder, die von öffentlichen Plätzen entfernt wurden. Mittes Bezirksstadträtin für Ordnung Almut Neumann betont allerdings, dass das auch daran liegen könnte, dass mehr Bürger den Müll durch die App dem Ordnungsamt meldeten. Das sei extrem wichtig, da Menschen ihre Räder "sicher am Hauptbahnhof abschließen können" sollen.
In Spandau kümmerte sich 2022 nach Angaben des Bezirks niemand um die Räder - "aufgrund eingeschränkter Ressourcen". Sowohl die Kosten für die Markierung der Räder als auch die für die Entsorgung der BSR tragen die Bezirke - und damit die Öffentlichkeit.
Nicht allen Fahrradleichen, wie denen in Berlin-Mitte, steht eine Reinkarnation für gute Zwecke bevor. So gibt das Bezirksamt Reinickendorf an, die Räder würden nach der Überprüfung der Polizei direkt von der Berliner Stadtreinigung (BSR) entsorgt, ähnlich verfahren auch Tempelhof-Schöneberg und Pankow – wobei eine Sprecherin des letztgenannten Bezirks angibt, es gebe auch "Kooperationen mit Vereinen", die manche Räder wiederherstellten.
In Steglitz-Zehlendorf werden herrenlose Fahrräder nicht durch das Ordnungs-, sondern durch das Straßen- und Grünflächenamt (SGA) und "die AGH-Maßnahme der Wendepunkt GmbH gekennzeichnet". Hier würden Langzeitarbeitslose einen Teil für "soziale Zwecke" reparieren. Auch das Ordnungsamt Friedrichshain-Kreuzberg macht Gebrauch von einem gemeinnützigen Unternehmen, um die kaputten Fahrräder entfernen zu lassen.
Doch warum lassen so viele ihr Rad einfach stehen und holen es nie wieder ab? Ordnungsamtmitarbeiter Köhne vermutet, dass es sich bei vielen Schrotträdern um kurzerhand gestohlene Fahrräder handelt. Möglicherweise liegt aber auch ein Wandel in der Mentalität der Radfahrer zugrunde.
Reiner Kolberg vom Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) hält es für möglich, dass viele Menschen nicht "in gute Qualität" investieren. "Bei dem fünften Platten innerhalb kurzer Zeit wird das Fahrrad dann einfach an irgendeine Ecke gestellt", vermutet Kolberg. Im Sinne der Nachhaltigkeit empfiehlt er, sich vorab über die Qualität des Fahrrads zu informieren.
Sendung: rbb24 Abendschau, 09.01.2023, 19:30 Uhr
Beitrag von Laura Kingston
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