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Audio: Fritz | 31.01.2023 | Quelle: imago images

Interview | Sekten und destruktive Gruppen in Berlin

"Wir haben es mit massiver körperlicher und psychischer Gewalt zu tun"

Scientology und die Zeugen Jehovas verlieren in Berlin an Bedeutung - dafür befeuern Krisen den Aufstieg von Lebensberatern, Esoterikern und Evangelikalen. Aussteiger-Berater Jan Buschbom spricht von einem zunehmenden Problem in der Hauptstadt.

Die Räume des Vereins iuvenes e.V. liegen im vierten Hinterhof eines Gebäudes an der Schönhauser Allee in Prenzlauer Berg. Jan Buschbom und Gloriett Kargl sprechen hier mit Berliner:innen, die aus Sekten und destruktiven Gruppen ausgestiegen sind. Oft geht es um sexuellen Missbrauch und körperliche Gewalt.

rbb|24: Herr Buschbom, Sie sprechen nicht von Sekten, sondern von destruktiven Gruppen. Passt der Begriff 'Sekte' nicht mehr in eine Zeit, in der sich Reichsbürger zu Königen krönen und Verschwörungszirkel weltweite Bewegungen auslösen?

Jan Buschbom: Den Begriff 'Sekte' bildet tatsächlich nicht das ganze Spektrum ab, mit dem wir es in Berlin zu tun haben. Unsere Klienten kommen nicht nur aus Glaubensgemeinschaften. Viele haben massive körperliche und psychische Gewalt bei Esoterikern oder bei Lebensberatern erlebt oder extrem viel Geld für zweifelhafte Coachings bezahlt.

Hinzu kommt, dass der Begriff 'Sekte' extrem negativ konnotiert ist. Für uns ist nicht entscheidend, ob die Menschen aus einer Gruppe stammen, die andere als Sekte bezeichnen, uns geht es um die Frage, was die Menschen erlebt haben und wie wir helfen können.

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Handelt es sich bei destruktiven Gruppen in Berlin um Randerscheinung oder um ein größeres Problem?

Ich kann zumindest sagen, dass die Nachfrage nach entsprechenden Hilfen in Berlin konstant hoch ist und tendenziell wächst. Wir haben 2018 mit zwei Teilnehmern angefangen, inzwischen sind wir mit 60 Menschen in ständigem Kontakt, von denen 40 regelmäßig an unseren Angeboten teilnehmen. Hinzu kommen Anfragen und einmalige Einzelberatungen im dreistelligen Bereich pro Jahr.

Sicherlich haben Krisen wie die Klimakatastrophe, die Corona-Pandemie und der Krieg gegen die Ukraine dazu geführt, dass Menschen auf der Suche nach Halt und Orientierung bei problematischen Gruppen landen. Aus meiner Sicht zeigt die Nachfrage aber, dass wir es in Berlin und bundesweit mit einem unterschätzten Problem zu tun haben. Die Zahl destruktiver Gruppen wächst, genauso wie die Zahl der Betroffenen.

Welche Gruppen sind es, die hier als problematisch in Erscheinung treten?

Die großen, international agierenden Glaubensgemeinschaften, wie Scientology oder Zeugen Jehovas, verlieren in Berlin zahlenmäßig an Bedeutung. Dafür gibt es vermehrt Strömungen im protestantischen Bereich, neu-evangelistische Gruppen, charismatische, oder neuprophetische Gruppen, die hochproblematisch sind. Zu uns kommen auch Menschen aus Gemeinschaften mit asiatisch inspirierter Religiosität und aus muslimischen Sondergemeinschaften.

Insgesamt beobachten wir in Berlin aber vor allem einen starken Trend zu destruktiven Kleinstgruppen und Einzelangeboten. Einige davon stammen aus dem Coaching- und Lebenshilfebereich, es gibt aber auch problematische Yoga-Angebote.

Infobox: Zur Person

Coaching und Yoga, das klingt erstmal nicht sehr problematisch.

In den Bereichen sind die meisten Angebote natürlich unbedenklich. Leider ist aber nicht immer ersichtlich, welche davon möglicherweise problematisch sind. In Kleinstgruppierungen ist es oft nur eine Person, um die herum sich die Gruppe organisiert. Es sind oft ausgesprochen charismatische Führungsfiguren, deren Sonderbegabung es ist, psychosoziale Bedürfnisse und Stimmungen zu erahnen. Zu Yoga-Kursen gehen beispielsweise oft Menschen, die sich 'wieder spüren wollen'. Das öffnet missbräuchlichen Angeboten die Türen.

Wer überzeugt ist, nur die eigene Gemeinschaft kennt 'die Wahrheit' und alles andere ist falsch, sündhaft oder sogar gefährlich, wird fest an die Gemeinschaft gebunden. Die Betroffenen leben dauerhaft mit Angst, Schuld oder Scham, wenn sie sich aus der Gruppe hinausbewegen. Deswegen fällt ihnen das Verlassen der Gruppe so schwer, emotional und gedanklich sind endgültige Ausstiege beinahe nicht mehr möglich.

Welche Eigenschaften machen eine destruktive Gruppe ihrem Verständnis nach aus?

Nach unserer Definition behindern diese Gruppen alle die persönliche Entwicklung ihrer Mitglieder. Und in allen geht es um klassische Gut-gegen-Böse-Erzählungen, die einen extremen Anpassungsdruck auslösen. Wir sind die Gläubigen und ihr die anderen. Wir sind die Wissenden, ihr die Unwissenden. Die Abgrenzung der Gruppen zur Gesellschaft ist etwas, was alle gemeinsam haben.

Den Mitgliedern wird in den Gemeinschaften oft eine Rolle zugewiesen, aus der sie nicht so einfach ausbrechen können, weil das als Bedrohung und Verrat empfunden wird. Solche Abweichungen sind etwas, was die Gruppen bis in den Kern bedroht. Aus der Beratung wissen wir, dass das am Ende in Missbrauch, Kindeswohlgefährdung und Gewalt münden kann.

Wie entsteht diese kriminelle Energie?

Einige freikirchliche oder fundamentalistische Gemeinschaften richten das gesamte Leben auf das Heilsgeschehen nach dem Tod aus. Das gesamte irdische Leben gilt dagegen als 'Teufelswerk'. Es ist eine Welt, die von Engeln, Teufeln und Dämonen bevölkert ist. Wer glaubt, auf der Seite Gottes zu stehen, macht auch vor den eigenen Kindern nicht halt, wenn sie den 'Verlockungen des Teufels' erliegen. Bestraft werden Kinder mit kalter, systematischer Gewalt, aber es gibt auch physische Gewaltvorfälle, die regelrecht im religiösen Rausch geschehen.

Andererseits gibt es Kommunen auf dem Land, in denen geht es um alternatives Liebesleben, in dem Eifersucht keine Rolle spielt. Das wird oft als große, nette Gemeinschaft verkauft. Und trotzdem kann so etwas schnell in sexuellen Missbrauch münden. Wenn ich sage, Eifersucht und Monogamie sind schlimm, stattdessen führt nur die frei gelebte Sexualität zur Erlösung, dann entsteht ein Druck, Sex zu haben, teilweise auch gegen den Willen der Mitglieder.

Zu uns kommen aber auch Menschen, die nicht mehr in der Lage sind, ihren Alltag zu bewältigen, weil sie einen Glauben verinnerlicht haben, dass der Klimawandel ein religiöses Zeichen dafür ist, dass die Welt unmittelbar vor dem Untergang steht.

Wir hatten auch einen Klienten, der in eine fundamentalistische Kleingemeinschaft hineingeboren worden ist. Dieser junge Mann war bereits im Ausland in einem paramilitärischen Camp an der Waffe ausgebildet worden, um sich auf den unmittelbar bevorstehenden apokalyptischen Endkampf zwischen Gott und Satan vorzubereiten. Er ist gemeinsam mit seinen Geschwistern ausgestiegen, nachdem seine Schwester ihm von einer Vergewaltigung durch Mitglieder berichtet hat.

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Wie kommt es, dass Menschen in Berlin in solche Glaubensgemeinschaften hineingeraten?

Tatsächlich sind 80 Prozent unserer Klientinnen und Klienten in solche Gruppen hineingeboren worden. Andere geraten hinein, wenn sie einfach in einer Sinnkrise sind und sich fragen: Was mache ich auf der Welt eigentlich? Im Internet geben etliche Personen und Gruppen darauf eine Antwort.

Andererseits gibt es Gruppen, die sehr stark missionieren, weil sie das Wohlergehen ihrer Mitglieder daran bemessen, wie viele Seelen sie bekehrt haben. Solche Glaubensgemeinschaften gehen gezielt auf psychisch erkrankte Menschen, Drogenabhängige oder Geflüchtete zu, alles Menschen, die Orientierung und Hilfe suchen.

Selbst wenn Menschen auf Sinnsuche sind, lösen solche Angebote nicht eine gewisse Skepsis aus?

Die meisten Menschen gehen davon aus, dass ihnen der Einstieg in so gefährliche Gruppen nicht passieren kann. Ich denke aber, in destruktive Gruppen können sehr viele hineingeraten, die diese Möglichkeit ganz selbstverständlich von sich weisen würden.

Denn diese Angebote kalkulieren ganz massiv mit psychosozialen Defiziten, für die es in einer Biografie bestimmte Zeitfenster geben kann. Wir haben alle einmal Krisen oder Schicksalsschläge. Wir haben vielleicht auch einmal Sinnkrisen und dann kommt jemand und sagt: Ich weiß, warum das passiert, ich habe die Lösung. Die Angebote verfangen vor allem bei Menschen, die in persönlichen Krisen nicht die Resilienz haben zu erkennen, worauf sie sich einlassen.

Wie gelingt es den Menschen, aus solchen manipulativen Gruppen auszusteigen?

Eine typische Lebensphase sind die späten Teenagerjahre und die Jahre Anfang 20, wenn entwicklungspsychologisch aus Jugendlichen Erwachsene werden. Das ist die Phase, in der sie plötzlich sehr bewusst den Wunsch nach einer eigenen Lebensgestaltung entwickeln.

Oft ist auch die Frage nach einer Partnerschaft ein Anlass auszutreten, wenn Mitgliedern vorgeschrieben wird, wen sie zu ehelichen haben. Ein anderes starkes Motiv ist die Erkenntnis von Doppelmoral, wenn sie merken, dass die Mitglieder und Entscheider ihrer Gruppen Wasser predigen und Wein trinken, was häufig der Fall ist.

Wir haben andererseits einige Klientinnen und Klienten aus dem LGBTQ-Bereich, die extreme Ängste und Schuldgefühle in den Gemeinden erleben und sich dann davon abwenden. Konversionstherapien sind da ein sehr großes Thema.

Mit welchen Problemen kämpfen die Menschen nach einem Ausstieg?

Das ist kommt immer auch auf die jeweilige Gruppe an und darauf, wie lange die Menschen dort waren. Viele sind hochtraumatisiert und leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Andere müssen den Bruch mit ihrem alten Leben erstmal verarbeiten.

Wir hatten hier einen Mann, der mit Mitte 50 ein angesehenes Mitglied seiner Gruppe war und dann ausgestiegen ist. Gesellschaftlich ist dieser Mann plötzlich ganz unten gelandet, er hat durch seinen Ausstieg über Nacht sein ganzes soziales Umfeld verloren. Wenn Menschen den Platz in einer solchen Gemeinschaft aufgeben, dann nötigt mir das Respekt ab, denn der Fall ist sehr, sehr tief.

Viele wollen endlich mal jemanden finden, mit dem sie über ihr früheres Leben reden können. Sie stoßen auch in Therapien oft auf Unverständnis, weil es zu weit weg ist von ‚Normalbiographien‘, was sie erlebt haben. "Musst Du immer übertreiben", hören sie oft. Dann kommt hinzu, dass die Sozialisation bei Menschen, die in solche Gemeinschaften geboren wurden, eine vollkommen andere ist, dass sie häufig nicht gelernt haben, wie man überhaupt über die eigenen Probleme aus der Vergangenheit spricht.

Auch Smalltalk müssen viele erst lernen, weil sie in ihren Gruppen vorher immer nur über Gott und andere Glaubensthemen gesprochen haben. Und an dem Punkt setzen wir in unserer Gesprächsgruppe an, weil hier Menschen sind, die ähnliche Dinge erlebt haben. Insofern lösen wir Einsamkeit auf und sozialisieren die Sprechfähigkeit nach.

Wie sieht es aus bei der Strafverfolgung, erstatten Aussteiger Strafanzeigen für das, was ihnen angetan wurde?

Wir machen die Erfahrung, dass ein Großteil der Menschen einfach damit abschließen will oder verängstigt sind und sich deshalb nicht auf einen Rechtsstreit einlassen. Andere wollen aufklären und über die Missstände in einer Gruppe informieren. Das ist ein gutes Ziel, aber es hat aus unserer Sicht auch manchmal den Nachteil, dass die Sekte und damit die eigene traumatische Vergangenheit irgendwie das große Lebensthema bleiben. Dann dreht sich das Leben wieder nur um die eine Gruppe. Dabei wäre es wünschenswert, die Menschen könnten damit abschließen und nach vorn blicken.

Herr Buschbom, vielen Dank für das Gespräch.

Sendung: Fritz, 31.01.2023, 00:30 Uhr

Beitrag von Roberto Jurkschat

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