Mehr Anfragen zu Evangelikalen und Esoterikern
Einige Sekten betrachten Berlin als "gottlose" Stadt voller Atheisten. Nach Einschätzung der Sekteninfo des Berliner Senats könnten einige Glaubensgemeinschaften ihre Missionierungsversuche in Berlin deshalb verstärkt haben. Von Roberto Jurkschat
Der Beratungsbedarf zum Thema Sekten hat bei der Leitstelle für Sektenfragen des Berliner Senats einen neuen Höchststand erreicht. Insgesamt waren es im vergangenen Jahr 643 Kontakte und damit fast 100 Anfragen mehr als noch 2020. Das geht aus einer Auswertung der Berliner Sekteninfo für rbb|24 hervor. Die Beratungsstelle spricht vom höchsten Wert seit ihrer Gründung vor sieben Jahren.
Dabei sei es weniger um Großorganisationen wie zum Beispiel Scientology gegangen, wie Karol Küenzlen-Zielinski von der Leitstelle für Sektenfragen im Gespräch mit rbb|24 sagte. Anfragen zu Scientology sind laut Jahresbericht für das Jahr 2021 der Sekteninfo in den vergangenen Jahren kontinuierlich gesunken und machen nur noch einen Bruchteil der Kontakte aus.
Viel häufiger hätten Klient:innen nach kleinen Gruppierungen gefragt, vor allem bibeltreue Evangelikale, zweifelhafte Lebenshilfe-Angebote, horrend teure Coachings oder Angebote im Bereich Esoterik.
Das Beratungsangebot richtet sich an Menschen, die aus Sekten und destruktiven Gruppen in Berlin ausgestiegen sind, sowie an Freunde und Angehörige Betroffener.
Mit 114 Anfragen bezog sich der größte Beratungsbedarf im vergangenen Jahr auf die Angebote evangelikaler Gruppen, christlicher Fundamentalisten und Pfingstler in Berlin, so Küenzlen-Zielinsky. Der Bedarf nach Hilfe sei in diesem Bereich im vergangenen Jahr "extrem gestiegen".
Aussteiger:innen und Angehörige hätten der Sekteninfo von besonders rigorosen Moralvorstellungen dieser Gruppen und von einer Feindlichkeit gegenüber sexuellen Minderheiten berichtet. Weshalb genau diese Gruppen verstärkt präsent sind, lasse sich nur vemuten, erklärt Küenzlen-Zielinsky.
Berlin werde von einigen evangelikalen Gruppen als "gottlose" Stadt mit einem großen Anteil Atheisten angesehen. Möglicherweise habe es deshalb verstärkte Missionierungsversuche in der Hauptstadt gegeben.
Zahlenmäßig ebenfalls gestiegen sind Beratungsanfragen zum Bereich Esoterik. In Berlin seien in diesem Sektor etliche Einzelanbieter vertreten, sagt Küenzlen-Zielinski. Das starke Interesse an Esoterik oder auch an alternativen Heilmethoden drücke häufig einen Wunsch nach "Vereinfachung einer als undurchsichtig und überfordernd erlebten Realität" aus. Die Klimakrise, die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg seien mögliche Erklärungen dafür, dass Menschen bei esoterischen Angeboten nach Orientierung suchten.
In der Beratung berichteten Ratsuchende in Zusammenhang mit esoterischen Angeboten allerdings auch von negativen Auswirkungen auf ihre Familien und von innerpsychischen Konflikten.
Die Zahl der Anfragen im Bereich "Coaching und Lebenshilfe" lag mit 61 Anfragen relativ stabil auf dem Niveau des Vorjahres. Anbieter dieses Segmentes sprechen der Sekteninfo zufolge Menschen an, die sich mit der Verarbeitung psychischer Konflikte, Selbstoptimierung oder persönlichem Erfolg befassten. Den Beratungen zufolge habe dies unter anderem zu psychischen Problemen, familiären Konflikten und rechtlichen Auseinandersetzungen geführt.
Aussteiger-Berater Jan Buschbom vom Berliner Verein iuvenes sagte im Gespräch mit rbb|24, Aussteiger:innen hätten dem Verein mitunter von körperlicher und psychischer Gewalt und Fällen von Kindeswohlgefährdung berichtet. Die Erscheinungsformen solcher Konflikte seien unterschiedlich.
Einige freikirchliche oder fundamentalistische Gemeinschaften richteten das gesamte Leben etwa auf das Heilsgeschehen nach dem Tod aus, so Buschbom. "Das gesamte irdische Leben gilt dagegen als 'Teufelswerk'. Wer glaubt, auf der Seite Gottes zu stehen, macht auch vor den eigenen Kindern nicht halt, wenn sie den 'Verlockungen des Teufels' erliegen. Bestraft werden Kinder mit kalter, systematischer Gewalt, aber es gibt auch physische Gewaltvorfälle, die regelrecht im religiösen Rausch geschehen."
Der Beratungsbedarf sei nach der Gründung des Vereins im Jahr 2018 deutlich gestiegen, von zwei Ratsuchenden auf derzeit 40 Menschen, die in regelmäßigem Austausch mit den Beratern stehen. "Aus meiner Sicht zeigt die Nachfrage, dass wir es in Berlin und bundesweit mit einem unterschätzten Problem zu tun haben", sagt Buschbom. "Die Zahl destruktiver Gruppen wächst, genauso wie die Zahl der Betroffenen".
Sendung: Fritz, 31.01.2023, 00:30 Uhr
Beitrag von Roberto Jurkschat
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