Gewalt gegen Rettungskräfte an Silvester
Die Angriffe auf Rettungskräfte in der Silvesternacht haben eine Debatte ausgelöst: Wer wendet da Gewalt gegen Rettungskräfte an? Der Sozialpsychologe Ulrich Wagner von der Universität Marburg hat verschiedene Erklärungen.
rbb: Herr Dr. Wagner, es ist schwer begreiflich - warum greifen Menschen Rettungskräfte und Feuerwehrleute an?
Ulrich Wagner: Das ist in der Tat etwas, wo man sich die Frage stellt: Was hat man davon? Wenn jemand sich der Polizei entziehen will und dabei die Polizei angreift - das kann man noch in etwa nachvollziehen.
Ich glaube, es sind zwei wesentliche Ursachen, die hier eine Rolle spielen. Es ist auf der einen Seite das, was in einer solchen Situation ganz konkret passiert. An Silvester sind Gruppen junger Menschen beieinander, man trinkt viel Alkohol. Es ist eine Stimmung zwischen heiter und aggressiv - und dann tauchen Rettungskräfte auf, Polizei oder Feuerwehr. Dann geraten die in die Aufmerksamkeit. Und dann ist es wiederum eine Mischung aus Attacke und Scherz, dann gegen Polizei oder Feuerwehr vorzugehen. Das ist die Erklärung, die sich aus der Situation ergibt.
Auf der anderen Seite müssen wir uns natürlich die Frage stellen: Wer ist das? Denn wir haben einen merkwürdigen Gegensatz: Die polizeiliche Kriminalitätsstatistik weist über die letzten 15 Jahre hinweg aus, dass Gewalt insgesamt in Deutschland eher zurückgeht. Auf der anderen Seite haben wir diese merkwürdigen Formen von Gewalt, die deutlich zuzunehmen scheinen. Das legt die Vermutung nahe, dass wir es hier bei Gewalt gegen Feuerwehr und Polizei und Rettungskräfte mit einer kleinen Gruppe zu tun haben, die eigene Vorstellungen zum Umgang mit staatlichen Institutionen und zum Umgang mit Gewalt entwickelt hat.
Wir haben mit einem Feuerwehrmann gesprochen, der mittendrin war und massiv angegriffen wurde. Er sagte, die Angreifer hätten größtenteils einen Migrationshintergrund gehabt und sagte, er habe selbst einen Migrationshintergrund - fange aber auch an zu stigmatisieren.
Auf der einen Seite haben wir eine Debatte darüber, dass 50 Prozent der Täter Migrationshintergrund haben. Gleichzeitig müssen wir aber zur Kenntnis nehmen, dass in der Altersgruppe, über die wir reden, die 18- bis 26-Jährigen, 50 Prozent der Menschen in vielen urbanen Gegenden sowieso Migrationshintergrund haben. Ob also Menschen mit Migrationshintergrund da häufiger auftauchen oder nicht, ist nicht so ganz klar.
Aber natürlich muss man die Frage stellen: Gibt es besondere Gruppen, die hier besonders auffällig werden? Und es reicht natürlich nicht, die Gruppen dann zu benennen und zu sagen "Das sind Menschen mit Migrationshintergrund", sondern man muss die nächste Frage stellen: Was sind die besonderen Lebensbedingungen, denen diese Menschen ausgesetzt sind, die sie dazu veranlassen, sich so unakzeptabel zu verhalten?
Ein prominentes Modell zur Erklärung dieser Form von aggressivem Verhalten ist: Es handelt sich um Menschen, bei denen Integration und Partizipation noch nicht so recht gelungen ist. Und das hat etwas damit zu tun, wie gut die Partizipationsangebote unserer Gesellschaft für einen Teil junger Menschen sind. Wie gut sind die Möglichkeiten, in einen befriedigenden Job zu kommen? Wie gut ist allen jungen Menschen erklärt, dass sie sich politisch beteiligen können und den Staat nicht als Feind ansehen müssen? Und wie gut können sie sich in soziale Netzwerke, in persönliche Netzwerke eingliedern?
All das sind Fragen, die wir beantworten müssen, denn wenn an dieser Stelle etwas schief läuft, also bei den Ausgangslagen von gelingender Sozialisation, dann kommt es zu solchen Subgruppen-Bildungen, in denen sich dann eben eigene Vorstellungen von der Akzeptanz von Gewalt entwickeln und in denen Staat und "die da oben" als etwas Fremdes und Feindseliges angesehen werden, gegen die es legitim ist, vorzugehen.
Sehen sie diese Diskussion oder blenden wir das aus?
Es gibt bereits eine Diskussion dazu seit etwa zwei oder drei Jahren. Denn wir haben ähnliche Ereignisse, wie wir jetzt an Silvester gesehen haben, in den Corona-Sommern gehabt. Diese Freitagsnacht-Randale, wo es dann gegen Polizei aber auch gegen Hilfskräfte ging - das war eine ähnliche Erscheinung, auch wenn da natürlich keine Feuerwerkskörper eingesetzt wurden. Seitdem gibt es diese Diskussion - und wir müssen sie intensiv fortsetzen, weil es nicht nur um Gewalt gegen Rettungskräfte, Feuerwehrleute und Polizei geht, sondern auch um die Frage, ob sich hier eine kleine Gruppe aus der Gesellschaft absetzt - und das wäre wirklich gefährlich.
Ich danke ihnen für diese Einordnung.
Das Interview führte Klemens Schulze für rbb24 Inforadio.
Sendung: rbb24 Inforadio, 03.01.2023, 09:05 Uhr
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