Reaktion auf Antisemitismus - Wenn Juden nach Angriffen resigniert schweigen

So 05.02.23 | 14:41 Uhr | Von Frank Drescher
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Im Sommer 2020 zündeten Unbekannte Avis Lokal an. (Foto: rbb)
Video: rbb24 Abendschau | 03.02.2023 | Frank Drescher | Bild: rbb

Einer Umfrage zufolge verzichten Juden in Deutschland, die Opfer von antisemitischen Anfeindungen werden, oft auf eine Anzeige. Auch ein Gastwirt aus Lichtenberg ist enttäuscht von der Polizei. Diese will ihre Ermittler mit einem Projekt sensibilisieren. Von Frank Drescher

Die Zahl antisemitischer Attacken in Deutschland ist zuletzt stark gestiegen. Befragungen zufolge stellen jedoch viele Jüdinnen und Juden, die Anfeindungen erlebt haben, keine Anzeige. Zum einen sei es aufreibend, sich den Vorfällen immer wieder neu zu stellen, sagen Experten. Problematischer aber sei, dass viele Befragte angeben: Durch eine Anzeige ändert sich nichts.

Gastwirt aus Lichtenberg immer wieder betroffen

Was das konkret für Betroffene bedeutet, hat gerade wieder ein Gastwirt aus Lichtenberg erlebt, im Folgenden wird er Avi genannt. Ihm gehört das Lokal "Morgen wird besser".

Im Sommer 2020 zündeten Unbekannte sein Lokal an, schwerer Sachschaden entstand. Der oder die Täter laufen noch immer frei herum. Vor dem Brandanschlag, so berichtet es Avi, habe er mehrere Drohungen erhalten. Ein Jahr später hat er sein Lokal wiedereröffnet. Nachbarn und Stammgäste spendeten für den Wiederaufbau und veranstalteten eine Solidaritäts-Demo, zu der auch Bezirksbürgermeister, Justizsenator und Bundestagsabgeordnete des Wahlkreises erschienen.

Seit der letzten Silvesternacht fühlt Avi sich wieder bedroht. Ein Bar-Besucher habe eine Angestellte gefragt: "Gehört der Laden noch dem Juden?" Anschließend habe er sich über die Preise beschwert: "Die sind zu hoch - das sind jüdische Preise" soll er gesagt und noch weitere antisemitische Dinge geäußert haben. Als die Angestellte die Polizei per 110 alarmieren wollte, sei sie - es war ja Silvester - nicht durchgekommen. Avi, der an dem Abend nicht im Lokal war, sagte, er habe in der der ersten Januarwoche über die Internetseite der Berliner Polizei Anzeige erstattet. Doch nichts sei passiert.

Polizei kam nach Notruf nicht und verwies auf eine Online-Anzeige

Auf rbb|24-Anfrage erklärte die Polizei, Avis Online-Anzeige erst am 24. Januar erhalten zu haben. Doch da hatte er - seiner Darstellung nach - bereits die zweite verbale Attacke angezeigt. Der Mann aus der Silvesternacht sei zurückgekehrt, erklärt Avi. Er habe zuerst andere Gäste angesprochen und erklärt, dass der Laden einem Juden gehöre und dieser Jude "Dreck" sei. Er verstehe nicht, warum Deutsche hier überhaupt säßen. Anderen Gäste hätten ihm nahegelegt, das Lokal zu verlassen oder sich an den nebenan sitzenden Avi zu wenden, wenn er ein Problem habe. Daraufhin habe er sich zu Avi gesetzt und ihn in ein längeres Gespräch verwickelt. Dabei habe der Mann zu Avi gesagt: "Du musst weg von hier. Und Du hast doch schon mal ein Zeichen bekommen, dass Du weg sollst", erinnerte sich Avi. Der Lokalbetreiber habe den Mann in der Folge des Lokals verwiesen. Avi habe noch das Kennzeichen des Mofas fotografiert, mit dem er davonfuhr. Außerdem hätten seine Überwachungskameras die Begegnung mit dem Mann aufgezeichnet.

Es hätte Avi beruhigt, wenn die Polizei, die er telefonisch verständigte, sofort vorbeigekommen wäre, sagt er. Doch am anderen Ende der Notruf-Hotline habe es geheißen, dass man jetzt nicht vorbeikomme, da er ja die Aufnahmen habe, berichtete Avi. Er solle Anzeige über das Internet erstatten, wurde ihn geraten.

Auf die Frage, ob diese Reaktion angemessen sei, benötigte die Berliner Polizei neun Tage, um rbb|24 zu erklären: "Eine inhaltliche Beantwortung im Sinne der Fragestellung ist der Polizei Berlin mit heutigem Stand noch nicht möglich, da derzeit geprüft wird, inwieweit die rechtlichen Voraussetzungen zum Abhören der Tonaufzeichnung des Notrufgesprächs vom 23. Januar 2023 gegeben sind."

Avi ist enttäuscht, denn er hatte, als er sein Lokal wiedereröffnete, es so verstanden, dass "wenn etwas ist", innerhalb von zwei Minuten ein Streifenwagen käme.

Studie: Betroffene erstatten oft keine Anzeige

Es dürften Erfahrungen sein, wie Avi sie gemacht hat, die viele Betroffene von Hasskriminalität von einer Anzeige abhalten - nicht nur Juden, sondern auch Muslime, Eingewanderte aus dem Sub-Sahara-Raum und deren Nachfahren, Roma und Angehörige der LGBTQ+-Gemeinschaften. Das geht aus einer wissenschaftlichen Untersuchung der EU-Grundrechteagentur von 2021 hervor [fra.europa.eu]. Die Aussage "Es würde sich durch eine Anzeige nichts passieren oder ändern" erhielt darin die höchste Zustimmungsrate bei befragten Jüdinnen und Juden.

Bereits 2018 fand die EU-Grundrechteagentur heraus, dass 79 Prozent der in Deutschland befragten Juden, die in den letzten fünf Jahren vor der Befragung judenfeindliche Belästigung, Beleidigung oder Gewalt erlebt haben, auf eine Anzeige verzichteten. "Wenn eine Person schon mehrfach Anzeige gestellt hat und die Verfahren dann stets eingestellt wurden, ist es verständlich, dass das nicht als ein schöner Weg gesehen wird", erklärte Ruth Hatlapa, Mitarbeiterin der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias). Sie sagt aber auch: "Generell sehen wir bei der Polizei, insbesondere bei den für Antisemitismus zuständigen Stellen, eine Sensibilität und Engagement, antisemitische Straftaten aufzuklären."

Die Schwerfälligkeit der behördlichen Abläufe ist ein weiterer Grund für viele, von einer Anzeige abzusehen. Das deckt sich auf mit den Beobachtungen von Rias. "Der Prozess kann sehr zäh und aufwühlend sein. Nach dem Erleben eines antisemitischen Vorfalls wollen einige die Erfahrungen möglichst schnell hinter sich lassen“, erklärte Ruth Hatlapa. "Da spielen viele Faktoren eine Rolle. Der konkrete Umgang der Polizei mit einem Vorfall ist einer davon", sagte sie.

Massiver Anstieg bei antisemitischen Straftaten

Trotz der großen Zurückhaltung bei den Betroffenen, antisemtische Übergriffe anzuzeigen, verzeichnet die bundesweite Kriminalitätsstatistik aber eine Verdoppelung solcher Delikte zwischen 2016 bis 2021. Diese stiegen von 1.458 auf 3.027 registrierte Fälle an. In drei Vierteln der Fälle geht der Zuwachs auf das Konto von Rechtsextremen.

In Berlin war der Anstieg im selben Zeitraum nicht ganz so stark. Wurden 2016 noch 262 Fälle verzeichnet, waren es 2021 insgesamt 422 Fälle. Knapp zu einem Drittel gingen diese nachweislich auf das Konto von Rechtsextremen. Bei der Hälfte des Zuwachses antisemitischer Straftaten in Berlin konnte die Polizei aber nicht zuordnen, ob die Delikte rechtsextrem, religiös oder anderweitig ideologisch motiviert waren.

Für den Anstieg der Zahlen kann es mehrere Gründe geben, sagte Rias-Mitarbeiterin Ruth Hatlapa. "Zum einen kann es sein, dass mehr Straftaten angezeigt werden. Es kann natürlich auch sein, dass mehr Straftaten passieren. Es kann aber auch sein, dass sich verändert, was als Straftat gilt, und es dadurch auch zu mehr Anzeigen kommt", erklärte sie.

Neuer Leitfaden für Ermittler

Um das große Dunkelfeld bei antisemitischen Straftaten aufzuhellen, haben die Berliner Polizei und Staatsanwaltschaft gemeinsam mit dem Rias-Schwesterprojekt "Regishut" (hebräisch für "Sensibilität") einen Leitfaden für Beamte der Strafverfolgungsbehörden erarbeitet. Darin ist genau festgehalten, was als antisemitisch gilt und wie mit entsprechenden Anzeigen umzugehen ist. Etwa so: "Polizeiintern hat eine Meldung antisemitischer Straftaten grundsätzlich durch den Anzeigenaufnehmenden frühestmöglich an den Dauerdienst des Polizeilichen Staatsschutzes […] zu erfolgen." Und dieser ist dem Leitfaden zufolge rund um die Uhr erreichbar.

"Gefahr für Leib und Leben"

Das Projekt "Regishut" vom Verein für Demokratische Kultur bietet auch Fortbildungen für Strafverfolger an, damit diese sich besser in die Betroffenen hineinversetzen können. "Vorurteilskriminalität, zu der auch antisemitische Straftaten gehören, sind ‚Botschafts-Straftaten‘. Sie sollen Angst machen, sie treffen die betroffenen Personen teilweise bis ins Mark", erläutert Alexander Lorenz-Milord vom Projekt "Regishut". Und die kommt im oft schwierigen, von Arbeitsüberlastung und Personalmangel geprägten Alltag von Ermittlern mitunter zu kurz. "Antisemitismus ist und bleibt eine Gefahr für Leib und Leben", so Lorenz-Milord.

Was im Fall von Avis Anzeigen schief gegangen ist, bleibt vorerst unklar. Immerhin: Als er kürzlich einen Aufkleber mit judenfeindlichen Parolen an seinem Lokal vorfand, reagierte die Polizei diesmal sehr schnell.

Sendung: rbb24 Abendschau, 03.02.2023, 19:30 Uhr

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Beitrag von Frank Drescher

13 Kommentare

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  1. 13.

    Zitat: "Nun ja. Nicht alle antisemitischen Anfeindungen kommen von rechts . . ."

    Das ist sicherlich zutreffend. In diesem "Lichtenberger-Fall", der hier Thema ist, darf man aber wohl von einem deutschen Antisemiten ausgehen, da dieser laut Aussage u. a. Gäste belästigte, indem er meinte: "Er verstehe nicht, warum Deutsche hier überhaupt säßen.", Steinhart.

  2. 12.

    Es ist unglaublich, daß Bürger jüdischen Glaubens so stark angefeindet werden.

    Da muß ich aber auch sagen, daß solche Veranstaltungen in Berlin wie die Al-Kuds Demonstrationen vorm Brandenburger Tor verboten gehören, wo jüdische Haßparolen skandiert und israelische Flaggen verbrannt wurden. Und man sah genau an den veröffentlichten Fotos, welcher Herkunft die Demonstranten waren. So etwas ist doch einfach nur noch traurig.

  3. 11.

    Wie aus dem Artikel hervorgeht, konnte die Polizei nicht immer zuordnen, ob die Delikte rechtsextrem, religiös oder anderweitig ideologisch motiviert waren.

    Bitte stellen Sie keine Behauptungen auf, für die es keine Beweise gibt.

  4. 10.

    Zitat aus dem Artikel:
    "Auf die Frage, ob diese Reaktion angemessen sei, benötigte die Berliner Polizei neun Tage, um rbb|24 zu erklären: "Eine inhaltliche Beantwortung im Sinne der Fragestellung ist der Polizei Berlin mit heutigem Stand noch nicht möglich, da derzeit geprüft wird, inwieweit die rechtlichen Voraussetzungen zum Abhören der Tonaufzeichnung des Notrufgesprächs vom 23. Januar 2023 gegeben sind."

    Wie bitte?! Die Berliner Polizei teilt auf Anfrage (ziemlich verspätet) mit, dass erst "rechtlich" abgeklärt werden müsse, ob sie den Notruf an-/abhören dürfe? Datenschutz in allen Ehren - aber wenn dem tatsächlich so wie von der BP angegeben sein sollte, wäre das nicht wenig hanebüchen.

  5. 8.

    Gab es seit '45 je eine Regierung die sich 'intensiv" um die antisemitischen Verbrechen kümmerte? Die Antwort gefällt nur den Tätern. Egal welcher Herkunft oder Hautfarbe. Und Täter in Staats- 'Dienst" sind das größte Problem dabei. In Behörden oder Parlament. Es gibt genug Demokraten, aber die verlieren immer mehr das Vertrauen. Gewollt?

  6. 7.

    Antisemitismus ist immer ein Gradmesser für Dummheit, wo auch immer auf der Welt.

  7. 6.

    "Ich schäme mich für unsere Polizei. Die Sensibilität auf dem rechten Auge scheint mir stark eingeschränkt."

    Nun ja.
    Nicht alle antisemitischen Anfeindungen kommen von rechts, wie jüngst ein Vorfall im Berliner Fußball bestätigte.
    Es gibt also keinen Grund, sich für unsere Polizei zu schämen.

  8. 5.

    Im übrigen habe ich schon Jüdisches Zentrum besucht in Reinikendorf U 6 bis nach Alt Tegel und ich glaube der Bus 220 war es aber man kann auch laufen ist etwa 10 Minuten zu Fuß.
    Wir sind aufgeschlossen anderen Kulturen gegenüber und leben Eber lieber Live so wünsche noch schönen Abend der Community

  9. 4.

    Ich schäme mich für unsere Polizei. Die Sensibilität auf dem rechten Auge scheint mir stark eingeschränkt.

  10. 3.

    Ich bin traurig. Es sind wunderbare Menschen. Warum hört nicht dieser Hass auf? Nicht zu erklären.

  11. 2.

    Kurze Verständnisfrage: Sind Sie der "Teichert", der sich in den rbb-Kommentarspalten regelmäßig rechtsextrem äußert und Werbung für die afd macht? Falls nicht, sollten Sie Ihren Nickname vielleicht überdenken, damit es nicht zu Verwechslungen kommt.

  12. 1.

    Ich bin zwar mit keiner Jüdin verheiratet aber mit einer Ausländerin ähnliche Erfahrungen haben wir in dieser Richtung in der Zeit als Exilberliner erlebt,als wir in Oberkrämer wohnten nicht ich sondern meine Frau wurde oft beleidigt und angefeindet.
    Mit ein Grund das wir wieder nach Berlin gezogen sind.

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