Mutmaßliche Kolonial- und NS-Opfer
Auf dem Campus der FU Berlin wurden tausende Knochen entdeckt. Sie werden dem früheren Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, Erblehre und Eugenik zugeordnet. Ohne Wissen über die Opfer werden die Knochen am Donnerstag beigesetzt. Von Lena Petersen
Hinter der Universitätsbibliothek auf dem Gelände der Freien Universität Berlin liegt eine Rasenfläche. Daneben kündigen sich in einem Kiesbeet erste Osterglocken an. Genau hier wurden 2015 und 2016 tierische und menschliche Knochenteile aus der Erde geholt. Schon ein Jahr zuvor waren Bauarbeiter zufällig auf Knochen gestoßen. Der erste Fund wurde aber nie ausreichend untersucht, weil die Knochen routinemäßig verbrannt wurden.
Der Präsident der Freien Universität Berlin, Günter M. Ziegler, sieht den Fehler dafür nicht bei der FU: "Es gab damals sehr unglückliche Abstimmungslücken, die eben dazu geführt haben, dass damals die Gerichtsmedizin die Einäscherung der Knochen und der Funde veranlasst hat, ohne dass wir als Freie Universität davon informiert waren."
Nach einem öffentlichen Aufschrei gab es zielgerichtete weitere Grabungen von einem Archäologen-Team der FU. Das konnte etwa 16.000 Knochensplitter und -teile aus dem Boden sichern. Ein Teil der Überreste ließ sich Kaninchen und Ratten zuordnen, die als Versuchstiere genutzt wurden - aber auch menschliche Knochen waren darunter.
In unmittelbarer Nähe des Fundortes liegt die Ihnestraße 22. Diese Adresse ist eng mit dem Konzentrationslager Auschwitz und menschenverachtenden sogenannten Rassenuntersuchungen verbunden. Darauf weist heute eine Tafel am Gebäude hin.
Hier saß von 1927 bis 1945 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. In diesem Haus wurde die Zwillingsforschung von Josef Mengele geplant. Hier wurden im Namen der Wissenschaft Organe von selektierten und ermordeten Häftlingen untersucht.
Der Knochenfund geht mit größter Sicherheit auf dieses Haus zurück, sagt Günter M. Ziegler. "Das sind alles Knochen, die aus dem Kontext dieses Kaiser-Wilhelm-Instituts stammen, die zum großen Teil sicher aus den sogenannten völkerkundlichen Sammlungen stammen, die also auch Knochen aus Kolonialverbrechen enthalten, die aber wohl auch Knochen aus Grabräubereien um den Globus herum enthalten können." Ob auch Knochenfragmente dabei seien, die auf Nazi-Verbrechen zurückgehen, sei nicht mit Sicherheit zu sagen. Keines der Opfer, so Ziegler, konnte namentlich identifiziert werden.
Genau aus diesem Grund fordert ein Kreis von Forscher:innen, die Knochen intensiver zu untersuchen. Sie hatten sich nach der Entdeckung der Knochen in der internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel getroffen, um Empfehlungen zum Umgang mit diesen und weiteren Funden zu entwickeln. Zu ihnen gehört auch die Professorin für Pädiatrie Sabine Hildebrandt. Sie forscht unter anderem an der Harvard Medical School in Boston zur Medizingeschichte der Anatomie im "Dritten Reich".
Weitere Untersuchungen hält sie für essenziell, um mehr über die Opfer herausfinden und ihre Biografien rekonstruieren zu können. "Es geht um die Würdigung des einzelnen Menschen und der verfolgten Menschengruppe und es geht um die Erinnerung an die Geschichte des Unrechts und die Implikationen für die Gegenwart."
Die FU Berlin sei den Empfehlungen nicht gefolgt. Ein geplantes Geschichtsprojekt, das bald über die Gräueltaten in der Ihnestraße 22 aufklären soll, geht Hildebrandt nicht weit genug. Gemeinsam mit Historiker:innen spricht sich die Medizinerin dafür aus, das gesamte Gebäude in einen Gedenk- und Lehrort umzuwidmen.
Die Freie Universität Berlin, die Max-Planck-Gesellschaft als Nachfolgerin der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und das Berliner Landesdenkmalamt haben für den Umgang mit den Knochenteilen ihren eigenen Weg eingeschlagen. Am Donnerstag sollen die Gebeine auf dem Waldfriedhof in Dahlem beigesetzt werden [fu-berlin.de].
Diese Entscheidung wurde mit Gruppen potenzieller Opfer gefällt - darunter auch dem Zentralrat der Juden in Deutschland. Er teilt dem rbb schriftlich mit, "dass keine weiteren invasiven Untersuchungen der Knochen durchgeführt werden sollten. Eine Differenzierung der Knochenfunde nach bestimmten Gruppen lehnen wir dezidiert ab, da sie rassistische Methoden der Vergangenheit reproduzieren würde."
Darüber herrscht Einigkeit mit weiteren Gruppen. Die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland e.V. schreibt dem rbb, dass außerdem nicht davon auszugehen sei, dass sich Herkunft und Hintergründe je abschließend klären ließen. Davon geht auch der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma e.V. aus. Durch die Zerstörung wesentlicher Beweise bei Kriegsende sei die Aufarbeitung verhindert worden. "Es ist ein Gebot des Respekts, dass man den missbrauchten Menschen, denen die Würde abgesprochen und das Leben genommen wurde, Achtung entgegenbringt und die Erinnerung an ihr Schicksal bewahrt", so der Vorsitzende Romani Rose.
Bei der Bestattung soll es sich nach Angaben der FU Berlin um eine Zeremonie mit einem würdevollen Rahmen handeln, weder religiös noch eurozentristisch. Darauf hätten sich alle geeinigt. Die menschlichen Überreste werden gemeinsam beigesetzt - als "Opfer von Verbrechen im Namen der Wissenschaft", wie es die FU bezeichnet.
Sendung: rbbKultur, 23.03.2023, 10:00 Uhr
Beitrag von Lena Petersen
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