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Interview | Pro-Familia-Mitarbeiterin

Warum so viele Frauen in Berlin abtreiben

Die Zahlen der Schwangerschaftsabbrüche in Berlin ist im vergangenen Jahr sprunghaft angestiegen. Was die Frauen bewegt, wie sie mit ihrer Situation umgehen und was Ihnen helfen würde, berichtet Sibylle Schreiber von Pro Familia im Interview.

rbb|24: Frau Schreiber, die Zahlen der Schwangerschaftsabbrüche in Berlin sind erheblich angestiegen im vergangenen Jahr. Aus welchen Gründen brechen Frauen Schwangerschaften ab? Spielen da auch neue Zukunftsängste eine Rolle?

Sibylle Schreiber: Ganz genau wissen wir nicht, warum sich Frauen für einen Abbruch ihrer Schwangerschaft entscheiden. Aber durch die Beratungspflicht müssen sie ja kommen und mit uns sprechen, da nennen viele auch ihre Gründe.

Zur Person

Sibylle Schreiber

Die meisten Frauen, die sich für einen Abbruch entscheiden, haben schon Kinder. Sie wissen also ganz genau, worauf sie sich einlassen, wenn sie das Kind bekommen. Häufig ist also eine sehr verantwortungsbewusste, rationale Entscheidung. Außerdem werden sehr häufig finanzielle Gründe genannt. Gerade hier in Berlin, wo der Dienstleistungssektor groß ist, wo viele soloselbständig sind oder Kleinstgewerben nachgehen hat es auch viel mit der Corona-Pandemie zu tun. Viele Frauen haben noch immer deshalb große finanzielle Nöte.

Ein anderer Grund, der seit Jahren schon immer wieder genannt wird, ist das Thema Wohnungsnot in Berlin. Da ist es oft so, dass es nicht unbedingt um das erste Kind geht, sondern um das zweite oder dritte. Und man muss einfach sagen, dass man mit einem durchschnittlichen Gehalt eine ausreichend große Wohnung in Berlin nicht mehr finanzieren kann.

Hinzu kommt, dass zuletzt auch viele geflüchtete Frauen aus der Ukraine zu uns gekommen sind. Welche Frau entscheidet sich für ein Kind, wenn sie auf der Flucht ist und das Kind in einer Flüchtlingsunterkunft bekäme?

Die Frauen, die zum Beratungsgespräch zu Ihnen kommen, müssen nicht zwangsläufig über Ihre Beweggründe mit Ihnen sprechen?

Genau, die Frauen müssen nicht begründen, warum sie einen Schwangerschaftsabbruch erwägen. Aber es kommt manchmal trotzdem zu intensiveren Beratungsgesprächen, in denen die Frauen ihre Gründe ganz offen thematisieren.

Sie haben gesagt, dass viele der Frauen von finanziellen Nöten sprechen und auch die Wohnungssituation konkret ansprechen. Ist das neu?

Dass so oft finanzielle Gründe angeführt werden, ist neu - und wir können das vielfach, wie schon erwähnt, mit der Pandemie in Zusammenhang bringen. Da waren vor allen Dingen Frauen in prekären Beschäftigungsverhältnissen betroffen oder Frauen, die durch ihre ersten kleineren Kinder unglaublich belastet waren. Die Wohnungsnot ist schon seit ein paar Jahren ein Thema – es verstärkt sich aber weiter.

Mehr als 10.000 Abbrüche gab es 2022. Wie kommt es zu so vielen ungewollten Schwangerschaften? Verhüten die Frauen nicht?

Die meisten der Frauen haben verhütet. Es ist aber noch immer zu wenig bekannt, dass kein Verhütungsmittel hundertprozentig sicher ist. Da fehlt es an Wissen. Hinzu kommt, dass die sichersten Verhütungsmittel die teuersten sind. Da gibt es einen ganz klaren Zusammenhang von finanziellen Mitteln und Verhütung.

Welche Frauen kommen zu Ihnen – handelt es sich um einen Querschnitt durch die Bevölkerung?

Ja, denn jede Frau kann ungewollt schwanger werden. Das gehört zum Leben dazu. Die meisten Frauen, die zu uns kommen, haben schon ein oder mehrere Kinder und sind im gebärfähigen Alter. Es sind nur wenige ganz junge Frauen dabei, die ungewollt schwanger geworden sind.

Kommen nach Berlin dann auch Polinnen, die in Polen nicht abtreiben lassen dürfen?

Ja. Für die Frauen ist es verhältnismäßig leicht, nach Berlin zu kommen. Es gibt auch Netzwerke in Polen, die die Frauen dabei unterstützen. Aber es kommen nicht nur Frauen aus Polen. Es kommen auch Frauen aus anderen deutschen Bundesländern zum Abbruch nach Berlin. Man muss sich vor Augen führen, dass die Versorgungssituation in Berlin deutlich besser ist als in vielen anderen Bundesländern. Dass die Frauen kommen, liegt aber nicht nur an der Versorgung, sondern auch daran, dass Berlin eine große und recht anonyme Stadt ist. Da das ganze Thema Abtreibung immer noch sehr tabuisiert ist und sich viele Frauen schämen, gehen sie davon aus, hier nicht erkannt zu werden.

22 Prozent mehr als im Vorjahr

Deutlich mehr Schwangerschaftsabbrüche in Berlin

Gibt es noch mehr Gründe, warum Frauen zum Abbruch nach Berlin kommen?

Berlin hat ein sehr gutes Angebot, was den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch betrifft. Der wird in anderen Bundesländern gar nicht so breit angeboten. Das ist eine Methode, die weniger invasiv und kostengünstiger ist. Denn ein Schwangerschaftsabbruch kann ja auch sehr teuer sein. Das können sich nicht alle Frauen einfach so leisten.

Von welchen Summen reden wir da?

Ein Schwangerschaftsabbruch kann bis zu 1.000 Euro kosten. Er wird nicht von der Krankenkasse getragen. Es handelt sich um eine Privatleistung. Frauen, die unter eine bestimmte Einkommensgrenze fallen, können die Finanzierung bei ihrer Krankenkasse jedoch beantragen. Dann übernimmt das Land gegebenenfalls die Kosten.

Ich würde gern noch mal auf die mehr als 10.000 nun für 2022 gemeldeten Abbrüche kommen. Da sind nur die Frauen eingeflossen, die ihren Wohnsitz in Berlin haben, oder?

Ja, aber man muss sich da auch überlegen, wie lange und wie dauerhaft beispielsweise ukrainische Frauen diesen Wohnsitz schon in Berlin haben.

Hat Sie die hohe Zahl der Abtreibungen überrascht?

Nein. Gerade Krisensituationen wie die Pandemie oder jetzt der Krieg in Europa haben immer Auswirkungen auf die Entscheidungen, die Frauen treffen. Besonders im Hinblick darauf, ob sie sich in der Situation zutrauen, ein Kind gut versorgen zu können.

Kann es auch einen Zusammenhang mit der Abschaffung des Werbeverbots für Abtreibungen für Ärzte geben? Sind die Frauen also vielleicht einfach besser informiert?

Da sehe ich keinen Zusammenhang. Viele Ärzt:innen haben das trotzdem noch immer nicht auf Ihre Website geschrieben, weil sie befürchten, von Abtreibungsgegnern angegriffen zu werden. Dadurch, dass Schwangerschaftsabbrüche immer noch tabuisiert und kriminalisiert werden, hat es durch die Abschaffung des Werbeverbots keine große Verbesserung gegeben.

Sie haben die Tabuisierung des Themas schon mehrfach angesprochen...

Ja. Die Tabuisierung ist immer noch sehr groß. Dabei erwägen die meisten Frauen unheimlich verantwortungsvoll, ob sie eine Schwangerschaft behalten und das Kind austragen wollen. Ich finde es richtig, dass die Frauen diese Entscheidung treffen dürfen – und nicht der potenzielle Vater die finale Entscheidung fällen darf. Denn am Ende geht es um das Leben der Frau und um ihren Körper. Man muss sich nur mal anschauen, wie viele Frauen gerade in Berlin alleinerziehend sind und was das bedeutet. Es heißt nämlich, arm zu sein. Kaum eine Frau, die wir in der Beratung antreffen bei uns, macht sich diese Entscheidung leicht. Wegen der Tabuisierung des Themas haben sehr viele der Frauen aber Angst, für diese Entscheidung beschimpft zu werden. Dabei sollte den Frauen Anerkennung und Respekt dafür gezollt werden, eine so schwere Entscheidung getroffen zu haben.

Sie bei Pro Familia machen ja auch die Schwangerschafts-Konfliktberatung, nach der Frauen dann straffrei abtreiben können. Sind Ihnen da Frauen besonders in Erinnerung geblieben?

Nein, dafür sind es zu viele Frauen mit zu vielen unterschiedlichen Schicksalen. Was mir immer wieder leid tut, ist aber die Angst der Frauen, sich zu öffnen und sich anderen Menschen anzuvertrauen. Oft ist der Partner die einzige Person, die von der Schwangerschaft und dem Abbruch weiß. Das finde ich schlimm, dass viele Frauen sich nicht einmal trauen, mit ihrer besten Freundin darüber zu sprechen. Sie sind dann so allein damit.

Was müsste passieren, damit weniger Abbrüche stattfänden?

Ganz einfach: Es müsste kostenlose Verhütungsmittel geben. Für alle. Das würde wirklich helfen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Sabine Priess.

Sendung: rbb24 Inforadio, 31.03.2023, 13 Uhr

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