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Quelle: dpa/C.Sandig

Kinderkuren

Gewalt an verschickten Kindern - wer übernimmt Verantwortung dafür?

Krankenkassen und Politik sehen sich gegenseitig dafür zuständig, dass Kindern während Kuren vermutlich millionenfach Gewalt angetan wurde. Eine Kasse machte nun den Anfang und stellt sich ihrer Vergangenheit. Von Anna Bordel

Dass es ihm so nah gehen würde, diese Geschichte zu erzählen, hätte Harald Blank nicht gedacht. Er sitzt in seiner Wohnung in Reinickendorf und weint, ein Mann von 62 Jahren. Als Kind wurde er zur Kur nach Bad Salzdetfurth in Niedersachsen geschickt, damals war er acht Jahre alt. An viel erinnert er sich nicht, aber an diese eine Episode noch ganz genau, wie er einem rbb-Reporter erzählt.

Eine der Erzieherinnen machte mitten in der Nacht das Licht im Kinderschlafsaal an, alle wachten auf. Sie schlug die Bettdecke von Harald Blank zur Seite, er hatte ins Bett gemacht. Die anderen Kinder, so erzählt er es, haben sich genommen, was sie zu fassen kriegten - Hosenträger, Kissen, irgendwas - und begannen auf den Achtjährigen einzuprügeln. Das ist der Moment in dem Blank beim Erzählen die Stimme versagt.

DAK stellt Studie vor

Mit dem, was er erlebt hat, ist er nicht allein. Mittlerweile gilt es als gesichert, dass Kinder in Verschickungsheimen in ganz Deutschland misshandelt wurden. Wer dafür heute die Verantwortung trägt und wer für die Aufklärung, dessen, was und in welchem Umfang passiert ist, zuständig ist, ist noch nicht geklärt. Einige Krankenkassen sind zwar offen für das Thema, warten aber auf ein klares Signal der Politik, um mit der Aufarbeitung zu beginnen.

Die Krankenkasse DAK-Gesundheit hat einen Anfang gemacht und eine Forschungsstudie zu dem schwarzen Ausschnitt der eigenen Geschichte zwischen den 1950er und 1990er Jahren in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse zeigen Alltagsstrukturen durchdrungen von Gewalt, die weit in die deutsche Geschichte zurückreichen.

Psychische und körperliche Gewalt in Kurheimen

Öffentliche Demütigungen, Bestrafung durch Einsperren oder Ohrfeigen, Trennung von Geschwistern und Freunden, kollektive Toilettenbesuche, nächtliche Toilettenverbote, Zensur der Briefe nach Hause, willkürliche Verabreichung von Medikamenten, sexueller Missbrauch - die Liste der Missstände in deutschen Kinderkurheimen, die durch viele Zeitzeugenberichte bestätigt sind, ist lang. In Foren meldeten sich in den letzten Jahren Zehntausende Betroffene zu Wort und erzählten ihre Geschichte - viele berichten von lebenslangen Traumata.

Bis zu zehn Millionen Kinder sollen hauptsächlich zwischen 1950 und 1980 in sogenannte Kinderkuren verschickt worden sein. Wahrscheinlich ist aber, dass die wirkliche Zahl deutlich höher liegt und es die Kuren auch noch bis Ende der 80er Jahre gegeben hat, wie aus Erfahrungsberichten einiger Betroffener hervorgeht.

Studie der Uni Leipzig

Hunderttausende Kinder haben in DDR-Heimen Vernachlässigung und Missbrauch erlebt

Krankenkassen als Geldgeber für Kuren

Dass einem Kind eine Kur "gut tun" würde, hat meist der Hausarzt beschlossen. Gezahlt haben dafür dann die Krankenkassen – millionenfach. Ende April präsentierte die DAK-Gesundheit eine selbst in Auftrag gegebene Studie zu "Verschickungskindern". Demnach wurden etwa 450.000 Kinder mit der DAK auf Kur geschickt. Wie viele davon Schlimmes erlebt haben, lasse sich nicht rückblickend feststellen, so der mit der Forschungsarbeit beauftragte Historiker Hans-Walter Schmuhl. Um an der Studie teilzunehmen, hätten sich rund 100 Betroffene bei der DAK gemeldet.

Gesichert sei allerdings, dass es sich um Gewalt handele, die von der gesamten Struktur ausgegangen sei, anhand der alle Heime aufgebaut waren. Eine Struktur, die auf Erziehungsideen basiere, die bis in die Zeit vor 1945 zurückreichen, wie DAK-Vorstandschef Andreas Storm erklärte. Kinderkurheime hat es ihm zufolge schon seit 1921 gegeben. Manche Erziehungsmaßnahmen, die heute als gewaltsam gelten, seien damals nicht strafbar gewesen, so Schmuhl. Körperliche Bestrafung als Erziehungsmaßnahme beispielsweise ist erst seit dem Jahr 2000 strafbar. Andere Vorfälle wie sexueller Missbrauch waren auch damals schon im Strafgesetzbuch verankert.

Erfahrungsberichte als Quellen für Forschung

Detailliert zu erforschen, wie die Gewalt in den Alltag der Heime verflochten war, ist Jahrzehnte später schwer. Die Krankenakten müssen per Gesetz nach zehn Jahren vernichtet werden. Schriftstücke über das Geschehen in den Heimen ist kaum erhalten.

Was als verlässlichsten Quelle bleibt, sind die Erzählungen von Betroffenen. Und die öffnen sich immer mehr. So wie Harald Blank, der selbst seinen Kindern und Freunden erst kürzlich von dem Erlebten erzählt hat. Manche, wie Blank, haben Traumatisches fürs Leben erfahren, manche haben Gewaltsames nur beobachtet, aber nicht selbst erfahren, wieder andere erinnern sich an nur Gutes.

Es geht nicht nur um das, was war, es geht auch darum, was sein soll. "Sowas darf nicht noch einmal passiere", so Vorstandchef Storm. Ob Betroffene Entschädigungen erhalten sollen, müsse geklärt werden. Soweit irgend möglich müsse aufgeklärt werden, was passiert ist. Auch damit Ähnliches sich nicht wiederholt. Nicht alle Krankenkassen engagieren sich derart, um sich der eigenen Vergangenheit zu stellen wie die DAK.

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Zuständigkeit nicht geklärt

Auch regional gibt es Unterschiede dazu, wie weit die Aufklärung vorangeschritten ist. In Baden Württemberg und Nordrhein-Westfalen befassen sich Krankenkassen und Landespolitik seit Jahren damit. In Berlin und Brandenburg ist bislang eher wenig geschehen. Eine Sprecherin des Landesverbandes der Ersatzkassen Berlin/Brandenburg antwortet auf die Frage, inwiefern sich Krankenkassen in der Region mit "Verschickungskindern" befassen mit einer Gegenfrage: Wieso sollten sie?

Ein Sprecher der AOK Nordost sagt dazu, man sei schon bereit, in diverse Archive zu gehen, um einen Beitrag bei der Aufklärung zu leisten. Nur eben nicht auf eigene Initiative hin. Anschieben müsse das schon die Politik.

Bei der Frage zur Verantwortung, zeigen viele Akteure mit dem Finger auf andere: einige Krankenkassen sagen, die Politik müssen eine Aufklärungsbewegung starten. Der Berliner Senat sagte, die Krankenkassen und die Bundespolitik stünden in der Verantwortung. Das Bundesfamilienministerium sagt auf Nachfrage: "Den beteiligten Ressorts ist sehr daran gelegen, dass die wichtige Aufarbeitung der von ehemaligen 'Verschickungskindern' berichteten Geschehnisse gewährleistet wird". Man sei dafür im Austausch mit Ländern und Kommunen.

Schwierig Täter zu benennen

Im Fall der DDR kommt noch eine weitere Schwierigkeit hinzu. Die damalige Sozialversicherung, die damalige staatliche Krankenversicherung, gibt es nicht. Rechtsnachfolger sind die zuständigen bundesdeutschen Träger geworden, wo wir wieder bei den gesetzlichen Krankenkassen wären.

Wer den Startschuss unter den Akteuren zu einer gemeinsamen Aufarbeitung gibt und ob der überhaupt kommen wird, ist ungewiss. Und auch, ob dies Betroffene wie Harald Blank erlöst. Hinter der Frage, wer verantwortlich ist, verbirgt sich auch die Frage nach den Tätern. Für Historiker Schmuhl sind das nicht einzelne Personen, sondern das System, in dem militärische Umgangsformen verankert waren. Für Harald Blank schon. "Die Kinder, die auf mich eingedroschen haben, die waren ja selbst noch Kinder", sagt er. Ihnen hätte er heute nichts zu sagen. Aber dem Personal schon. Von den Erzieherinnen hätte er sich mehr Mitgefühl gewünscht damals.

Sendung: rbb24 Abendschau, 26.04.2023, 19:30 Uhr

Beitrag von Anna Bordel

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