Obstbaukolonie "Eden" vor 100 Jahren
Raus aufs Land und Selbstversorger werden: Vor hundert Jahren war das auch schon angesagt. Zum Beispiel in der Obstbaumkolonie "Eden" in Oranienburg, deren Siedler sich den Vegetarismus auf die Fahnen geschrieben hatten. Von Matthias Schirmer
Ostern 1923. In der Zeitung ist unter anderem zu lesen, dass die Zahl der Berliner Kleingärtner sprunghaft angestiegen ist, denn Garten, gesundes Grün und selbstangebautes Gemüse sind im Trend. Dazu trägt auch die Inflation mit ihren galoppierenden Lebensmittelpreisen bei.
Und wer mal raus will aus der Berliner Mietskaserne dritter Hinterhof, der kauft sich für 250 Mark die Samstagsausgabe der SPD-Zeitung "Vorwärts". Dort gibt es auch regelmäßig sozialistisch-korrekte Ausflugstipps für Proletarier. Die Empfehlung am 21. April lautet: "Märkische Obstbaumblüte" in der Oranienburger Obstbaumkolonie "Eden".
Diese Kolonie war 1893 von einem Berliner Freundeskreis um den Unternehmer Bruno Wilhelmi gegründet worden – und zwar in einer Gaststätte in Moabit. Die Vegetarier aus der Hauptstadt kauften sich eine ziemlich unfruchtbare Schafweide mit S-Bahnanschluss zur Stadt und legten 80 Gärten an. Ursprünglich 125 Hektar groß wuchs das Gelände in der Folgezeit beträchtlich – heute ist die Siedlung ein Stadtteil Oranienburgs.
"Im Paradies herrscht Frieden", schrieb Gründer Wilhelmi zur Eröffnung: "Lassen wir zunächst den Tiermord. In einen Garten wollen wir unseren Acker verwandeln, der alle Sinne entzückt. […] Gesundheit, erworben und erhalten durch reine Nahrung, Betätigung im Freien, Pflege des Körpers mit Hilfe von Licht, Luft und Wasser, Sorgenlosigkeit als Folge unserer leicht befriedigten, geringen körperlichen Bedürfnisse."
Aus Sicht mancher "Vorwärts"-Leser war das ein wenig Idealismus zu viel, denn nicht jedem Arbeiter war nach Margarine und Vollkornbrot. Das galt nicht nur in den Hungerjahren des Ersten Weltkriegs und der jungen Republik, das hatte schon in der Gründerzeit, also noch unter dem Kaiser gegolten. Wer es 1923 noch mit dem alten August Bebel hielt, hatte dessen Diktum im Ohr: Fleischverzicht sei etwas für Reiche, für Leute, die sich aus freien Stücken dazu entschieden hätten: "Für die zahlreichen Menschen, die gezwungen als Vegetarianer leben, wäre zeitweilig ein solides Beefsteak, eine gute Hammelkeule entschieden eine Verbesserung."
Das gesündere Leben habe schon immer einen gewissen "Luxus der Askese" geatmet, sagt die Historikerin Florentine Fritzen. Sie hat sich in ihrer Doktorarbeit mit "Eden" und den Entwicklungslinien bis ins Heute hinein beschäftigt.
Der radikale Vegetarismus war von Anfang an eine Gegenbewegung: Er wollte der Mainstream-Nahrung etwas anderes, besseres, gesünderes entgegensetzen. Damals entstanden auch in anderen Teilen Deutschlands Vegetarier-Siedlungen, in Berlin und Umgebung blieb "Eden" aber eine Ausnahme.
Die ersten Edener Kolonisten und "Vegetarianer" aus Berlin waren übrigens Männer - im Kaiserreich war die gesamte vegetarische Bewegung stark männlich geprägt, sagt Fritzen. Einerseits lag das daran, dass Männer einfach grundsätzlich immer im Vordergrund standen, sagt die Historikerin. "Es gibt aber auch eine Theorie, dass Männer sich in einer bestimmten Lebensphase sehr für den Vegetarismus interessierten und später dann auch wieder davon abrückten, wenn sie gesetteled waren und eigene Familie hatten. Das war für sie so eine Art Prozess der Identitätsfindung."
In Oranienburg hieß das für die Männer in der Gründungsphase erstmal: mit Pferdeäpfeln von den Straßen Berlins jahrelang den sandigen Boden veredeln. Der Erfolg blieb nicht aus: Bald brachten Obstbäume, Erdbeerfelder und Sträucher mehr Ertrag als die Siedler für den Eigenverbrauch benötigten. Eine kleine Obst- und Gemüseverarbeitung entstand – vermarktet über Wochenmärkte und die neuen "Reformhäuser".
Für die Lagerung erfand ein Edener übrigens neue Riesentanks für Fruchtsaft – eine technische Herausforderung wegen der Säuren. Und ein anderes Produkt mit Edener Logo und eroberte sich seinen Markt: die Edener Pflanzenbutter, Margarine.
"Lebensreformbewegung" nennt sich die Vielzahl der Gruppen und Vereine, die Ende des 19. Jahrhunderts entstanden. Sie alle wollten das "Morsche" und "Überkommene" schon im Kaiserreich überwinden. Die einen lehnten privaten Grundbesitz ab, die anderen kämpften gegen enggeschnürte Korsetts, die nächsten forderten nudistische Freikörperkultur. Wieder andere schwärmten für Fleischverzicht. Viele dieser Ideen fanden sich auch in Eden wieder.
30 Jahre nach Gründung waren die Reformbewegungen teilweise in die neue republikanische Gesellschaft eingesickert – gleichzeitig war aber auch Pragmatismus eingekehrt.
Denn 1923 brauchte die Obstbaumkolonie echte Siedler, die hart arbeiten, ihr eigenes Haus dort bauen und Felder beackern wollten. Von den reichen Vegetariern aus Berlin standen dafür nur wenige zur Verfügung. Der radikale Vegetarismus in der Satzung schreckte aber viele neue Bewerber ab. Notgedrungen hatte die Kolonie ihr einstiges Statut deshalb Anfang der 1920er liberalisiert: Tierhaltung war 1923 wieder erlaubt.
Frische Luft, viel Bewegung und die Ernährung mit frischem Obst und Gemüse taten den Menschen in der Kolonie offenbar gut. In Zeiten hoher Kindersterblichkeit hatte "Eden" eine gute Bilanz aufzuweisen, wie Mitbegründer Franz Oppenheimer Ende der 1920er Jahre schrieb: "Während zur Zeit der Gründung von je hundert in Deutschland geborenen Kindern vierundzwanzig im ersten Lebensjahre starben, und es aller öffentlichen Hygiene nur glückte, diese Unglückszahl bis zum Kriege auf 18 Prozent herabzudrücken, betrug die durchschnittliche Säuglingssterblichkeit in Eden während der ganzen Zeit nur 3,8 Prozent."
Zu den frühen Edenern gehörte übrigens der Führer der Bodenreformbewegung Adolf von Damaschke. Er sorgte mit dafür, dass die neue Weimarer Verfassung im Artikel 155 den Missbrauch von Bodeneigentum staatlicher Überwachung unterwarf. Bodennutzung stand nun unter dem Verfassungsziel, für gesunde Wohnungen, speziell für kinderreiche Familien zu sorgen. Dafür wurde sogar Enteignung möglich.
Die SPD-Zeitung „Vorwärts“ hatte im April 1923 ein bestimmtes Motiv, zu einem Wochenend-Ausflug ausgerechnet nach Eden aufzurufen: Die Menschen sollten sich direkt an der Quelle mit Obst und Gemüse eindecken, denn das Jahr 1923 war aufgrund der Hyperinflation das Jahr der großen Schiebereien.
Viele Bauern verkauften ihre Erzeugnisse unter der Hand an Großhändler. Schieber, die aus rasant steigenden Preisen besonders hohe Profite schlagen wollten, fuhren über Land. Auch in Eden versuchten sie es – und bissen offenbar auf Granit. Voll Bewunderung beschreibt der "Vorwärts", wie "einer der Herren Schieberiche" in Eden zum doppelten Preis die gesamte Erdbeerernte“ aufkaufen wollte. "Die guten Edener ließen sich aber hierauf nicht ein".
Der freundliche Geist von "Eden" lässt sich auch heute noch jeden Sonntag im Museum der Kolonie entdecken, das es schon zu DDR-Zeiten gab. Geführt wird es von einem gebürtigen Edener, der die historische Sammlung gern zeigt und die Geschichte Edens erzählt. [eden-ausstellung, externer Link]
Die Siedlungsgemeinschaft in Oranienburg gibt es noch heute, samt Verpflichtung zum Gärtnern. Die alten Häuser sind weiter bewohnt, aber die eigene kommerzielle Fruchtverarbeitung gehört weitestgehend der Vergangenheit an. Edens Erdbeeren, Kirschen und Birnen hatten Renommee: Die Marke "Eden" für Säfte, Marmeladen und Fruchtmuse gibt es heute wie damals im Reformhaus – allerdings wurden die Namensrechte nach dem Zusammenbruch der DDR verkauft. Wo also heute "Eden" draufsteht – das kommt woanders her.
Sendung: rbb24 Inforadio, 09.04.2023, 08:33 Uhr
Beitrag von Matthias Schirmer
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