Geschlechtsidentität und Genderforschung
Dora Richter war die erste Person, die eine vollständige Geschlechtsangleichung erfahren hat. Ihr Weg als Patientin ist gut dokumentiert. Wer sie war, ist hingegen weitestgehend unklar. Ihre Spur verwischt vor 90 Jahren in Berlin. Von Oliver Noffke
Dieser Text basiert auf historischen Quellen. Einige enthalten Begriffe oder Anreden, die heute wissenschaftlich überholt sind oder als abwertend verstanden werden. Sie zeugen von einer gewissen Sprachlosigkeit zu Beginn der Forschung über Transgeschlechtlichkeit. Diese Begriffe sowie der Geburtsname von Dora Richter werden hier genannt und im Kontext der beschriebenen Zeit betrachtet. Sie stellen keine Wertungen dar.
Es gibt da diesen Moment, wenn ein Puzzle beginnt, sein Bild zu zeigen. Die Ränder sind schon fertig, der Rahmen steht. Die auffälligeren Teile liegen mehr oder weniger richtig beieinander. Doch die Flächen sind noch leer. Es wird deutlich, was die Einzelstücke ergeben, aber das Gesamtbild ist noch lange nicht klar. Clara Hartmann arbeitet an so einem Puzzle.
"Was mich fasziniert, ist frühe trans* Geschichte, weil das einfach ein Bereich ist, wo es noch viele Leerstellen gibt. Und lange, lange Zeit sehr wenig geforscht wurde", sagt sie. Clara sammelt Biografien von trans* Personen und Bücher zu Intergeschlechtlichkeit. Über die Jahre sei so eine Bibliothek von etwa eintausend Büchern entstanden. Es ist keine bloße Sammelleidenschaft. Wenn Puzzleteile fehlen, recherchiert Hartmann penibel und präsentiert ihre Funde auf ihrer Website, der Lili-Elbe-Bibliothek - benannt nach einer der bekanntesten trans* Frauen der Geschichte [lili-elbe.de].
Im April hat Hartmann ein verschollenes Teilchen öffentlich gemacht. Es ist ein womöglich einzigartiger Eintrag im Taufbuch der böhmischen Ortschaft Seifen, heute Ryzovna. "Wegen angeborener Intersexualität – festgestellt am Institut für Sexualwissenschaft Berlin […] erhielt Rudolf Richter, geb. am 16.4.1892, vom Landespräsidenten in Prag die Erlaubnis zur Änderung des Vornamens." Sie dürfe sich nun Dora Rudolfine nennen. Der Geburtsname wurde durchgestrichen.
Dora Richter war die erste trans* Person, die eine vollständige operative Geschlechtsangleichung erfahren hat. Ihr Weg als Patientin ist relativ gut dokumentiert. Wer sie war, was sie mochte, wie sie lebte, was also die Person Dora Richter ausgemacht hat – all das ist weitestgehend unbekannt. "Ich möchte mehr von ihrem gesamten Leben sichtbar machen", so Hartmann, "um erzählen zu können, wer sie war und was aus ihr geworden ist."
Intersexualität, wie es damals genannt wurde, als Begründung für die Namensänderung war ein Trick. Intergeschlechtliche Menschen wurden bei der Geburt lange Zeit als entweder männlich oder weiblich bestimmt. Irrtümer waren häufig. Wollten Betroffene diese später im Leben zurechtrücken, stellten sich Ämter selten quer. Am Berliner Institut für Sexualwissenschaft wusste man das.
Tatsächlich zweifelte wohl weder zu Doras Geburt irgendjemand an ihrem biologischen Geschlecht, noch zu einem späteren Zeitpunkt in ihrem Leben. Die Eltern Josef und Antonia hatten das Kind Rudolf genannt. Dora war nicht intersexuell, sondern transgeschlechtlich.
Es existieren nur wenige Bilder von Dora. Eines zeigt sie am Klöppelsack sitzend, in der linken Hand eine der spitzen Spulen, mit der rechten scheint sie das Muster der Spitze zu prüfen. Es entstand, als sie am Institut für Sexualwissenschaft angestellt war, das sich in einer Villa in der Beethovenstraße am Tiergarten befand.
Hier störte sich niemand, wenn sie Frauenkleider trug oder kein Interesse an typischen Männerberufen zeigte. Dora war eine von mehreren trans* Personen, die die Mitarbeitenden versorgten und im Haushalt alles am Laufen hielten. Magnus Hirschfeld, der das Institut 1919 gegründet hatte, nannte sie liebevoll "Dorchen".
Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte Hirschfeld in Berlin praktiziert, zu sexueller wie geschlechtlicher Diversität geforscht und Schriften veröffentlicht. Die Metropole war ihm dafür ein idealer Ort. Es existierte eine vielschichtige Subkultur homosexueller Männer und Frauen - weitestgehend natürlich außerhalb des Blickfelds der Mehrheitsgesellschaft. Innerhalb dieser geschlossenen Kreise und geschützt durch die Anonymität, bot die Großstadt eine relative Freizügigkeit. In Hirschfelds Augen gab es keine zweite Stadt in Europa, die diesbezüglich mit Berlin mithalten konnte.
Zudem fungierten die Universitäten der Stadt, insbesondere die Charité, als Keimzellen für neue medizinische Gesellschaften. Diese beschäftigten sich mit der Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten; mit Methoden der Geburtenkontrolle; humanistischen Idealen in der Wissenschaft; oder den Rechten von Müttern.
Nach dem Ende des "Großen Kriegs" erhielt Hirschfeld schließlich die Erlaubnis, ein Institut zu gründen. Er stellte Ärzte und Psychologen ein, die sexuell übertragbare Krankheiten behandelten oder Therapiestunden für Paare anboten. Für vieles, zu dem am Institut geforscht wurde, fehlte Hirschfeld und seinen Mitstreitern lange das treffende Vokabular - oder die Vorstellungskraft. Deutlich wird dies aus heutiger Sicht insbesondere beim Thema Transgeschlechtlichkeit.
Wenn Menschen in ihrer Erscheinung oder ihrem Verhalten von dem abwichen, was allgemein als weiblich oder männlich akzeptiert worden war, wurde am Institut von Transvestiten gesprochen. Ein Begriff, der wortwörtlich nur an der Oberfläche kratzt. Er setzt sich aus den lateinischen Worten trans (hinüber) und vestire (kleiden) zusammen. Der Begriff beschreibt also weder das Sexualverhalten, noch geht es um die Sicht auf das eigene Geschlecht.
"Als Hirschfeld diesen Begriff Transvestit 1910 prägte, haben sich nicht wenige trans* Personen dagegen gewandt", sagt Medizinhistoriker Rainer Herrn. Hirschfeld habe einen "erotischen Verkleidungstrieb" erkennen wollen, erklärt Herrn. Daran habe es umgehend Fundamentalkritik gegeben. "Es gab dann die, die sagten: 'Wir verkleiden uns nicht. Wir ziehen uns unserem Geschlechtsempfinden gemäß an.'" Transgeschlechtlichkeit, wie wir sie heute verstehen, habe Hirschfelds Fantasie gesprengt. "Dora ist die Person, die Hirschfeld umgestimmt hat."
Herrn hat die Geschichte des Instituts sorgsam recherchiert und seine Erkenntnisse als Buch veröffentlicht. Der Titel - "Der Liebe und dem Leid" - geht auf einen Spruch an der Fassade der Villa zurück: amori et dolori sacrum - "der Liebe und dem Leid geweiht". Der damals bereits weltberühmte Arzt und Sexualforscher Magnus Hirschfeld wollte einen Ort schaffen, an dem nicht nur geforscht, gelehrt und geheilt werden konnte. Er sollte queeren Menschen eine Zuflucht verheißen.
Im Juli 1933 sprach Hirschfeld mit der französischen Illustrierten "Voilà" über geschlechtsangleichende Operationen: "Am Anfang war ich stark gegen diese Methode, die ich zum einen für sehr gefährlich und zum anderen für unnötig hielt." Er habe seine Meinung allerdings geändert, nachdem ein Mensch namens Rudolf Richter ans Institut gekommen war. "Als er mit 25 Jahren zu uns kam, erklärte er, dass er bereit wäre, seinem Leben ein Ende zu setzen, wenn man seinem Verlangen nach Feminisierung nicht nachgebe." Wer eine derart große Not verspüre, könne nicht nur ein harmloses Lustgefühl durch Verkleiden suchen, erkannte Hirschfeld.
1923 ließ sich Dora nach intensiven Bitten im Institut für Sexualwissenschaft kastrieren. Ihr Operateur war davon überzeugt, dass die Behandlung damit abgeschlossen sein würde. Der Blick auf die Vielfalt der Geschlechter weitete sich am Institut erst in den Jahren darauf. Maßgeblich vorangetrieben durch den Mediziner Felix Abraham, der die sogenannte Transvestitenberatung anbot. Geschlechtsangleichungen waren für ihn eine Art von "Notoperationen", "notwendig, um die Patienten vor schlimmeren, eigenmächtigen Eingriffen zu bewahren".
Abraham war klar, es ging vielen transgeschlechtlichen Menschen nicht nur darum, ihr zugeschriebenes Geschlecht abzulegen. Sie wollten mit den Merkmalen des von ihnen empfundenen Geschlechts leben.
Acht Jahre nach der ersten OP wurde Dora der Penis amputiert. "Die hat richtig darum gekämpft", sagt Herrn. Im Juni darauf war sie am Urban-Krankenhaus in Berlin-Kreuzberg in Behandlung. Dort formte ihr der Chirurg Erwin Gohrbandt die Neovagina – eine künstliche Scheide. Eine Sensation, aber kein Einzelfall.
Kurz nach Dora wurde bei der Malerin Toni Ebel die vollständige operative Geschlechtsangleichung abgeschlossen. Es folgten die Berliner Violinistin Charlotte Curtis Charlaque und Lili Elbe, die als Danish Girl weltweite Bekanntheit erlangte. Elbe verstarb allerdings im September 1931 in der Dresdner Frauenklinik. Hirschfeld glaubte, dass dies eine Folge der Operationen gewesen war, der sich Elbe dort unterzogen hatte. Sie waren weitaus invasiver als das, was die drei Berlinerinnen erlebten. Unter anderem wurden Elbe Eierstöcke transplantiert.
Insgesamt fanden all diese Behandlungen in einer Art Grauzone statt. Durchgeführt zu einer Zeit, als die Medizin im Umbruch steckte. Fortschritte in der modernen Hygienelehre führten zu bahnbrechenden Erkenntnissen in der Chirurgie. Der Forschungsstand zur genauen Funktionsweise von Hormonen war hingegen weitestgehend rudimentär. Erst 1935 wurde zum Beispiel dem männlichen Sexualhormon der Name Testosteron zugewiesen.
Einige der damaligen Therapieansätze wirken aus heutiger Sicht wie Laborexperimente – insbesondere, wenn es um kosmetische Angleichungen ging. Radiologen versuchten etwa mit Röntgenstrahlen den Bartwuchs zu stoppen, was zu Strahlenvergiftungen führte.
Das Verhältnis zwischen Patient*innen und Medizinern sei durchaus kompliziert gewesen, sagt Rainer Herrn. "Die haben unglaublich viel in Kauf genommen und ihre Ärzte auch unter Druck gesetzt." Etwa indem sie die Ausweglosigkeit, die sie empfanden, betonten. Die Ärzte wiederum seien aber keinesfalls Opfer gewesen. Im Gegenteil: "Die haben natürlich medizinisches Neuland gewittert, mit dem man Prestige gewinnen konnte."
Hirschfeld war früh bewusst, dass sich in Deutschland ein Sturm zusammenbraute. 1930 ging er auf eine internationale Vortragsreise, von der er nie nach Berlin zurückkehrte. Bevor die Nazis die Macht übernahmen, versuchte er sein Dorchen als Haushälterin an ein dänisches Paar in Jütland zu vermitteln. Doch der Versuch scheiterte, das Paar hatte Angst aufzufliegen.
Anschließend verlieren sich die Puzzleteile ihrer Biografie. Dora ging zurück nach Berlin und hielt sich dort im Frühjahr nach der Machtübernahme auf. Wahrscheinlich um am Institut für Sexualwissenschaft zu arbeiten. Einer Legende zufolge soll sie mit ausgebreiteten Armen vor der Villa in der Beethovenstraße gestanden haben, als Nazischläger zu plündern begannen. Bestätigen lässt sich das nicht.
Seit diesem Tag, dem 6. Mai 1933, gilt Dora als verschollen. Dass ihr Name im Taufbuch angepasst wurde, hat sie womöglich nie erfahren. Auf dem Vermerk steht: "Pfarramt Seifen, den 16. Jänner 1946".
"Ich hätte Dora gerne kennengelernt", sagt Medizinhistoriker Rainer Herrn. "Was ich super spannend finde, ist, dass Dora ein Mädchen aus einem böhmischen Dorf war. Das war keine großstädtische Pflanze, die die ganze sexuelle Vielfalt tagtäglich vor Augen bekommen hat. Sie war vielmehr eine richtige Landpomeranze, die ganz früh das Gefühl verspürte, eine Frau zu sein." Trotz dieser Voraussetzungen habe Dora es geschafft, als erster Mensch überhaupt eine Geschlechtsangleichung zu erleben. "Das ist eine Form von Selbstverwirklichung, die meine höchste Anerkennung hat."
Clara Hartmann, die die private Lili-Elbe-Bibliothek betreibt, möchte weitere Puzzleteile aufspüren. "Ist sie auch Opfer geworden? Ist sie weggegangen? Hat sie irgendwo im Exil überleben können?", fragt Hartmann. Sie hofft, eine an sich simple Frage aufklären zu können: Was wurde aus Dora? Das sei wichtig, sagt sie. "Weil Dora eine Pionierin ist."
Beitrag von Oliver Noffke
Artikel im mobilen Angebot lesen