Wenig Forschung, kaum Therapien
Über Krankheiten wie Long Covid und ME/CFS ist bisher nicht viel bekannt - auch weil es zu Therapieansätzen für Fatigue-Patienten seit Jahrzehnten kaum Forschung gibt. Patienten fordern, dass sich das ändert. Von Roberto Jurkschat
Seit eineinhalb Jahren kann Regina Peters* ihre Beine nicht mehr bewegen. Genauer gesagt, sie könnte es vielleicht. Sie könnte sich aufrichten und versuchen ohne Hilfe unter die Dusche zu gehen. Aber das hätte schwere Folgen, sagt sie. "Ich würde Herzrasen kriegen, total fertig sein und dann wochenlang nur noch liegen können."
Seit ihrer Corona-Infektion im Herbst 2021 sitzt Regina Peters im Rollstuhl. Vorher war die Berlinerin gesund, hatte keine Beschwerden, war berufstätig. Weil ihre Corona-Infektion eine schwere Nervenerkrankung nach sich zog, ist sie arbeitsunfähig. Gespräche länger als fünf Minuten strengen sie an. Die Fenster zu ihrer Wohnung hat sie abgedunkelt, weil sie die Helligkeit nicht mehr verträgt. Ihr ganzes Leben, sagt sie im Gesrpäch mit rbb|24, sei auf einen engen Raum zusammengeschrumpft.
Aus Long Covid hat sich bei Regina Peters eine schwere Form des Chronischen Fatigue-Syndroms entwickelt. Abgekürzt wird die Krankheit mit "ME/CFS" - für "Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom".
Bereits vor der Pandemie waren laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) schätzungsweise 400.000 Erwachsene, Kinder und Jugendliche in Deutschland von ME/CFS betroffen, 2021 erfasste die KBV schon 500.000 Erkrankte.
Als Folge der Pandemie wird von einem weiteren Anstieg der Betroffenenzahl ausgegangen - wie stark der ausfällt, ist schwer zu sagen. Nach Angaben des Zentralintituts der Kassenärztlichen Vereinigung (ZI) waren zwischen Anfang 2021 und Mitte 2022 bundesweit 886.000 Patienten mit Post-Covid-Symptomen in Behandlung, gut möglich ist aber, dass es hier eine größere Dunkelziffer gibt.
Wenn sich Beschwerden von Long Covid länger als drei Monate hinziehen, spricht man von Post Covid. Jedoch wird häufig Long Covid als Oberbegriff für alle Langzeitfolgen nach einer Corona-Infektion verwendet.
Die Liste der Long-Covid-Beschwerden ist lang, nicht alle Patienten erleben denselben Verlauf. Die Symptome können den ganzen Körper betreffen und sich auch in psychischen Problemen wie Depressionen oder Angstzuständen äußern. Die meisten Patienten haben jedoch einige Symptome gemeinsam: Sie leiden unter einer großen Erschöpfung, auch Fatigue genannt. Sie sind nicht mehr belastbar, haben Schwierigkeiten sich zu konzentrieren und klagen über Kurzatmigkeit.
Ein kleiner Teil der Post-Covid-Patientinnen und Patienten entwickelt zudem ME/CFS. Das ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die auch nach anderen, eigentlichen harmlosen Infektionskrankheiten auftreten kann. In der Zeit vor der Pandemie wurde ME/CFS etwa durch das Epstein-Barr-Virus oder durch Grippeviren ausgelöst.
Das Leben der Erkrankten reduziert sich vor allem in schweren Fällen auf einen minimalen Aktionsradius. Regina Peters drückt es so aus: "Wenn ich meine Grenzen überschreite, crashe ich." 'Crashen', damit meint sie, dass sie vor Erschöpfung nur noch im Bett liegen kann. Mal erholt sie sich nach zwei Tagen, manchmal erst nach zwei Wochen. Regina Peters muss ihren Spielraum in kleinen Schritten immer wieder neu abmessen. "Man hat irgendwann auch Angst vor dem Zusammenbrechen danach. Das ist ein dauerhaftes Leben weit unter den Möglichkeiten, die man vorher hatte."
ME/CFS wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bereits 1969 als neuroimmunologische Krankheit anerkannt. Die "Patientenvereinigung Deutsche Gesellschaft für ME/CFS" kritisiert, dass die Erkrankung dennoch - trotz ihrer Häufigkeit und Schwere - vom Gesundheitssystem jahrzehntelang stark vernachlässigt und missverstanden worden sei. Es fließe kaum Geld in die Forschung, es sei deshalb wenig darüber bekannt, was die Krankheit auslöst - und vor allem, welche Therapien den Betroffenen helfen.
Die Initiative ME-Hilfe [me-hilfe.de] hatte am vergangenen Freitag vor dem Bundeskanzleramt in Berlin eine Protestaktion organisiert, bei der Betroffene und Angehörige auf ausgeklappten Liegen gegen die aus ihrer Sicht "desaströse Versorgung" von Betroffenen und das fehlende Bewusstsein für die Situation der Patienten protestieren konnten. "Es geht um Anerkennung dieses Problems, das von der Politik nicht gesehen wird", sagt Grit Buggenhagen vom Verein ME-Hilfe.
Buggenhagen ist überzeugt, dass es eine hohe Dunkelziffer gibt, weil sie als Betroffene selbst erlebt hat, dass es bis zur Diagnose von ME/CFS ein langer Weg ist. "Wir beobachten das Problem bei ME-CFS schon seit Jahrzehnten: Die Krankheit ist nicht sehr bekannt, deshalb haben viele Patienten endlose Odysseen hinter sich, von Arzt zu Arzt, von einer Fehldiagnose zur nächsten." Noch immer führe die Krankheit ein Schattendasein in der Medizin und werde oft als psychosomatisch abgetan, möglicherweise auch weil viele Patienten Frauen seien, vermutet sie.
Auf Forschungs- und Wissenslücken im Bereich ME/CFS weist auch die Leiterin der Immundefekt-Ambulanz an der Berliner Charité, Carmen Scheibenbogen, hin. Die therapeutische Expertise unter Medizinern sei oft unzureichend, heißt es in einer Stellungnahme der Immunologin für den Deutschen Bundestag. Betroffene würden zum Teil in eine psychosomatische Reha geschickt, wo man sie durch "Aktivierung" behandele. Dadurch verschlechtere sich Zustand der Patientinnen und Patienten allerdings häufig. Laut Scheibenbogen sind derzeit nur symptomorientierte Behandlungen von ME/CFS möglich, der volkswirtschaftliche Schaden sei hoch.
Im Post-Covid-Fatigue Centrum der Charité werden Betroffene je nach Symptomatik durch "Pacing" (engl. pace = Tempo) behandelt, eine Methode die in den 1980er Jahren entwickelt wurde und die das Überschreiten der individuellen Belastungsgrenze und eine Symptomverschlechterung verhindern soll.
Die ME/CFS-Sprechstunde der Charité in Berlin bietet Termine zur Immundiagnostik für Patienten aus Berlin und Brandenburg an, die an häufigen Infekten leiden, eine weitere Anlaufstelle liegt in München. Darüber hinaus sind der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS nach eigenen Angaben keine Häuser bekannt, die eine Diagnose oder Behandlung von ME/CFS-Kranken anbieten und sich intensiv mit dem Krankheitsbild auseinandersetzen.
In Brandenburg gibt es mittlerweile zwei spezielle Long-Covid-Ambulanzen, eine in Treuenbrietzen (Potsdam-Mittelmark) und eine in Neuruppin (Ostprignitz-Ruppin). Martin Spielhagen, der Geschäftsführer der Neurologischen Fachkliniken in Beelitz (Potsdam-Mittelmark), sagt, die Politik sollte nachsteuern und mehr Anlaufstellen schaffen.
Spielhagen gehört zu den Initiatoren des Netzwerks DiReNa: Diagnostik, Rehabilitation und Nachsorge, das sich im April 2022 gegründet hat. Auf der Internet-Plattform des Netzwerks [direna.de] wird Covid-Patient:innen Beratung und Betreuung vermittelt.
Immunologin Carmen Scheibenbogen hat der Bundesregierung gemeinsam mit anderen Expert:innen in einer Anhörung Anfang Mai empfohlen, die Forschung zu Long Covid und ME/CFS langfristig finanziell zu fördern.
Die erkrankte Regina Peters wünscht sich, dass Post Covid und ME/CFS schon im Medizinstudium eine größere Rolle spielen. "Aber auch Ärzte, die ihr Studium schon absolviert haben, sollten unbedingt aufgeklärt werden", sagt sie. Allerdings sei es mit einer besseren Diagnostik noch nicht getan. Regina Peters sagt, Betroffenen mit einem schweren Verlauf werde von Krankenkassen selten die nötige Pflegestufe zugesprochen. Auch bei dem Grad der Behinderung für die Ewerbsminderungsrente gebe es Probleme.
Um darauf aufmerksam zu machen, wollte sie am Protest vor dem Kanzleramt teilnehmen, sagt Peters. "Das müssen sie sich mal vorstellen", sagt sie am Telefon. "Wir kommen für eine Stunde nach Berlin weil es nötig ist und nicht anders geht. Aber viele von uns werden sich davon wochenlang nicht erholen."
*Name von der Redaktion geändert
Sendung: rbb24 Inforadio, 12.05.2023, 14:30 Uhr
Beitrag von Roberto Jurkschat
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