Mangelnder Opferschutz in Brandenburg
Nach einer Vergewaltigung braucht das Opfer Schutz - dafür gibt es gesetzliche Empfehlungen. Die werden in Brandenburg nicht immer angewendet, wie die Mutter einer 16-Jährigen erfahren musste, die nach einer Feier vergewaltigt wurde. Von Ute Barthel
Eine Sommernacht im August 2022 in einem Ort bei Berlin. Anja L.* wacht auf, als ihre 16-jährige Tochter Mia* von einem Fest in Berlin nach Hause kommt. Normalerweise schaut Mia kurz bei den Eltern herein. Aber dieses Mal stürmt das Mädchen sofort in ihr Zimmer. Kurz darauf klopft ihre Schwester ans Schlafzimmer der Eltern. "Sie hat gesagt: Da stimmt was nicht. Mia weint und hat ihr Kleid verkehrt herum an. Da ist was passiert", erinnert sich die Mutter.
Erst will Mia nicht erzählen, was vorgefallen ist. Aber dann bricht es doch aus ihr heraus: Sie sei auf dem Heimweg von einem Mann vergewaltigt worden.
"Ich habe meinen Mann geweckt und sofort die Polizei gerufen. Dabei habe ich immer meine Tochter im Arm gehabt und versucht, sie zu trösten", erzählt die Mutter im Interview mit dem rbb.
Die Polizei ist schnell da. Nach einer ersten Befragung fährt die Familie zur Spurensicherung ins Klinikum Ernst von Bergmann (EVB) nach Potsdam. Die Spuren der Vergewaltigung sollen gesichert werden. Doch in dieser Nacht hat ein männlicher Gynäkologe Dienst. "Ich habe ihm erklärt, dass unsere Tochter noch nie gynäkologisch untersucht wurde und ich jetzt nach einer Vergewaltigung es garantiert nicht zulassen werde, dass sie von einem Mann untersucht wird", sagt Anja L.
Weil die Mutter nicht nachgibt, springt schließlich eine Assistenzärztin ein. Eigentlich soll nur erfahrenes Personal mit Facharztexpertise diese Untersuchung und die Dokumentation vornehmen. Denn das Ergebnis muss letztlich als Beweismittel vor Gericht standhalten.
Das Klinikum Ernst von Bergmann ist eines von sechs Krankenhäusern in Brandenburg, die seit 2014 im Rahmen eines Modellprojektes medizinische Soforthilfe und die vertrauliche Spurensicherung nach einer Vergewaltigung anbieten. Außerdem ist das noch im St.-Josef-Krankenhaus in Potsdam, im Carl-Thiem-Klinikum in Cottbus, dem Klinikum Frankfurt (Oder), dem Städtischen Klinikum in Brandenburg an der Havel und den Ruppiner Kliniken in Neuruppin möglich.
Dass aber Tag und Nacht eine weibliche Ärztin mit der notwendigen Expertise Dienst hat, kann niemand garantieren, erklärt die Chefärztin der Frauenklinik am EVB, Dorothea Fischer. "Das würde von unserem Dienstplan her gar nicht gehen. Das würde bedeuten, dass wir deutlich mehr Fachärztinnen oder Oberärztinnen im Team haben müssten, die das dann leisten können."
Für die Spurensicherung sei eine gewisse Erfahrung wichtig. Deshalb würde das Team auch besonders geschult. Wenn unerfahrene Ärztinnen oder Ärzte Spuren übersehen oder nicht dokumentieren, sei das schlecht für das Opfer, sagt die Chefärztin. "Es ist ein absolutes Dilemma. Ich würde mir wünschen, dass wir in Deutschland die Möglichkeit hätten, weiblichen Opfern immer eine Ärztin zur Seite zu stellen, die eine extrem gute Expertise hat." Doch dafür fehlen Geld und Mitarbeiterinnen.
In der Strafprozessordnung heißt es in § 81d, dass dem Wunsch, die Untersuchung von einer gleichgeschlechtlichen Person durchführen zu lassen, möglichst entsprochen werden soll. Aber einen Rechtsanspruch darauf gibt es nicht. Die Opferschutzorganisation Weißer Ring fordert deshalb, dass aus der unverbindlichen Regelung eine Verpflichtung wird.
Das Brandenburger Modellprojekt hat also Lücken. Ministeriumssprecher Gabriel Hesse kündigt an, dass das Kliniknetz erweitert werden soll: Auch ambulante Ärztinnen sollen einbezogen werden. Aber das sei erst mittelfristig geplant.
Brandenburg ist nicht das einzige Land, in dem die Regelung aus der Strafprozessordnung nicht verbindlich umgesetzt wird. Bislang, so das Ergebnis einer bundesweiten Umfrage von rbb24 Recherche, ist dieser Standard in keinem Bundesland etabliert.
Die Spurensicherung bei Mia im Ernst-von-Bergmann-Klinikum dauert eineinhalb Stunden. Inzwischen ist es früh um acht, erzählt Anja L. Ein Polizist fragt, ob sich das Mädchen jetzt noch zur Vernehmung bei der Kripo in der Lage fühle. Die Mutter sagt zu, besteht aber auf einer Vernehmungsbeamtin. Der Polizist reagiert unwirsch: "Er sagte wortwörtlich zu mir: 'Hören Sie mal zu, junge Frau. Das ist ja kein Wunschkonzert. Wir machen das jetzt so, wie ich das sage.'" Anja L. insistiert weiter. Schließlich befragen doch zwei Frauen bei der Kripo Mia im Beisein der Mutter.
Ein halbes Jahr später muss Mia noch einmal vor Gericht aussagen. "Man kann sich ungefähr vorstellen, was das für ein 16-jähriges Mädchen bedeutet", sagt Anja L. "Sie soll Fragen beantworten, die mit einem wahnsinnigen Trauma zu tun haben. Und das, während lauter fremde Leute, im Übrigen vorwiegend Männer, um sie herumsitzen? Das ist noch mal traumatisierend." Um dem Mädchen das zu ersparen, hatte der Anwalt der Familie schon mehrere Monate vor der Gerichtsverhandlung eine richterliche Videovernehmung beantragt. Damit soll vermieden werden, dass insbesondere minderjährige Opfer vor Gericht aussagen müssen. Aber die zuständige Richterin reagiert nicht auf den Antrag.
Auch hier lassen die Formulierungen in der Strafprozessordnung einen Ermessensspielraum. Am Ende entscheiden Richter und Staatsanwälte darüber, ob im Interesse der Opfer gehandelt wird oder nicht. Wie oft eine richterliche Videovernehmung angeordnet wird, kann das Justizministerium in Potsdam nicht sagen - das wird statistisch nicht erfasst.
Nach den Beobachtungen des Berliner Opferbeauftragtem Roland Weber wird "soweit ich es beurteilen kann, im Hinblick auf den Opferschutz diese Möglichkeit der Videovernehmung weitestgehend missachtet". Immer wieder würden sich Frauen, die in Brandenburg Opfer einer Sexualstraftat wurden, hilfesuchend an ihn wenden, sagt Weber.
In Berlin sei die Videovernehmung dagegen inzwischen gängige Praxis, die Erfahrungen damit seien sehr gut, sagt Weber: "Es geschieht nur noch selten, dass wir mit minderjährigen Opfern oder Geschädigten von Sexualstraftaten vor Gericht gehen müssen."
Auch der Verein "Opferhilfe" aus Potsdam hat die Erfahrung gemacht, dass die Videovernehmung an den Amtsgerichten in Brandenburg weniger häufig durchgeführt wird. Oft liege dies auch daran, dass Richter und Staatsanwälte für den Umgang mit Opfern von Sexualstraftaten nicht ausreichend geschult seien, sagt Katharina Göpner vom Bundesverband der Frauenberatungsstellen. Sie fordert, "dass es Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften und Gerichte geben sollte, die solche Fälle von Gewalt gegen Frauen schwerpunktmäßig bearbeiten".
Mias Vergewaltiger wird noch in der Tatnacht gefasst. Ende Januar wird er zu drei Jahren Haft verurteilt. Das Mädchen leidet noch immer unter den psychischen Folgen der Gewalttat. Sie bekommt Antidepressiva und versucht, diese Nacht zu vergessen.
Ihre Mutter hofft, dass sich die Mitarbeiter in den zuständigen Institutionen mehr in die Opfer hineinversetzen und in ihrem Sinne handeln. "Es gab ganz viele Punkte, wo es eine Kann-Situation war, wo man so oder hätte entscheiden können", sagt Anja L. am Ende des Interviews. "Es wurde aber nie im Sinne des Schutzes der Jugendlichen entschieden."
*Namen geändert
Sendung: rbb24 Inforadio, 28.06.2023, 06:00 Uhr
(1) Kann die körperliche Untersuchung das Schamgefühl verletzen, so wird sie von einer Person gleichen Geschlechts oder von einer Ärztin oder einem Arzt vorgenommen. Bei berechtigtem Interesse soll dem Wunsch, die Untersuchung einer Person oder einem Arzt bestimmten Geschlechts zu übertragen, entsprochen werden.
(1) Die Vernehmung eines Zeugen kann in Bild und Ton aufgezeichnet werden. Sie soll nach Würdigung der dafür jeweils maßgeblichen Umstände aufgezeichnet werden und als richterliche Vernehmung erfolgen, wenn
1. damit die schutzwürdigen Interessen von Personen unter 18 Jahren sowie von Personen, die als Kinder oder Jugendliche durch eine der in § 255a Absatz 2 genannten Straftaten verletzt worden sind, besser gewahrt werden können oder
2. zu besorgen ist, dass der Zeuge in der Hauptverhandlung nicht vernommen werden kann und die Aufzeichnung zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ist.
Die Vernehmung muss nach Würdigung der dafür jeweils maßgeblichen Umstände aufgezeichnet werden und als richterliche Vernehmung erfolgen, wenn damit die schutzwürdigen Interessen von Personen, die durch Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174 bis 184j des Strafgesetzbuches) verletzt worden sind, besser gewahrt werden können und der Zeuge der Bild-Ton-Aufzeichnung vor der Vernehmung zugestimmt hat.
(1) Besteht die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für das Wohl des Zeugen, wenn er in Gegenwart der in der Hauptverhandlung Anwesenden vernommen wird, so kann das Gericht anordnen, daß der Zeuge sich während der Vernehmung an einem anderen Ort aufhält; eine solche Anordnung ist auch unter den Voraussetzungen des § 251 Abs. 2 zulässig, soweit dies zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ist. Die Entscheidung ist unanfechtbar. Die Aussage wird zeitgleich in Bild und Ton in das Sitzungszimmer übertragen.
Beitrag von Ute Barthel
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