Esoterik-Trend auf Tiktok
Auf sozialen Netzwerken wie Tiktok feiern junge Menschen Kristalle und ihre vermeintliche Wirkung. Was unter Hashtags wie #crystaltok oder #witchtok erstmal schön aussieht und harmlos wirkt, kann aber auch gefährlich werden. Von Linh Tran
Man nehme: Ein bisschen Salz, drei Teelöffel Kamillenblüten, getrockneten Lavendel und einen lila Stein. Was sich fast liest wie ein Rezept, sind die Zutaten für ein Zauberglas, auch Spell Jar genannt. Ein Glas, das einen zum Beispiel beschützen soll. Wichtigstes Element: der Stein.
Ines Beriat* ist gerne mit Steinen kreativ, macht Ohrringe damit oder Ketten. Andere größere Brocken liegen auf der Fensterbank ihrer Wohnung in Berlin-Charlottenburg – neben getrockneten Blumen, Tiertotenköpfen oder Zauberbüchern.
Die 29-jährige Software-Ingenieurin versteht sich als "moderne Hexe" und interessiert sich nach eigenen Angaben seit circa einem Jahr für Kristalle, Mineralien und deren Wirkung - zumindest der Wirkung, die ihnen zugeschrieben wird. Zu ihren Favoriten zählt der Amethyst: Der sei bekannt für seine Schutzfunktion und helfe bei Angstzuständen.
Mit ihrem Glauben an die Wirkung der Steine ist Ines Beriat nicht allein. In den sozialen Netzwerken, insbesondere auf Tiktok finden sich zahlreiche Kurzvideos unter den Hashtags #witchtok und #crystaltok, also zu modernem Hexentum und Kristallen. Allein im vergangenen Jahr hatte der Hashtag #crystaltok in Deutschland 93 Millionen Views auf Tiktok. Beim Hashtag #witchtok sind es schon 275 Millionen, bei #Spirituality sogar gut 380 Millionen Views.
Junge Menschen zeigen in den Videos, welche Schmucksteine sie gekauft haben, wie sie sie angeblich energetisch aufladen, und behaupten, dass die Steine ihr Leben umgekrempelt hätten. Eine Userin mit dem Namen @yassssyyy erzählt zum Beispiel, wie sie nach dem Kauf eines Moldavit-Steins ihre beste Freundin und ihren Freund zwar verloren, dafür aber neue gefunden habe. "Der Moldavit hat die Türen geschlossen, die geschlossen werden sollten", sagt sie überzeugt in die Kamera.
Kleine bunte Steine, die bei Kopfschmerzen helfen sollen, bei Prüfungsstress, bei Liebeskummer. Menschen, die an so etwas glauben, gibt es schon länger. Neu sei die Online-Komponente, die vor allem junge Menschen anspricht, sagt Katharina Nocun. Sie ist Publizistin und hat zusammen mit ihrer Kollegin Pia Lamberty das Buch "Gefährlicher Glaube – Die radikale Gedankenwelt der Esoterik" geschrieben. "Viele Jugendliche kommen das erste Mal in Kontakt mit Esoterik über Social Media, über Tiktok, Instagram oder auch Youtube. Es gibt große Influencer, die sehr viel Geld damit machen, Coachings anbieten oder eigene Shops haben."
Wer bin ich und wer will ich sein? Welcher Job passt zu mir? Und welche Beziehung? Alles komplexe Fragen, bei denen man gerne eine einfache Antwort haben möchte. Bei esoterischen Angeboten wie auch bei dem Kauf von Mineralien gehe es oft um Selbstoptimierung und das Lösen von Problemen, erklärt Nocun. "Viele Esoterik-Anbieter bedienen eine gewisse Sehnsucht nach einem besseren, nach einem anderen Leben. Wir kennen das alle: Wir fühlen uns manchmal in unserem Leben nicht wohl. Und dann kommt die Esoterik daher und verspricht, wir machen quasi alles besser, alles neu."
Claudia Jetter beobachtet als wissenschaftliche Referentin von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) neureligiöse Bewegungen: "Wir sehen in den sozialen Medien einen Trend hin zu einer sehr individualisierten Form von esoterischen Praktiken. Die Menschen schauen auf sich und die Frage: Was dient meiner Psychohygiene? Das folgt natürlich dem allgemeinen Indiviualisierungstrend." Esoterische Gemeinschaften spielten immer weniger eine Rolle.
Auch Alexander Hoffmann hat beobachtet, dass vor allem nach Steinen gesucht wird, mit denen sich die Menschen wohlfühlen: Kristalle, die entspannen, Glück bringen oder für Sicherheit sorgen sollen. Er ist Geschäftsführer von drei Berliner Kristall-Läden und interessiert sich schon seit seiner frühen Jugend für die angebliche Kraft der Mineralien.
Er selbst habe schon eine positive Erfahrung gemacht, als ihm mit 15 Jahren ein Malachit-Stein gegen Rückenschmerzen geholfen habe, behauptet Hoffmann. Heute wisse er, dass die Kristalle so einfach nicht wirkten.
Auch rechtlich darf er nicht von "Heilsteinen" sprechen. Das würde ein Heilversprechen suggerieren und damit gegen das Heilmittelwerbegesetz verstoßen.
"Es ist ein durchaus kritischer Punkt, wenn man wild Versprechen in die Welt setzt über Steine und deren Wirkung", sagt Hoffmann. Schülerinnen und Schülern, die für eine Prüfung lernten, würde er davon abraten, sich allein auf einen Glücksstein zu verlassen, sagt er. Auch bei gesundheitlichen Beschwerden sollte man seiner Meinung nicht auf Steine setzen.
Gerade bei medizinischen Themen sei der Übergang zwischen Esoterik und Verschwörungsglaube fließend, sagt Nocun. "Esoterik-Anbieter behaupten dann, es gebe eine große Verschwörung der angeblichen Pharmalobby, und das wäre ein Grund, warum man ihre Produkte stattdessen kaufen soll. Das heißt, sobald man in diese Szene reinkommt, wird man mit sehr problematischen Ansichten konfrontiert, die auch körperlich gefährlich sein können."
Die meisten Menschen kennen wahrscheinlich jemanden, der einen Glücksbringer hat, oder freuen sich selbst über ein gefundenes vierblättriges Kleeblatt. Laut einer Umfrage von Yougov [yougov.de] in Zusammenarbeit mit Statista vom August 2021 bezeichnet sich jeder dritte Deutsche als abergläubig. Wenn man nur die Frauen fragt, sind es sogar 39 Prozent, unter den Männern 21 Prozent.
Nicht alle, die abergläubig sind, sind esoterisch. Nicht alle, die ein Faible für Esoterik haben, glauben an Verschwörungstheorien. Steine zu kaufen, wie Ines Beriat es tut, sei an sich erst einmal nicht problematisch, sagt Nocun. "Problematisch wird es, wenn Menschen ihre ganze Hoffnung darauf setzen oder vielleicht evidenzbasierte Behandlungsmethoden beispielsweise bei Krebs nicht mehr durchführen, weil sie sagen: Ich habe ja den Stein."
Die Sekteninformationsstelle Berlin sieht vorerst keinen Grund zur Annahme, dass die jungen Menschen, die dem Kristalltrend auf Tiktok folgen, vermehrt abdriften würden. Es gebe zumindest keine Zunahme von Anfragen Betroffener oder Angehörigen zu dem Thema, so Karol Küenzlen-Zieliński, Mitarbeiter der SektenInfo Berlin. Gerade in unsicheren Zeiten wie diesen, wo Pandemie, Ukraine-Krieg, Inflation aber auch Klimakrise und Moderne aufeinander träfen, seien Menschen auf der Suche nach Spirituellem – auch als Ersatz für traditionelle Religionen. Ob es wirklich gefährlich werde, müsse man individuell betrachten, sagt Küenzlen-Zieliński.
Ines Beriat sagt, sie glaube, dass ihr die Steine aus dem Kristall-Laden bei verschiedenen Intentionen eine Stütze sein könnten. Gleichzeitig würde sie bei körperlichen Beschwerden aber keinen benutzen, sagt sie.
Nocun rät dennoch, bereits früh das Gespräch mit Menschen zu suchen, die Interesse an spirituellen und esoterischen Themen zeigen. "Manche sammeln solche Steine auch, weil sie sie einfach schön finden. Wenn man aber glaubt, da würden irgendwelche Schwingungen von ausgehen und man könnte damit Menschen heilen oder verzaubern: Dann würde ich doch das Gespräch suchen und klarstellen, dass ich diese Überzeugung nicht teile und glaube, dass die Person wahrscheinlich viel zu viel Geld dafür ausgegeben hat."
*Name geändert
Sendung: rbb24 Abendschau, 07.06.2023, 19:30 Uhr
Beitrag von Linh Tran
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