Kinder mit und ohne Behinderung
Kinder haben laut UN-Kinderrechtskonvention ein Recht auf Spielen. Auf Spielplätzen in Berlin und Brandenburg erfüllt sich dieser Anspruch längst nicht für alle. Denn inklusiv sind die Plätze nur selten. Von David Donschen
Für Rudi gibt es auf dem Spielplatz unweit vom Bahnhof Wilhelmshorst in Michendorf (Landkreis Potsdam-Mittelmark) so ziemlich alles, was einem Sechsjährigen Spaß macht: Seilrutsche, Trampolin, Drehkarussell und ein Trimm-Dich-Pfad mit verschiedenen Sportgeräten stehen um den Sandkasten und das Klettergerüst herum.
Ein Wunsch bleibt für Rudi aber trotzdem unerfüllt – mit seinem Bruder Otto kann er hier nicht spielen. Denn Otto ist schwerbehindert, und wie die meisten Spielplätze in Brandenburg ist auch dieser hier in Wilhelmshorst nicht inklusiv. Während also Rudi rutscht und hüpft, ist Otto dazu gezwungen, in seinem Dreirad danebenzustehen. "Traurig" findet Rudi das. Er würde mit seinem Bruder gerne wippen und im Karussell sitzen.
Otto kam als gesundes Baby zur Welt. Einen Tag nach seinem zweiten Geburtstag wurde er krank, musste ins Krankenhaus. Er hatte das Epstein-Barr-Virus, sein Gehirn entzündete sich. Fünf Wochen lag er im Koma. Seitdem muss er gepflegt werden. Seine Koordination ist eingeschränkt, er kann nicht sprechen, hat Spastiken. Und trotzdem: Otto nimmt am Leben teil, reagiert auf Menschen, hat Freude an Bewegung – und Bewegung ist wichtig für ihn.
Inklusive Spielplätze sind so gebaut, dass Kinder mit und ohne Behinderung auf ihnen spielen können – und zwar gemeinsam. Geräte sind mit dem Rollstuhl oder einer Gehhilfe erreichbar. Auf Spielplätzen mit Sand geht das meistens nicht. Deshalb empfehlen Organisationen wie Aktion Mensch rollstuhlsicheren Bodenbelag. Daneben soll es sogenannte sensorische Bereiche geben, in denen seh- oder hörbehinderte Kinder mit ihren Händen Dinge ertasten oder über Geräusche erleben können.
"Otto mag es total, mittendrin zu sein, während andere Kinder um ihn herumspielen. Das ist für ihn das allerschönste", erzählt seine Mutter Julia Giacomelli. Doch dafür ist der Spielplatz, den sein Bruder Rudi so mag, eben nicht gebaut. Durch die intensive Pflege, die Otto braucht, könne die Familie sowieso selten etwas zu viert machen. Hier auf dem Spielplatz setzt sich das fort. Während Julia und Rudi wippen, steht Otto mit seinem Vater Niklas Ploog daneben. "Das geht uns oft so als Familie, dass wir zerrissen sind", sagt dieser.
Inklusive Spielplätze sind in Brandenburg absolute Mangelware. Eine Anfrage des rbb bei den zehn größten Städten Brandenburgs hat ergeben, dass es in keiner davon bisher einen Spielplatz gibt, der komplett inklusiv gestaltet ist. Drei Städte konnten keine Angaben machen. Die restlichen sieben Kommunen verweisen darauf, dass ein Teil der vorhandenen Spielplätze zumindest über inklusive Anteile verfüge, etwa indem Kunststoff statt Sand unter dem Klettergerüst verbaut ist.
Laut einer Studie der Aktion Mensch [aktion-mensch.de] haben gerade einmal knapp zehn Prozent der untersuchten Spielplätze in Brandenburg solche inklusiven Anteile. Dadurch würden Kinder mit Behinderungen ausgegrenzt: "Von Kindern im Rollstuhl hieß es zum Beispiel: Wenn der Kindergeburtstag auf dem Spielplatz stattfindet, dann kann ich halt nicht mit", berichtet Christina Marx von Aktion Mensch. "Das sind Sätze, die man eigentlich nicht hören möchte." Für die Studie hat die Organisation deutschlandweit 1.000 Spielplätze mit einem speziellen Kriterienkatalog überprüft.
Es gibt diverse DIN-Normen, also Richtlinien, für den Bau barrierefreier und inklusiver Spielplätze, gesetzlich vorgeschrieben ist deren Umsetzung in Deutschland allerdings nicht. Nürnberg hat als erste Großstadt 2022 konkrete Leitlinien für inklusive Spielflächen erarbeitet und will diese bei künftigen Bauprojekten konsequent umsetzen.
In Berlin gibt es solche konkreten Leitlinien nicht. Laut der Studie der Aktion Mensch hat in der Hauptstadt zwar immerhin gut jeder dritte Spielplätze Elemente wie rollstuhlgerechte Wege oder Spielgeräte für Kinder mit Behinderung. Wirklich inklusiv sind diese Spielplätze dadurch aber trotzdem häufig nicht.
Beispiel Breitenbachplatz in Dahlem: Hier gibt es eine Wippe, die mit Rollstühlen befahrbar ist. Familie Mojem kommt ab und zu her. Die jüngste Tochter Murielle hat einen schweren Herzfehler. 24 Stunden lang ist sie auf Sauerstoff angewiesen und die meiste Zeit mit ihrem Reha-Buggy samt Atemgerät unterwegs.
Mit dem Buggy fährt Mutter Cristina Mojem am Breitenbachplatz auf die Rampe, die sich auf der anderen Seite wieder senkt. Murielle hat Spaß daran, ein paar Runden jedenfalls. Dann möchte sie zu ihren beiden Geschwistern auf den richtigen Spielplatz nebenan. Der ist abgezäunt von der Rollstuhlwippe, hat einen Sandkasten und keine rollstuhlgerechten Wege. "Murielle sieht, da ist ein Spielplatz, der ist ja viel toller. Aber der ist halt nicht zugänglich. Das frustriert natürlich", sagt ihre Mutter. Damit Murielle trotzdem mit ihren Geschwistern spielen kann, zieht ihr Vater Mats den 50 Kilo schweren Kinderwagen mit dem Atemgerät durch den Sand.
"Das ist nicht Sinn der Sache", sagt auch Urban Aykal (Grüne), Bezirksstadtrat für Grünflächen in Steglitz-Zehlendorf. Exklusive Spielplätze für Kinder mit Behinderung soll es in seinem Bezirk eigentlich nicht geben. Das gemeinsame Spielen müsse möglich sein. "Früher wurde immer sehr leistungsorientiert gedacht: Wer kann hoch springen, wer schnell rutschen", erklärt Aykal. Mittlerweile sei ein neues Bewusstsein entstanden. Und trotzdem: "Bei uns im Bezirk gibt es leider immer noch nicht besonders viele Angebote für Kinder im Rollstuhl", sagt Aykal. Man bemühe sich. In der Argentinischen Allee unweit der Krummen Lanke gibt es zum Beispiel einen neuen Spielplatz mit einem Trampolin, auf dem auch ein Rollstuhl Platz findet. Außerdem würden immer mehr Nestschaukeln gebaut werden. Diese haben breite Sitzflächen, in denen Kinder mit Behinderungen auch liegen können. "Ist das zufriedenstellend? Definitiv nicht!", so Aykal.
Auf rbb-Anfrage verweist die Mehrheit der Berliner Bezirke darauf, dass die meisten Spielplätze barrierefrei zugänglich seien. Welche inklusiven Anteile es darüber hinaus gibt, ist von Bezirk zu Bezirk sehr unterschiedlich.
Murielle verbringt viel Zeit mit ihrer Mutter zu Hause. "Mittlerweile möchte sie aber raus, das verlangt sie richtig." Direkt gegenüber gibt es ein Klettergerüst samt Buddelkasten. Nur mit Mühe kommt ihre Mutter mit, wenn Murielle am Sauerstoffschlauch ihren beiden älteren Geschwister auf dem Spielplatz hinterherläuft. Ihre Tochter an der einen Hand muss Cristina den Buggy mit der Sauerstoffflasche über Schwellen heben und durch den Sand ziehen. Wenigstens eine Rollstuhlrampe für einen Holzsteg, der über den Spielplatz führt, hätten sie bauen können, findet Cristina. Sie hätten das dem Bezirk auch schon vorgeschlagen. Reagiert habe der bislang nicht.
Darauf angesprochen verspricht Stadtrat Aykal, sich das Ganze noch einmal ansehen zu wollen. "Wir haben leider nicht viele Mittel." Etwa 150.000 Euro würde im Bezirk pro Jahr für die Reparatur und das Umrüsten von Spielplätzen zur Verfügung stehen. Dazu kommen noch einmal bis zu 400.000 Euro von der Stadt aus dem Kita- und Spielplatz-Sanierungsprogramm (KSSP). Davon lasse sich ein neuer Spielplatz bauen.
In Michendorf bei der Familie mit den beiden Söhnen Rudi und Otto argumentiert die Bürgermeisterin Claudia Nowka ähnlich. Viel Geld für neue Spielplätze gebe es nicht. Nowka sagt aber auch: "Wir haben Inklusion früher einfach nicht mitgedacht." Mit einem neuen Spielplatz hinter der Feuerwehrwache von Michendorf will sie das ein Stück weit ändern: Er wird komplett inklusiv sein. Statt Sand gibt es einen Gummiboden, dazu ein Karussell, in dem sich auch Kinder mit ihrem Rollstuhl drehen können. Die Kosten für die Spielgeräte übernimmt die Initiative "Stück zum Glück", die Gemeinde bereitet die Fläche vor. Im Herbst soll alles stehen.
Julia Giacomelli kann das Argument mit dem fehlenden Geld nicht mehr hören. "Ich glaube, der politische Wille fehlt. Kinder wie Otto werden einfach nicht gesehen." Der neue Spielplatz an der Feuerwache liegt eine Stunde zu Fuß von ihrem Haus in Wilhelmshorst entfernt. Oft werden sie dort nicht hinkommen. Aber immerhin, so Vater Niklas Ploog: "Es ist ein Anfang."
Sendung: rbb24 Abendschau, 21.06.2022, 19.30 Uhr
Beitrag von David Donschen
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