Musikbranche
Die Musikbranche denkt verstärkt über Awareness auf Konzerten nach. Dabei helfen können Locations, Künstler:innen, das Publikum oder eine App. Und wer sich belästigt fühlt, sollte nach Panama fragen. Von C. Rubarth, Y. Speck und M. Ulrich
Konzerte leben vom Gemeinschaftsgefühl. Hunderte, wenn nicht gar Tausende Menschen tanzen, singen, schwitzen und kommen sich auf engstem Raum nahe. Für manche zu nahe, manche nutzen die Enge gar für Grenzüberschreitungen, für Diskriminierung.
Das Bewusstsein dafür, dass sich an einem Ort alle wohl fühlen, egal ob Frauen, queere Menschen, jeden Alters, jeder Herkunft, nennt man Awareness. In den vergangenen Wochen ist Awareness zu einem der wichtigsten Themen der Musikbranche und der Politik geworden. Doch wie groß ist die Awareness auf Konzerten in Berlin und Brandenburg?
Bisher gibt es kaum belegbare Zahlen zu Vorfällen auf Konzerten. Die Berliner Polizei sagte dem rbb auf Anfrage, sie werte solche Vorfälle nicht gesondert aus. Auch die Berliner Staatsanwaltschaft kann keine detaillierte Auskunft geben, sie liste keine entsprechenden Zahlen.
Laut einer Studie des EU-Projekts "Sexism Free Night" (Nacht ohne Sexismus) von 2020 haben aber drei Viertel der Frauen Angst vor sexualisierter Gewalt, wenn sie abends ausgehen. Und zwei von drei umstehenden Personen greifen nicht ein, weil sie oft nicht erkennen, dass Grenzen überschritten werden.
Der rbb hat die zehn größten Konzert-Locations nach ihren Awareness-Konzepten gefragt. Zwei gaben an, dass sie Maßnahmen für Awareness auf Konzerten getroffen haben. Das Olympiastadion setzt zum Beispiel Awareness-Teams ein – also Menschen, an die sich Betroffene bei Konzerten wenden können, wenn sie zum Beispiel sexualisierte Gewalt erfahren haben.
Die Columbia-Halle teilte mit, dass sie ihr Personal entsprechend geschult und Hinweisschilder für Konzertbesucher angebracht habe. Die Mercedes-Benz-Arena erwägt nach eigener Angabe, in Zukunft Awareness-Teams als Mietleistung anzubieten, wenn die Veranstaltenden das wünschen. Die übrigen sieben Veranstaltungsorte haben nicht auf die Frage geantwortet.
Einen besonderen Weg geht der Potsdamer Lindenpark. Die Security soll per App zur Hilfe gerufen werden können. Der Lindenpark ist groß. Es gibt einen Skatepark, eine Open-Air Bühne und einen Konzertsaal. Aber das Budget ist klein. Reiko Käske, der stellvertretende Leiter, hat nach einem Weg gesucht, auch mit wenig Security-Leuten Sicherheit herzustellen. Dabei ist er auf die App "Safe Now" gestoßen. Die wurde bereits am Berliner Südkreuz getestet.
Genau wie der Bahnhof ist jetzt auch der Lindenpark mit Bluetooth-Sendern ausgestattet. Drückt jemand in der App auf den Alarmknopf, erhält die Security einen Alarm und kann die Person metergenau orten. Egal, ob sie gerade in der Menge vor der Bühne ist, auf der Toilette oder im Außenbereich.
Die App ist für die Besucher:innen kostenlos und freiwillig. "Alle Menschen sollen sich hier zu jeder Zeit sicher und wohl fühlen", sagt Reiko Käske. Er will bis Ende des Jahres testen, ob die App im Lindenpark funktioniert und von den Besucher:innen angenommen wird. Start soll Mitte August zum Jugendkultur-Festival "Colorossa" sein.
Da wo Locations keine Awareness-Konzepte liefern, können Künstler:innen sie aber auch einfordern. Wenn der Berliner Rapper Savvy im Winter auf Tour geht, wird er zum ersten Mal eine Bühnenanweisung dabeihaben, wie er sagt. Darin stehe, wie sich das Security-Rersonal verhalten solle. "Es ist natürlich förderlich, wenn die Menschen, die für die Sicherheit des Publikums sorgen sollen, wissen, welche Sachen absolute No-Gos sind und wo genauer hingeschaut werden sollte", sagt Savvy. Er sehe alle Künstler:innen in der Pflicht.
Das Thema Awareness nimmt bei seiner Tourplanung viel Zeit ein. Auch von der Bühne will er etwas beitragen und macht immer wieder Ansagen. Vor einem Moshpit bittet er die Menge, diejenigen nach hinten gehen zu lassen, die keine Lust darauf haben. "Achtet aufeinander", sagt er immer wieder.
Solche Sprüche findet man auch im SO36 in Kreuzberg. "Nein heißt Nein" steht in leuchtenden Buchstaben im Saal. Der Club behält sich in seinen Verträgen das Recht vor, Konzerte von Bands abzubrechen, wenn es zu rassistischen und sexuellen Übergriffen kommt.
Das SO36 ist eine Berliner Punk-Institution. Laut, eng, chaotisch. Aber für Lilo und Nanette, die im SO36 arbeiten, soll es trotzdem auch ein Ort sein, an dem sich alle geborgen fühlen können, sagen sie. Sie versuchen daher alle, die eine unangenehme Situation erleben, zu ermutigen, dass sie sich an jeden vor Ort wenden können. Alle im Team seien ansprechbar: die Person am Tresen, am Lichtpult, an der Bar oder an der Tür.
All diese Maßnahmen und Konzepte sind freiwillig. Die Berliner Grünen wollen das ändern und fordern aktuell im Abgeordnetenhaus verpflichtende Awareness-Konzepte für Veranstaltungen mit mehr als 5.000 Gästen. "Die Politik steht in der Pflicht, Maßnahmen zu ergreifen und für Veranstaltungen Sicherheitskonzepte mit Awareness-Strukturen verpflichtend zu machen", sagt die Grünen-Politikerin Bahar Haghanipour, die auch Vizepräsidentin des Abgeordnetenhauses ist.
Es kostet stets Überwindung, sich bei Konzerten Hilfe zu suchen. Doch gegen die Hemmung gibt es einen einfachen Trick: In den meisten Locations und auf Festivals kann man das Personal einfach fragen: "Wo geht's nach Panama?" Oder einfach das Codewort "Panama" nutzen.
Das Personal versteht diesen Code sofort "Hier braucht jemand unsere Hilfe" und bringt einen in Sicherheit. In einen geschützten Raum, zu Sanitäter:innen oder einfach zu Menschen, mit denen er oder sie reden kann. Notfalls auch zur Polizei.
Sendung: rbb24 Abendschau, 17.07.2023, 19:30 Uhr
Beitrag von Christina Rubarth, Yasser Speck und Maximilian Ulrich
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