Häusliche Gewalt nimmt zu
Obwohl die Pandemie vorbei ist, steigen die Fälle häuslicher Gewalt weiter an. Berliner Beratungsstellen vermuten als Grund unter anderem, dass die Aufmerksamkeit gestiegen ist. Genaue Ursachen kennt jedoch niemand, denn Studien dazu gibt es keine. Von Jenny Barke
Leonne Marti bezeichnet sich selbst nicht gerne als Betroffene häuslicher Gewalt. Sie sei eine Überlebende. Die Odyssee der 59-Jährigen beginnt bereits in ihrer Kindheit: "Ich habe verbale Gewalt erfahren mit Beschimpfungen. Dann gab es sehr viele Prügelattacken. Es sind einfach Situationen gewesen, wo ich mich voller Vertrauen an meine Eltern gewandt habe, weil sie mich auch immer wieder aufgefordert haben, ihnen zu vertrauen. Dann wurde ich beschimpft, erniedrigt, verhöhnt, klein gemacht."
Hinzu kam sexualisierte Gewalt von ihrem Vater. "Was für mich besonders schwerwiegend ist, ist, dass meine Mutter ihn dabei noch unterstützt hat."
Mit 16 Jahren beginnt sie eine Ausbildung und kann zu den Großeltern ziehen, die in der Nähe wohnen. Sie können ihr ein kleines Stück Liebe zurückgeben, das ihr gefehlt hat, wie Leonne sagt. Aber um ihre Traumata zu verarbeiten, habe das nicht gereicht. Selbst Suizid habe sie in Erwägung gezogen. "Wenn Sie als Kind mit solchen Botschaften aufwachsen, haben Sie gar keine Chance, zu lernen. Ich hatte massive Probleme zu vertrauen, mein Selbstwert war unter der Teppichkante."
Den Kontakt zu ihren Eltern bricht Leonne schließlich ab. Doch die Gewalt endet nicht. Mit Anfang 20 ist sie verlobt, doch sie möchte die Beziehung beenden. Das Trennungsgespräch im Auto des Ex-Partners eskaliert, er will die Trennung nicht akzeptieren und gibt Gas. "Er hat die ganze Zeit davon gesprochen, dass es keinen Sinn mehr macht, wenn ich gehe. Dann kann er nicht mehr leben und wir können gleich am nächsten Betonpfeiler landen."
Dass Opfer von gewalttätigen und psychisch labilen Partnern besonders in Trennungssituationen gefährdet sind, kann auch Sama Zavaree bestätigen. Sie ist Koordinatorin bei der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen BIG e.V. Aus ihrer Praxis wisse sie, dass häusliche Gewalt oft dann passiert, wenn sich etwas an der Beziehungssituation ändert. "Wenn Schwangerschaften auftreten, Kinder hinzukommen, der Wunsch nach Scheidung besteht, das sind die gefährlichsten Situationen."
Leonne Marti konnte sich aus der lebensbedrohlichen Situation im Auto ihres Ex-Partners schließlich befreien. Sie habe sich sprichwörtlich um ihr Leben gequatscht, ihn besänftigt und später die Flucht ergriffen.
Um Opfer von partnerschaftlicher und häuslicher Gewalt in solch schweren Situationen zur Seite zu stehen, sie zu unterstützen und zu beraten, gibt es in Berlin mehrere Beratungs- und Fachstellen. Die meisten haben sich auf die Gewalt gegen Frauen spezialisiert.
Opfer gibt es jedenfalls immer mehr, wie aus dem am Dienstag vorgestellten Lagebericht für 2022 hervorgeht. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums wurden vergangenes Jahr 240.547 Opfer registriert - im Schnitt 659 Fälle täglich. Das entspricht einem Anstieg um 8,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr 2021. 71,1 Prozent der Opfer waren weiblich. Die Zahlen sollten "jeden aufrütteln", sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD).
65,6 Prozent der Opfer häuslicher Gewalt waren der offiziellen Statistik zufolge 2022 von Partnerschaftsgewalt betroffen, 34,4 Prozent von innerfamiliärer Gewalt. Die Zahl der Gewalttaten in Partnerschaften stieg im Vergleich zu 2021 um 9,4 Prozent an. Die Behörden registrierten hier laut Bundeskriminalamt (BKA) 157.550 Fälle mit 157.818 Opfern, das entspricht rund 430 Fällen pro Tag. Im Jahr davor waren es 144.044 Fälle.
Bei der Partnerschaftsgewalt waren im vergangenen Jahr 80,1 Prozent der Opfer weiblich. In 39,5 Prozent der Fälle ging die Gewalt demnach von ehemaligen Partnerinnen und Partnern aus, in 31,1 Prozent von Ehepartnerinnen und Ehepartnern, in 29,1 Prozent von Partnerinnen und Partnern nichtehelicher Lebensgemeinschaften.
Auch in Berlin sind die Fälle gestiegen: Von 15.630 Betroffenen im Jahr 2021 auf 17.263 im Jahr 2022 laut aktueller Polizeistatistik [berlin.de/PDF/download]. Die Zunahme liegt damit über dem Bundesschnitt, bei 10,4 Prozent.
In Brandenburg sind die Fälle hingegen etwa gleichgeblieben: 5.889 Betroffene im Jahr 2021 und 5.856 Betroffene im Jahr 2022 hat die Brandenburger Polizeistatistik [polizei.brandenburg.de] verzeichnet. Berücksichtigt werden in den Statistiken aber nur die zur Anzeige gebrachten Fälle.
Die Zahlen von polizeilich registrierter häuslicher Gewalt stiegen nahezu kontinuierlich an, laut BKA in den vergangenen fünf Jahren um 13 Prozent.
Dass die Fälle häuslicher Gewalt steigen, überrascht keine der befragten Fachstellen in Berlin. "Die Öffentlichkeit ist aufmerksamer geworden, es gibt mehr Aufklärungsarbeit und Anti-Gewaltprojekte", sagt Gabi Bittner, Sozialarbeiterin und Therapeutin bei der Frauenberatungsstelle "Bora e.V".
"Nicht die Zahlen sind gestiegen, sondern das öffentliche Interesse", bestätigt auch Sama Zavaree von BIG e.V. Wirklich verlässlich seien die Statistiken aber nicht, kritisiert sie. Bei BIG würden zum Beispiel die Zahlen der Anrufe erfasst, die von Betroffenen oder Angehörigen eingehen. Komme es zu Folgeanrufen, etwa, um Details zum Fall zu besprechen, würden diese Fälle gesondert ermittelt.
Die Monitoringstudie des Senats beruft sich auf die BIG-Zahlen, rechnet aber die Fälle wiederum zusammen und verfälscht damit die Ergebnisse. Nur ein Beispiel von vielen, warum Statistiken oft sehr unterschiedliche Resultate hervorbringen.
Klar ist nur: Weitaus höher dürfte laut Polizeischätzungen die Dunkelziffer liegen. Denn viele Taten würden laut BKA der Polizei nicht gemeldet, etwa aus Angst oder Scham. Einer Dunkelfeldstudie des BKA zufolge gibt es mindestens 2,5 mal so viele Betroffene, wie in Statistiken erhoben. Die Opferhilfe "Weisser Ring e.V." geht von einer Dunkelziffer von 80 Prozent aus.
Um das Dunkelfeld noch stärker zu erfassen, startet im Juli eine umfassende Dunkelfeldstudie des Bundesinnenministeriums mit dem Titel "Lebenssituation, Sicherheit und Belastung im Alltag". Deutschlandweit sollen demnach 22.000 Menschen zu Gewalterfahrungen in Paarbeziehungen sowie sexualisierter und digitaler Gewalt befragt werden; erste Ergebnisse sollen 2025 vorliegen.
In das große Dunkelfeld der partnerschaftlichen Gewalt zählen auch die Erlebnisse von Leonne Marti. Denn Hilfe holte sie sich keine, auch nicht von der Polizei. "Ich glaube, ich war einfach in so einer Schocksituation. Und es war die Scham. Wie hätte ich fremden Beamten diese Situation erklären sollen?"
Dabei sollte die lebensbedrohliche Situation im Auto ihres Ex-Verlobten nicht ihre letzte gewaltvolle Erfahrung in einer Beziehung bleiben. Zwei weitere folgten, wie sie erzählt. Der nächste Partner habe sie im Streit schlagen wollen, wieder trennte sie sich. Der dritte gewalttätige Partner habe sie psychisch misshandelt: "Dass da emotional und verbal einfach sehr wankelmütig und unklar und vor allem aber sehr respektlos und geringschätzig mit mir umgegangen wurde."
Nicht nur die Sensibilisierung der Öffentlichkeit hat dazu geführt, dass die Fälle häuslicher Gewalt gestiegen sind, wie die Berliner Fachstellen vermuten. "Ich glaube, wir haben es hier mit einem Backlash zu tun. Toxische Männlichkeit ist auf dem Vormarsch, es gibt sogenannte Männerrechtler im Netz, es wird salonfähig, Frauen zu verachten. Die Anfeindungen werden meinem Gefühl nach immer größer", sagt Sama Zavaree von BIG e.V.
Ähnlich sieht es die Geschäftsführerin des Frauenzentrums Matilde e.V. in Marzahn-Hellersdorf, Carola Kirschner: "Ich denke, die Menschen sind egoistischer geworden. Wir nehmen Gewalt ja nicht nur im häuslichen Bereich wahr, wir sehen den Umgang der Menschen generell. Der ist ellenbogenartiger geworden." Menschen, die sich abgehängter fühlen, seien dann nochmal empfindlicher.
Mehr als Vermutungen können die Expertinnen jedoch nicht anstellen. Denn es gibt kaum Studien. Eine letzte repräsentative bundesweite Erhebung über Ursachen und Gründe häuslicher und partnerschaftlicher Gewalt habe es 2014 gegeben, so Zavaree. "Die Zahlen allein müssten alarmierend genug sein, damit auf Landes- und Bundesebene mehr Studien finanziert werden." Die Kosten der Folgen häuslicher Gewalt lägen zudem um ein Vielfaches höher.
Gut finanziert fühlen sich die Einrichtungen jedoch nicht, immer wieder müssten sie um ihre Finanzierung bangen, kritisiert Carola Kirschner: "Wir als Matilde werden auch nur jährlich gefördert. Und obwohl wir das als Frauenprojekt schon so ewig fordern, kommen wir nicht in eine Regelfinanzierung oder dauerhafte Finanzierung." Jedes Jahr müsse der Verein erneut Fördergelder beantragen.
Hinzu komme die Berliner Wohnungsnot. Immer länger würden Frauen in den Schutzräumen verweilen, weil sie auf dem Berliner Wohnungsmarkt nichts finden. "Unsere durchschnittliche Verweildauer in der Zufluchtswohnung lag 2018 bei 4,7 Monaten. Jetzt liegt sie bei über 18 Monaten", sagt Kirschner. Auch die Sorge um Kürzungen im Bezirk Marzahn-Hellersdorf treibt den Verein um. Bisher finanziert Matilde wöchentlich eine Psychologin und eine Rechtsanwältin, bei Sparmaßnahmen würden diese Stellen als erstes wegfallen.
Umso mehr sind die Vereine auf Ehrenamtliche angewiesen. Leonne Marti ist eine davon, seit einigen Jahren hilft sie im Matilde e.V. mit. Eine feste Arbeitsstelle könne sie nicht mehr annehmen. Wegen ihrer jahrelangen Misshandlungen ist sie frühberentet und chronische Schmerzpatientin.
Die seelischen Schmerzen habe sie in einer fünfjährigen Psychotherapie aufgearbeitet und dadurch wieder Selbstwert gewonnen. Doch die psychischen Narben würden bleiben, auch im Kontakt mit Männern: "Ich habe immer noch große Schwierigkeiten, Vertrauen zuzulassen, Nähe zuzulassen und in der Sexualität einem Mann meine Haut anzuvertrauen."
Kraft findet sie als Künstlerin, wie sie sagt, seit vielen Jahren arbeitet sie als Dichterin, Malerin und Fotografin, stellt ihre Werke in Marzahn-Hellersdorf aus. Dass sie inzwischen im Matilde e.V. anderen gewaltbetroffenen Frauen hilft, gebe ihr Kraft. Hier schließt sich für sie der Kreis: "Es gibt mir das Gefühl, dass mein Weg nicht umsonst war. Ich darf für Frauen da sein in einer Weise, wie ich es mir gewünscht habe und nie hatte. Ich darf Zuneigung erfahren. Dieses Gesamtpaket ist unschlagbar."
Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sind Sie von einer schweren Depression betroffen? Bitte sprechen Sie mit jemanden darüber. Folgende Stellen bieten Ihnen professionelle Hilfe - anonym, kostenfrei und rund um die Uhr:
Telefonseelsorge 0800 111 0 111 [telefonseelsorge.de]
Berliner Krisendienst [berliner-krisendienst.de]
Die Online-Beratung für suizidgefährdete junge Menschen der Caritas [caritas.de]
Sendung: rbb24 Inforadio, 11.07.2023, 6 Uhr
Beitrag von Jenny Barke
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