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Video: rbb24 Abendschau | 28.07.2023 | Material: rbb24 Abendschau | Quelle: SULUPRESS.DE

Gewalt gegen "Letzte Generation"

Berliner Behörden ermitteln in 99 Fällen gegen aggressive Autofahrer und Passanten

Blockierer gegen Autofahrer: Mit dem Aufkommen der "Letzten Generation" ist das Konfliktpotenzial auf den Straßen Berlins gestiegen. Gegen Dutzende Autofahrer wird ermittelt. Doch viele Vorfälle dürften der Polizei entgehen. Von Fabian Grieger

Es ist der 15. Juli, als die "Letzte Generation" zuletzt einen ihrer Aktionstage in Berlin durchführt. Dieses Mal blockieren sie eine Ausfahrt des Großen Sterns. Ampel-Rotphase ausgenutzt, Hände angeklebt: Die Spannung, die das auslöst, ist nicht zu überhören. Erst hupen Autofahrer, viele schimpfen, dann fährt ein schwarzer BMW einen Blockierer an, um sich den Weg freizumachen.

Szenen wie diese finden sich auf diversen Videos im Netz. Viele sind noch brutaler: Festgeklebte Aktivist:innen werden von der Straße gerissen, angefahren oder geschlagen: Insgesamt konnte rbb24 Recherche in Internetvideos deutschlandweit Angriffe von mindestens 72 Personen in den letzten zwei Jahren ausmachen.

Während über die juristische Verfolgung der Aktivist:innen breit berichtet wird, stellt sich die Frage: Was passiert eigentlich mit den aggressiven Autofahrer:innen? Und: Können diese sich bei Fällen von Körperverletzung wirklich auf Notwehr berufen, wie es zuletzt einige prominente Jurist:innen in der Wochenzeitung "Die Zeit" behauptet hatten?

Klima-Aktivisten

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Keine Anzeigen von der "Letzten Generation"

rbb24 Recherche hat deutschlandweit aus 47 Städten Zahlen dazu erhalten, welche Maßnahmen die Polizei gegen aggressive Autofahrer:innen eingeleitet hat. Insgesamt werden mindestens 142 Ermittlungsverfahren wegen Übergriffen auf Anhänger:innen der "Letzten Generation" geführt. Die meisten wegen Körperverletzung.

Weitere Tatbestände sind unter anderem Nötigung und Beleidigung. Allein in Berlin – bisher Hotspot der Straßenblockaden – leitete die Polizei 99 Ermittlungsverfahren gegen Autofahrer:innen und Passant:innen ein.

Allerdings vermutet der Kriminologe Tobias Singelnstein von der Goethe-Universität in Frankfurt am Main mit Blick auf die Zahlen, dass es auch eine erhebliche Dunkelziffer gibt. Das liegt auch an der "Letzten Generation" selbst: Die Aktivist:innen zeigen in der Regel niemanden an, der ihnen gegenüber bei Blockaden gewalttätig wird.

Auch Aktivist Lukas Meyer, der in Stralsund von einem Lkw-Fahrer angefahren wurde verzichtete auf eine Anzeige: "Ich habe diesem Menschen keine schlechten Gefühle gegenüber. Seine Wut kann ich verstehen. Ich hatte aber Mitgefühl, weil er jetzt seinen Job verloren hat." Denn dem Lkw-Fahrer wurde nach dem Angriff der Führerschein entzogen.

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Erst zwei Strafbefehle in Berlin

Auch wenn es keine Anzeigen gibt, müssen Polizei oder Staatsanwaltschaft aktiv werden, wenn sie von gewalttätigen Übergriffen Kenntnis haben. "Da kommt es dann darauf an, wie schnell Polizei vor Ort ist und inwiefern diese dann auch in der Lage und willens ist, entsprechende Handlungen zu dokumentieren und Verfahren einzuleiten. Das hängt sicher immer von Fall zu Fall ab", erklärt Kriminologe Singelnstein.

Allerdings finden die meisten Angriffe auf Aktivist:innen statt, wenn die Polizei noch nicht vor Ort ist. In diesen Fällen müsste die Polizei nachträglich auf Übergriffe, die beispielsweise durch Videos in den sozialen Medien dokumentiert werden, hingewiesen werden. Doch selbst dann scheitern viele Verfahren, weil die Täter nicht identifiziert werden können.

Auch das ist ein Grund, warum die Berliner Staatsanwaltschaft trotz der zahlreichen Ermittlungsverfahren erst zwei Strafbefehle beantragt hat. In einem Fall geht es um einen Mann, der am 27. April dieses Jahres bei einer Blockade am Hermannplatz versucht hatte, die Hand eines Aktivisten mit dem Feuerzeug anzuzünden. Der zweite Angeklagte hatte am 8. Juli eine Aktivistin von der Straße gerissen, obwohl sie bereits festgeklebt war.

Doch ein Großteil der Ermittlungsverfahren ist noch nicht abgeschlossen, es ist also mit weiteren Anklagen zu rechnen.

Bisher noch kein Fall von Notwehr

Viel Hoffnung, dass die Gewalttätigkeiten als Notwehr gewertet werden, sollten sich die Beschuldigten nicht machen. Um festzustellen, ob ein körperlicher Angriff tatsächlich unter das Notwehrrecht fällt, muss zunächst geklärt werden, ob die Blockade überhaupt rechtswidrig ist. Dazu gab es unterschiedliche richterliche Entscheidungen.

Doch selbst wenn die Blockade als rechtswidrig bewertet wird, müssen weitere Fragen geklärt werden, damit das Notwehrrecht in Anspruch genommen werden kann: Wieviel Gewalt wird eingesetzt? Wie lange muss gewartet werden, bis die Polizei da ist? Kommt jemand einfach ein bisschen zu spät zur Arbeit oder verpasst er durch die Blockade die Chance, das letzte Mal seine im Sterben liegende Mutter zu sehen? Hypothetische Fragen einer juristischen Debatte.

Interessant sind die bisherigen Ergebnisse aus der Praxis: Zwar prüfe man in jedem einzelnen Fall, ob es sich um Notwehr handelte, sagt der Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft, Oberstaatsanwalt Sebastian Büchner, aber "wir haben bislang noch keine Fälle, in denen wir eine Notwehr bejaht hätten, weil alle Fälle dafür nicht geeignet waren. Insofern muss man wirklich zurückhaltend sein, bevor man meint, selbst tätig werden zu müssen".

Auf das, was in Berlin passiert, wird bundesweit geschaut, denn an keinem anderen Ort gab es so viele Blockaden – und damit auch so viele Verfahren – wie in der Hauptstadt.

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Gesellschaftliches Klima fördert Gewalt

Die Gewalttätigkeiten, wie sie nun von der Staatsanwaltschaft verfolgt würden, entstünden auch vor dem Hintergrund eines bestimmten gesellschaftlichen Klimas, gibt Kriminologe Tobias Singelnstein zu bedenken. "Ob Autofahrer ihre Wut, die sie in dieser Blockade erleben, auch in eine Tat umsetzen, das hängt auch davon ab, inwiefern sie sich dazu berechtigt sehen. Dazu tragen Teile von Politik und Medien in erheblichem Maße bei."

Beispiele dafür finden sich in großer Zahl auf Twitter. Ein CDU-Landtagsabgeordneter aus Sachsen-Anhalt kommentierte die Attacke auf Lukas Meyer mit den Worten, "nicht der Lkw-Fahrer gehört in den Knast, sondern die Chaoten", schrieb von "Ökofetischisten". Der Tweet ist mittlerweile gelöscht.

Auf kommunaler Ebene sammelte eine Wählervereinigung Spenden für den Lkw-Fahrer aus Stralsund. Ein Bundestagsabgeordneter aus dem liberalen Spektrum nannte die "Letzte Generation" auf Twitter mehrfach "Abschaum".

Die Berliner Innensenatorin Iris Spranger (SPD) sagte, Selbstjustiz und Gewalt müsse dann "leider" auch zur Rechenschaft gezogen werden. Später zog sie das "leider" zurück.

Vincent August, Leiter der Forschungsgruppe Ökologische Konflikte an der Humboldt-Universität, erkennt in den offensiv auftretenden Gegnern der "Letzten Generation" eine Akteursgruppe, die oft - aber nicht nur - aus dem konservativen Spektrum komme. Diese Gruppe nehme in der Auseinandersetzung mit der "Letzten Generation" eine bestimmte Rolle ein.

"Sie versucht, den Konflikt zu verschieben, weg vom Klimathema hin zum Vorwurf", sagt August. "Die Aktivisten stellten eine gute gesellschaftliche und staatliche Ordnung in Frage. Sich selbst kann man dann als Repräsentant und Verteidiger dieser Ordnung inszenieren. Da haben wir dann infolgedessen auch diese Rhetorik mit Begriffen wie 'Klimachaoten' oder 'Klimaterroristen'". Das Ziel sei hier – wie bei der "Letzten Generation" – eine bestimmte Eskalation des Konflikts, so Vincent August.

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Rechnung für Folgekosten von Ressourcennutzung

Die Konfliktdynamiken wirken letztlich bis in die konkrete Auseinandersetzung auf der Straße. Schon der normale Verkehr löst bei vielen Autofahrern Anspannung aus. Eine Blockade kann das verstärken. Bei denen, die dann auch gewalttätig würden, komme eine Art Überlegenheitsgefühl, sagt Konfliktforscher August.

Das entstehe zum einen physisch, weil Aktivist:innen auf dem Boden säßen und sich gegen Angriffe nicht wehrten. Dazu komme ein Gruppenzugehörigkeitsgefühl: "Wir sind die Normalen, wir stehen für die Mehrheitsgesellschaft. Die anderen sind die Kriminellen, die Chaoten. Dieses Gefühl kann dazu führen, dass man sich bestärkt sehen kann, Gewalt anzuwenden", erklärt Vincent August.

Hinter dem Konflikt auf der Straße – Blockierer gegen Autofahrer – stehe ein größerer gesellschaftlicher Konflikt, sagt er: "Im Grunde bekommt die moderne Gesellschaft die Folgekosten ihrer Ressourcennutzung in Rechnung gestellt."

Die bisherige Nutzung von Ressourcen gelangt an ihre planetaren Grenzen. Jetzt wird ausgehandelt, wie sich Wirtschaft und Gesellschaft verändern sollen und wie stark der Ressourcenverbrauch eingeschränkt wird: "Das wird nicht harmonisch werden: Was lange als gut und richtig galt, wird infrage gestellt. Das lässt niemanden kalt und provoziert Konflikte", sagt Konfliktforscher Vincent August.

Sendung: rbb24, 28.07.2023, 13:15 Uhr

Beitrag von Fabian Grieger

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