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Video: rbb24 | 05.07.2023 | Material: rbb24 Abendschau | Quelle: dpa/J.Carstensen

Interview | Forensische Psychiatrie

"Ich sehe nicht, wie der Berliner Maßregelvollzug noch gerettet werden kann"

Im Krankenhaus des Maßregelvollzugs sollen Straftäter mit psychischen Erkrankungen angemessen behandelt werden, doch die Klinik ist seit Jahren überlastet. Der Berliner Strafverteidiger Frank Zindler sagt, das Land verletze rechtsstaatliche Grundsätze.

Die Senatsverwaltung für Gesundheit hat die Überbelegung und die Personalnot im Krankenhaus des Maßregelvollzugs in den vergangenen Jahren nicht in den Griff bekommen. Das hat Folgen für die Patienten. Der Berliner Strafverteidiger und Fachanwalt für Strafrecht Frank Zindler, spricht im Interview mit rbb|24 über ein beschädigtes System.

rbb|24: Herr Zindler, im Maßregelvollzug kommt es immer wieder zu Gewaltausbrüchen, die Klinik ist seit Jahren überfüllt, es fehlen mehr als 100 Pfleger und Ärzte. Kann der Maßregelvollzug noch seinen gesetzlichen Auftrag erfüllen und die Patienten angemessen behandeln?

Frank Zindler: Nein, das ist aus objektiven Gründen unmöglich. Die vom Land Berlin selbst für den Maßregelvollzug definierten Standards werden nicht eingehalten. Seit Jahren gibt es immer mehr Patienten und immer weniger Pfleger und forensische Psychiater. Deshalb kann von einer angemessenen Behandlung der Menschen dort keine Rede sein.

Zur Person

Ich habe eine Mandantin aus dem Maßregelvollzug fünf Jahre lang vertreten. Es fielen ständig Therapiesitzungen aus, weil Therapeuten im Urlaub oder krank waren. Es gibt keine sinnvolle Belegung der Stationen, weil Menschen mit sehr unterschiedlichen psychischen Erkrankungen zusammen auf den Stationen teilweise in Mehrbettzimmern untergebracht sind. Eine sinnvolle an der Behandlung ausgerichtete Tagesstruktur ist nicht erkennbar. Die Möglichkeiten, in so einem Setting gesünder zu werden, sind ziemlich begrenzt.

Haben Sie persönlich eine Erklärung dafür, dass sich die Bedingungen im Maßregelvollzug seit Jahren immer weiter verschlechtern?

Ja, und meine Erklärung ist relativ einfach. Die Menschen im Maßregelvollzug haben keinerlei Lobby. Niemand interessiert sich für sie, niemand will für sie Geld ausgeben. Politiker können mit einem Einsatz für verurteilte Straftäter bei den Wählern kaum punkten. Was es bräuchte, wäre eine bessere Finanzierung des Systems, ein modernes Gebäude und insbesondere viel bessere personelle Ausstattung und Finanzierung. Leider ist es so, dass der Maßregelvollzug aus vielen Altbauten besteht, die auf einem großen Gelände verteilt liegen und dass das Land Berlin seine Angestellten wahnsinnig schlecht bezahlt. Der öffentliche Dienst in anderen Bundesländern zahlt deutlich besser. So ist ausreichend qualifiziertes Personal nicht zu bekommen. Es fehlt schlichtweg der politische Wille, die Zustände wirklich zu verbessern.

Der Maßregelvollzug ist im Grunde eine Psychiatrie - allerdings für Straftäter. Deshalb gibt es dort besondere Sicherheitsvorkehrungen. Gleichzeitig ist das Krankenhaus aber auch eine Entziehungsanstalt für Menschen, die zum Beispiel unter Drogeneinfluss straffällig geworden sind. Nach welchen Kriterien entscheidet ein Gericht, ob jemand im Maßregelvollzug untergebracht wird?

Das entscheidende Kriterium ist die Schuldfähigkeit im Sinne des Paragrafen 63 im Strafgesetzbuch. Wenn jemand eine Straftat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§20 StGB) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) begangen hat, dann kann er aus juristischer Sicht gegebenenfalls nicht bestraft werden, da die Schuldfähigkeit eine Tatbestandsvoraussetzung ist. In den Bereich des Maßregelvollzugs kommen wir, wenn die Einsichtsfähigkeit bei der Tatbegehung aufgehoben (schuldunfähig) bzw. die Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt (vermindert schuldfähig) war und weitere erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind.

Soweit Betäubungsmittelkonsum bzw. Suchterkrankungen zum Tatzeitpunkt hierfür ursächlich sind/waren, kommt eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gem. § 64 StGB in Betracht.

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Für die Patienten entscheidet sich mit der Frage nach einer psychischen Erkrankung auch, wie lange sie im Maßregelvollzug bleiben müssen. Wie wird die Dauer der Unterbringung festgelegt?

Die Dauer einer in der Unterbringung durchzuführenden Therapie wird bei Betäubungsmittelabhängigkeiten im Sinne des § 64 StGB vom forensisch-psychiatrischen Gutachter im Rahmen des Gerichtsverfahrens eingeschätzt. Die Unterbringungsdauer übersteigt zwei Jahre regelmäßig nicht; eine gerichtliche Überprüfung im Sechs-Monats-Turnus ist vorgesehen. Die Klinik schreibt Stellungnahmen zu dem Patienten und dessen Therapieverlauf. In aller Regel orientiert sich das Gericht an diesen fachlichen Einschätzungen und entscheidet dem folgend überwiegend im Sinne der Stellungnahme.

Im Fall psychischer Erkrankungen im Sinne des § 63 StGB ist das anders, da wird keine zeitliche Grenze der Unterbringung festgelegt. Gerichte müssen diese Fälle im Abstand von einem Jahr überprüfen und entscheiden, ob die Maßnahmen um ein weiteres Jahr verlängert werden. In den ersten drei Jahren auf Basis der Stellungnahmen der Klinik, erst danach müssen Gutachten von externen Sachverständigen hinzugezogen werden, das sind normalerweise forensische Psychiater, die auf solche Fälle spezialisiert sind.

Ein Problem ist, dass es zu wenige forensische Psychiater gibt. Das heißt, dass solche Gutachten zunehmend von nicht ausreichend qualifizierten Sachverständigen erstellt werden, die sich dann mehr oder weniger an den Stellungnahmen der Klinik orientieren. In Berlin ist es aber so, dass der Personalmangel im Maßregelvollzug oft keine fundierte Einschätzung aus der Klinik ermöglicht. Im Zweifel brauchen die Patienten dann eine Verteidigung, die bereit ist, gegen den Maßregelvollzug vorzugehen. Laut Gesetz ist eine Unterbringung im Maßregelvollzug nach sechs Jahren in der Regel nicht mehr verhältnismäßig. Längere Unterbringungen müssen auf qualifizierten Prognosen beruhen, ob ein Patient in Zukunft wirklich schwere Straftaten begehen würde.

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Was macht es mit erkrankten Menschen, lange Zeit in einem in Mehrbettzimmer zu leben, in einem überfüllten Gebäude, ohne zu wissen, wann sie da rauskommen?

Für viele ist es belastend zu wissen, dass sie auf unbestimmte Zeit untergebracht sind, anders als bei einer Haft, bei der die Verurteilten wissen, auf welches Strafmaß sie sich einstellen müssen. Im Maßregelvollzug habe ich keine Perspektive auf das Ende der Unterbringung und es gibt immer diesen Eindruck, einem übermächtigen System ausgeliefert zu sein. Noch dazu ist das therapeutische Angebot so dünn, dass viele gar keinen Sinn in der Unterbringung sehen.

Wie gelingt es den Menschen dann, so gesund zu werden, dass ein Gericht die Unterbringung beendet?

Im Maßregelvollzug hat man je nach Persönlichkeit entweder größere oder gar keine Möglichkeit rauszukommen. Wenn sie sagen, was die Ärzte hören wollen, und ihre Medikamente nehmen, haben sie eine Chance.

Wenn sie allerdings jemand sind, der eine andere Vorstellung davon hat, wie die Behandlung weitergehen soll, oder unzufrieden damit ist, jahrelang unter menschenunwürdigen Bedingungen zu leben, dann ist das schwierig. Vielen Patienten wird zum Beispiel kaum erklärt, warum sie diese oder jene Tabletten nehmen müssen, weil die Psychiater offenbar keine Zeit dafür haben. Unter den Voraussetzungen ist es de facto unmöglich, für die Patien:innen Recht zu erfahren.

Da kommen Sie als Strafverteidiger ins Spiel?

Im Maßregelvollzug haben die Patienten bei den Anhörungen vor Gericht Anspruch auf Verteidigung. Eine solche ist angesichts der vom Staat gewährten Pflichtverteidigervergütung nicht angemessen zu führen. Allein die Einarbeitung in die umfangreichen Aktenlagen, insbesondere bei lang andauernden Unterbringungen, die mehrere hunderte oder tausende Seiten haben kann, ist nicht zu gewährleisten.

In der Praxis läuft es regelmäßig so, dass Verteidiger eine halbe Stunde zu den Anhörungsterminen gehen, aber dann inhaltlich kaum etwas zu den Fällen sagen können. Deshalb sind die rechtlichen Vertretungen der Patienten häufig suboptimal, obwohl es durchaus Möglichkeiten für die Verteidigung gäbe. Zum Beispiel könnten neue Gutachten beauftragt werden, wenn es den Anschein hat, dass das Krankenhaus den Zustand des Patienten falsch einschätzt. Allersings können die Patienten die Kosten dafür meistens nicht tragen.

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Was könnte den Maßregelvollzug aus Ihrer Sicht retten?

Ich sehe nicht, dass der derzeitige Berliner Maßregelvollzug gerettet werden kann. Ich meine, wie soll das gehen? Wenn die grundlegenden Parameter: Gebäude, Ausstattung, Pflege, Therapie, Belegung, Personaldecke, alle nicht mehr die Voraussetzungen erfüllen, dann muss man einfach sagen, dass das ein gescheitertes System und Mangelverwaltung ist.

Das derzeitige System ist offenbar an möglichst geringen Kosten ausgerichtet und verfehlt ganz grundlegende humanitäre Standards und rechtsstaatliche Vorgaben.

Das Interview führte Roberto Jurkschat

Sendung: rbb24 Abendschau, 05.07.2023, 19:30 Uhr

Beitrag von Roberto Jurkschat

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