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Audio: rbb 88,8 | 05.07.2023 | Ricardo Westphal | Quelle: rbb

Krise im Berliner Maßregelvollzug

"Die Senatorin hat keine Ahnung, auf welchem Pulverfass sie sitzt"

Die Situation im überfüllten Berliner Maßregelvollzug scheint weiter außer Kontrolle zu geraten. Der Personalrat spricht von zunehmender Gewalt und sieht Hinweise, dass größere Zwischenfälle nicht gemeldet wurden. Von Roberto Jurkschat

Personalnot, mehr Gewaltmeldungen, Entlassungen instabiler Patienten: Nach Aussagen von Mitarbeitern des Maßregelvollzugs in Berlin und von Patientenbetreuern scheint die Situation in der überfüllten Psychiatrie für verurteilte Straftäter in Reinickendorf außer Kontrolle geraten zu sein.

Nach internen Zahlen sollen Meldungen körperlicher Gewalt mit psychischen Folgen für Beschäftigte im vergangenen Jahr massiv zugenommen haben.

Nach Auffassung des Personalrates gibt es jedoch Anhaltspunkte, dass Verantwortliche in der Klinik die Senatsgesundheitsverwaltung als Dienstaufsicht nicht vorschriftsmäßig über alle wichtigen Vorkommnisse informiert haben. Demnach wurden etwa im vergangenen Jahr 103 Vorfälle nicht gemeldet, die "vom beabsichtigten Betriebsablauf erheblich abweichen" und deshalb meldepflichtig seien. Unter anderem sei das nach gewalttätigen Übergriffen von Patienten gegen Beschäftigte der Fall gewesen.

Interview | Forensische Psychiatrie

"Ich sehe nicht, wie der Berliner Maßregelvollzug noch gerettet werden kann"

Im Krankenhaus des Maßregelvollzugs sollen Straftäter mit psychischen Erkrankungen angemessen behandelt werden, doch die Klinik ist seit Jahren überlastet. Der Berliner Strafverteidiger Frank Zindler sagt, das Land verletze rechtsstaatliche Grundsätze.

Ein Sprecher der Senatsverwaltung für Gesundheit betonte gegenüber rbb|24: "Eine gestiegene Zahl nicht gemeldeter Vorkommnisse ist nicht bekannt." Für die Krankenhausleitung bestehe aber "keine Veranlassung", der Dienstaufsicht solche Vorfälle vorzuenthalten.

Ein Vertreter des Personalrates* sagte rbb|24, die klinikinterne Dokumentation kritischer Vorfälle sei "lückenhaft", deshalb sei davon auszugehen, dass die Gesundheitsverwaltung nicht über das wirkliche Ausmaß der Missstände im Maßregelvollzug Bescheid wisse. "Wenn manche Ärzte im Maßregelvollzug den Eindruck erwecken wollen, dass es in ihren Bereichen geregelt zugeht, ist das für betroffene Pflegekräfte keine Hilfe", sagte der Personalratsvorsitzende rbb|24.

Der Chefarzt und Vollzugsleiter des Maßregelvollzugs, Sven Reiners, wies die Vorwürfe des Personalrates zurück. Die Aussage, Ärzte würden Vorkommnisse nicht melden oder zurückhalten sei unrichtig.

Überfüllt und unterbesetzt

Im Maßregelvollzug werden Straftäter untergebracht, die etwa aufgrund psychischer Krankheiten als nicht, oder nur vermindert schuldfähig gelten. Das Krankenhaus liegt auf einem gesicherten Gelände hinter dem U-Bahnhof Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Reinickendorf. Auf dem Areal befinden sich mehrere Altbauten, Oberärzte leiten die dortigen Abteilungen mit insgesamt 17 Stationen, hinzu kommen drei Stationen am Klinik-Standort in Berlin-Buch. Abgesehen von einer forensischen Psychiatrie ist der Maßregelvollzug auch eine Entziehungsanstalt für Straftäter, die etwa aufgrund einer Suchterkrankung nicht als schuldfähig gelten.

Beschäftigte sagten rbb|24, eine Ursache für die Probleme im Maßregelvollzug sei die chronische Überbelegung: Zuletzt wurden 606 Patienten in der Klinik behandelt, genehmigt sind nur 541 Betten. Die durchschnittliche Unterbringungsdauer von sieben Jahren verbringen die meisten Menschen zudem größtenteils in Mehrbettzimmern. Zeitweise kamen fünf Menschen in Zimmern für drei Personen unter.

Ein zweites großes Problem sei die Personalnot. Etwa jede sechste Stelle im Maßregelvollzug ist unbesetzt, zuletzt fehlten laut internen Zahlen unter anderem acht Ärzte und 97 Pflegekräfte.

Bereits vor drei Jahren hatte der Personalrat in einem offenen Brief an die Senatsgesundheitsverwaltung kritisiert, dass die Gewalt im Maßregelvollzug durch anhaltende Überbelegung und Personalmangel zunehme.

Senatorin sieht Handlungsbedarf

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Mindestens sieben verletzte Pflegekräfte in zehn Wochen

Übergriffe auf das Personal, verbale Entgleisungen oder Sachbeschädigungen dokumentieren die Beschäftigten auf den Stationen des Maßregelvollzugs zunächst als "besondere Ereignisse". In den Berichten können die Mitarbeiter vermerken, dass ein Ereignis sie psychisch belastet hat – dann erhält der Personalrat davon eine Kopie.

Wie der Personalrat erklärte, haben solche Meldungen in den vergangenen Jahren massiv zugenommen. Im Jahr 2019 wurden 138 Fälle registriert, im Jahr 2022 waren es 702 – eine Steigerung um das Fünffache.

Die Senatsverwaltung für Gesundheit betonte gegenüber rbb|24, allein aus einer Zunahme der besonderen Ereignisse lasse sich keine Zunahme von Gewalt in der Klinik ableiten, weil etwa auch verbale Konflikte als besondere Ereignisse erfasst werden.

Auf Nachfrage von rbb|24 hat der Personalrat die ihm bekannten Ereignisse aufgeschlüsselt: Hauptsächlich habe es sich um Sachbeschädigungen (122), Bedrohungen (118) und Beleidigungen (111) gehandelt. Aber auch um Körperverletzungen (94), versuchte Körperverletzungen (55), nicht näher definierte Übergriffe (33), sowie sexuelle Übergriffe auf Pflegekräfte (3).

Die gemeldeten Gewaltereignisse mit psychischen Folgen für die Beschäftigten stiegen von 2021 auf 2022 um 40 Prozent. Allein in den ersten zehn Wochen dieses Jahres wurden laut Personalrat mindestens sieben Pflegekräfte verletzt.

Zwei Pflegekräfte für 45 Patienten zuständig

Laut Berichten von Pflegekräften sollen Patienten unter anderem mit Brotmessern auf Mitarbeitende losgegangen sein, Angriffe soll es auch durch Versorgungsklappen der Isolierzimmer gegeben haben. Eine Pflegerin, die anonym bleiben möchte, sagte rbb|24: "Viele haben Angst, auf die Arbeit zu kommen. Wir haben mit so wenigen Pflegekräften bei Konflikten kaum Handlungsmöglichkeiten."

Nach Informationen von rbb|24 sollen in der Psychiatrie zeitweise zwei Pflegekräfte für bis zu 45 Patienten zuständig sein. Der Personalratsvorsitzende sagte rbb|24: "Wir fühlen uns von der Berliner Politik und der Gerichtsbarkeit im Stich gelassen." Neben einem rascheren Ausbau der Klinik und einer Personaloffensive fordert er einen größeren finanziellen Spielraum für eine bessere Versorgung der Patienten.

Das Land zahlt dem Maßregelvollzug pro Patient einen Tagessatz von 236 Euro. Das ist vergleichsweise wenig. Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen zum Beispiel zahlen Tagessätze deutlich über 300 Euro, die Stadt Hamburg 381 Euro.

Nach Aussagen von Fachkräften der psychiatrischen Versorgungslandschaft in Berlin könnte die Situation im Maßregelvollzug im schlechtesten Fall zu einem Sicherheitsproblem für die Bevölkerung werden – insbesondere, wenn Patienten die Klinik zu früh verlassen.

Vor einer Freilassung prüfen Gerichte einmal jährlich, ob die Unterbringung eines Patienten mit psychischer Erkrankung um ein weiteres Jahr verlängert wird. Vor geplanten Entlassungen verbringen Patienten eine sechs bis neun Monate lange Erprobungsphase in einer offeneren Einrichtung, wie etwa einer Wohngruppe. Zur Lockerungsphase gehören oft eine kontrollierte Medikamenteneinnahme, eine nachhaltige Therapie und das Üben von Alltagsfähigkeiten.

Betreuer beklagen Lockerung instabiler Patienten

Nach Recherchen von rbb|24 wurden Lockerungen in einigen Fällen lax gehandhabt, nach Aussagen von Fachkräften sollen zunehmend instabile Patienten mit schweren Psychosen in offenere Einrichtungen verlegt worden sein.

"Wenn Patienten nur unter hochdosierten Medikamenten einen stabilen Eindruck machen, sind Lockerungen riskant", sagte eine Psychotherapeutin* rbbl24. "Daran spürt man, es gibt einen hohen Druck, die Patienten zu verlegen. Wir kennen Patienten, die zweimal in Begleitung im Park waren und damit als erprobt galten. Die Frage ist nicht ob, sondern wann das schief geht. Die Gesundheitssenatorin weiß nicht, auf welchem Pulverfass sie sitzt."

Aus ihrer Sicht sei es "unverantwortlich", dass Menschen über mehrere Jahre unter den derzeitigen Bedingungen im Maßregelvollzug lebten. "Stell dir vor, du lebst jahrelang in einem überfüllten Mehrbettzimmer, die Menschen um dich haben schwere Psychosen. Du hast keine Privatsphäre und keine sinnvolle Beschäftigung. Auf einer Station gibt es für 40 Menschen ein Telefon auf dem Gang, die Tage haben kaum Struktur."

"Der Patientin wurde eingeredet, sie hätte keine Kinder"

Ein Sozialpädagoge*, der seit 15 Jahren Patienten aus dem Maßregelvollzug betreut, sagte rbb|24, die Klinik habe sich in den vergangenen Jahren nach seiner Einschätzung "fachlich verschlechtert".

Im Fall einer früheren Patientin sollen Ärzte im Maßregelvollzug etwa in Gutachten vermerkt haben, die Frau leide unter Schizophrenie und bilde sich deshalb ein, Kinder zu haben. "Uns kamen ihre Schilderungen der Frau sehr realistisch vor, deshalb sind wir zu der bekannten Anschrift gefahren und haben festgestellt, dass dort wirklich drei Kinder leben. Im Maßregelvollzug haben ihr die Ärzte drei Jahre lang eingeredet, sie bilde sich ihre Kinder nur ein."

Ein Sprecher der Senatsverwaltung für Gesundheit erklärte rbb|24 auf Nachfrage, der beschriebene Fall sei nicht bekannt.

Maßregelvollzug in Berlin und Brandenburg

Aufgrund von Platzmangel droht vorzeitige Entlassung von Straftätern

Im Berliner und Brandenburger Maßregelvollzug gibt es zu wenige Haftplätze, die Anstalten sind überbelegt. In Berlin mussten verurteilte Straftäter bereits vorzeitig entlassen werden, weitere könnten folgen.

"Grundlegende rechtsstaatliche Standards verfehlt"

Der Berliner Strafverteidiger und Fachanwalt für Strafrecht Frank Zindler, der bereits mehrere Mandanten aus dem Maßregelvollzug betreut hat, ist der Ansicht, es fehle "der politische Wille", die Missstände im Maßregelvollzug wirklich zu beheben. "Patienten im Maßregelvollzug haben keine Lobby. Niemand interessiert sich für sie, niemand will Geld für sie ausgeben. Politiker können damit kaum öffentlichkeitswirksame Punkte sammeln."

Seine gesetzlichen Aufgaben erfülle der Maßregelvollzug derzeit nicht, sagt Zindler. "Das ist unmöglich, aus objektiven Gründen. Das Land Berlin hat für den Maßregelvollzug Standards definiert, die nicht eigehalten werden. Das derzeitige System ist offenbar auf geringe Kosten ausgerichtet und verfehlt ganz grundlegende humanitäre und rechtsstaatliche Standards."

60 neue Plätze in Reinickendorf geplant

Die Berliner Senatorin für Gesundheit, Ina Czyborra (SPD), bekräftigte gegenüber rbb|24, das Krankenhaus des Maßregelvollzugs erfülle "selbstverständlich" seine gesetzlichen Aufgaben, "auch wenn es in Fragen der Kapazitäten und des Personals derzeit bekanntermaßen Handlungsbedarf gibt".

Zwölf zusätzliche Plätze seien Ende Mai in Betrieb genommen worden. "Wir prüfen derzeit senatsintern weitere Standorte im Berliner Stadtgebiet, die kurzfristig für weitere Betten genutzt werden können." Auch würden bekanntermaßen Erweiterungen auf dem Gelände des KMV in den Haushaltsberatungen im Abgeordnetenhaus erörtert und dann "hoffentlich" umgesetzt werden, so Czyborra.

Bis zum Jahr 2025 sollen auf dem Gelände der bestehenden Einrichtung in Reinickendorf 60 neue Vollzugsplätze entstehen.

* Die Redaktion hat die Mitarbeitenden des Maßregelvollzugs und Fachkräfte der psychiatrischen Versorgungslandschaft in Berlin für diesen Beitrag anonymisiert.

Hinweis: Dieser Beitrag wurde um eine Stellungnahme des Chefarztes und Vollzugsleiter des Krankenhauses des Maßregelvollzugs, Sven Reiners, ergänzt.

Sendung: rbb|24 Abendschau, 05.07.2023, 19:30 Uhr

Das rbb-Fernsehen sendet am Mittwoch, 05.07.2023 um 22:00 Uhr in der Sendung "Kontraste - Die Reporter" die Dokumentation "Psychiatrie hinter Gittern - Deutschlands Maßregelvollzug vor dem Kollaps" mit exklusiven Bildern aus dem Krankenhaus des Maßregelvollzugs.

Beitrag von Roberto Jurkschat

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