Serie "Bau fällig" | Ehemalige Raststätte am Berliner Grenzübergang
An der Raststätte Dreilinden schlängelten sich früher die Autos Richtung Grenzübergang vorbei. Das denkmalgeschützte rote Halbrund steht seit vielen Jahren leer - dem Eigentümer brachte es kein Glück. Von Sebastian Schneider
Der Architekt Hannes Sauer tritt in Berlin-Nikolassee gegen eine verklemmte blaue Stahltür, aber sie geht nicht auf. Sauer, braungebrannt, grauer Bart und die Sonnenbrille im Ausschnitt seines weißen Hemds, sieht aus, als sei er gerade auf dem Weg zum Segeln aufgehalten worden. Er hat das Zauntor aufgeschlossen, sich dann seinen Weg zwischen den Überresten einer zerstörten Kloschüssel gebahnt, die irgendwer aus dem Fenster geworfen hat. Jetzt steht er vor dem verwitterten Findling, der einmal die Raststätte zum Tor nach Berlin gewesen ist. "Der Stacheldraht hat auch nicht viel genutzt", brummt Sauer mit einer herrlich sonoren Stimme. Dann tritt er gegen die Eingangstür. Beim dritten Mal klappt es.
Dreilinden heißt so, weil vor dem damaligen Forsthaus drei Linden standen, das jedenfalls berichtete einst Theodor Fontane der Welt in seinen "Wanderungen durch die Mark Brandenburg". Am gleichnamigen Ort entsteht nach der Teilung Deutschlands ein Grenzübergang.
Anfang der 1970er bekommt der Architekt Rainer G. Rümmler einen Auftrag in Westberlin. Er soll einen unübersehbaren Kontrapunkt gegenüber des DDR-Abfertigungsgebäudes erschaffen. Der gebürtige Leipziger Rümmler ist dafür genau der Richtige: Der Leitende Baudirektor der Stadt hat neben vielen anderen den U-Bahnhof Fehrbelliner Platz entworfen, genannt "Bohrinsel". Man sieht grelle Bonbonfarben, viel Rund, wenig rechte Winkel - und könnte den Bau direkt neben die Raststätte an der Stadtgrenze von Berlin zur DDR versetzen. Rümmler schafft auch dort ein Stück Pop-Architektur. Sein Stil sei "nicht jedermanns Sache", stellt der damalige Bausenator fest. Rümmler ist das wurscht.
Das erdbeerrote Halbrund mit seinen meerblauen Fensterrahmen und den sonnengelben Markisen, das da in Sichtweite des berühmten Berliner Bären entsteht, ist ein architektonisches Ausrufezeichen während der deutschen Teilung. Jeder soll sehen, wie leicht und lebensbejahend der Westen die Reisenden an seinem Checkpoint Bravo abfertigt, ganz anders als der triste Osten mit seinen eckigen, fahlen Zweckbauten. So zumindest stellen es sich Rümmlers Auftraggeber vor. Alles erinnert ein bisschen an den Beatles-Zeichentrickfilm "Yellow Submarine". Das blaue Türmchen auf dem Dach könnte der U-Boot-Ausguck sein, auf diesem Meer aus rissigem Asphalt.
Im Frühjahr 1973 wird die Raststätte Dreilinden am Kontrollcheckpoint Bravo für den Transit nach Bayern oder Niedersachsen eröffnet. Der Pächter hofft, dass außer den Transit-Fahrern auch Berliner Ausflügler den Weg über die Avus zu ihm finden werden. Das Restaurant hat rund um die Uhr geöffnet. Zu jeder Tages- und Nachtzeit, verheißt es bei der Eröffnung, werde man mindestens eine warme Mahlzeit bereithalten. Vor den Fenstern stauen sich oft die Autos, am längsten an Feiertagen und zu Ferienbeginn. Dreilinden wird ein beliebter Treffpunkt für Anhalterinnen und Anhalter, vor allem Richtung Süden. "München" krakeln sie mit schwarzem Filzstift auf ihre Pappschilder, "Nürnberg", "Bamberg" oder "Stuttgart". Aber den erdbeerroten Turm neben der Autobahn beachten nur wenige.
Drinnen drückt Hannes Sauer jetzt vergeblich die Lichtschalter. Es bleibt duster, nur schmale Lichtspalte unter den verrammelten Fenstern künden vom Tag. Alte Leuchtröhren hängen nutzlos an den Decken der gebogenen Flure. Man hört den Verkehr der Autobahn in voller Pracht vorbeidonnern, weil kaum eine Scheibe heilgeblieben ist.
In einer Sitznische im ersten Stock steht eine Tanne, auf dem Tisch prangen dekorativ die Überreste eines Sixpacks Bier - vielleicht hat hier jemand Heiligabend gefeiert. Auch eine Disko sollte mal hier rein. Man hätte halt nur immer jemanden gebraucht, der fährt. Den Ort erreicht man nur mit dem Auto oder Rad, bis zur nächsten Bushaltestelle muss man den Hang hochdackeln. Über die verwaiste Straße des alten Kontrollpunkts im Wald.
Schon ein paar Jahre nach der Eröffnung geht der Pächter pleite und muss schließen. Als die Raststätte geplant wurde, wartete man meist noch quälend lange an der Berliner Stadtgrenze. Aber 1971 vereinbaren die Alliierten das Viermächteabkommen - das erlaubt eine schnellere Abfertigung am Checkpoint. Es gibt wenige Gründe, in Dreilinden Zeit totzuschlagen. Entweder ist man gleich in Berlin - oder man kommt gerade erst von dort. "Es war damals schon eine Fehlplanung. Wer geht denn hier noch groß in die Raststätte, wenn er gleich rüber in den Transit will?", fragt Hannes Sauer, als er über schwer definierbar braun-grauen Teppichboden durch das Halbrund läuft. Seine Slipper knirschen auf den Scherben einer zerschmetterten Glastür.
Im Erdgeschoss richtet man Ende der 70er nochmal einen Imbiss ein, einigermaßen beliebt bei Fernfahrern. Das wars. Nach der Grenzöffnung wird Dreilinden endgültig zum Nicht-Ort. Später haben hier Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zollamts ihre Büros. 2002 ziehen auch sie aus.
2010 will ein Berliner Currywurst-Gastronom hier ein Billighotel, eine Disko und ein American Diner bauen, findet aber keine Partner für sein Projekt. Er gibt wegen der Kosten auf. Am Nachmittag des 22. Juni 2012 schlägt die Stunde von Werner Scharwächter. Der Unternehmer aus dem Sauerland ersteigert das Anwesen für 535.000 Euro. Der Vorbesitzer hatte es noch für 45.000 Euro bekommen.
Scharwächter betreibt in Karlshorst eine Baumaschinen-Firma. Er will auf dem großen Parkplatz seine Bagger, Kräne, Rammgeräte und Bohranlagen ausstellen. Bei der Versteigerung in einem Berliner Hotel sticht Scharwächter einen Investor aus dem Ausland aus. Er ballt die Faust vor Freude. Auch im Interview mit der Abendschau wirkt er fidel und zuversichtlich. Um das leerstehende, von Vandalismus zerfledderte Gebäude hat er sich weniger Gedanken gemacht. Um den Endgegner Denkmalschutz offenbar keine. Der Bezirk Steglitz-Zehlendorf verweigert Scharwächter dann die Genehmigung. Baumaschinen vor dem geschichtsträchtigen Pop-Art-Turm auszustellen, schön sichtbar am Tor zu Berlin - das ist dem Bezirksamt dann doch zu grob.
Scharwächter wundert sich, aber die Ideen gehen ihm nicht aus. Er möchte danach in Dreilinden chinesische Natursteine ausstellen, denkt auch über einen Bootshandel und einen Vergnügungspark nach. Dann will er dort hochpreisige Oldtimer verkaufen. Als Architekt engagiert er Hannes Sauer. Der Beginn einer anregenden Geschäftsbeziehung, so scheint es. "Der Bauherr weiß nicht, was er will, und hat jeden Tag etwas Neues", sagt Sauer damals dem "Tagesspiegel". "Er ist nicht in der Lage, konstruktiv mitzudenken." Der Architekt solle tun was er sage, entgegnet Scharwächter.
Man kann durchaus zu dem Schluss kommen: Vielleicht wäre es nicht die klügste Idee gewesen, teure Limousinen auf einem Parkplatz nahe der Autobahn stehen zu lassen. Werner Scharwächter sagt, er könne auch alles wieder verkaufen, "mit sattem Gewinn". Es wird wieder nichts draus. Später versuchen es unter anderem eine Fertighaus-Firma und ein ortsansässiger Bauträger. Mehrere wollen das Halbrund als Bürogebäude nutzen, aber der Eigentümer verlangt für das 5.000 Quadratmeter große Grundstück samt Gebäude stets mehr, als sie zu zahlen bereit sind.
Ruft man Scharwächter, inzwischen Mitte 70, heute an, hält er einen sehr schnell für einen Kaufinteressenten - trotz aller Beteuerungen, man sei doch nur Journalist. Dann sagt er, er könne wirklich nicht garantieren, dass die ehemalige Raststätte und der Parkplatz nächste Woche noch ihm gehörten. Er sei mitten im Verkaufsprozess, es gehe um Tage, der Käufer müsse sich nur noch zurückmelden. Dasselbe hat er Reportern allerdings schon 2015 erzählt. Und 2016, 2017 und 2018. "Das erzählt er immer", sagt der Architekt Sauer schmunzelnd, der anstelle von Scharwächter zum Besichtigungstermin gekommen ist. Die Menschen vom Denkmalamt kennt Sauer inzwischen mit Namen. Es gab oft Redebedarf.
Auf seine Zukunft wartet das rote Halbrund jetzt schon seit mehr als 20 Jahren. Inzwischen sieht es aus, als habe jemand den Regler mit der Farbsättigung runtergedreht. Die Brücke über die Autobahn kündet noch vom Zollamt, aber viel ist nicht mehr los. Polnische Fernfahreroberkörper brutzeln an diesem heißen Tag in der Mittagssonne, ein Lkw mit türkischem Kennzeichen tuckert vor sich hin. Unkraut wuchert zwischen aufgeplatztem Asphalt, Autoreifen und nutzlose Pylonen lungern am Straßenrand, letztere so ausgeblichen, dass man keine richtige Farbe dafür nennen könnte. Irgendwas zwischen schmutzweiß und krabbenrot?
"Je länger das so da steht, desto teurer wird's", sagt der Fachmann Sauer über das Ungetürm. "Man muss eine Betonsanierung machen, dazu eine energetische Sanierung, da steckt noch eine Ölheizung drin, die Fenster müssen ebenfalls alle getauscht werden", zählt er auf. Ein Millionenbetrag. Vorausgesetzt man bringe dieses Geld auf, seien zum Beispiel ein Autohaus, ein Café, Büroräume denkbar. "Bloß nicht abreißen bitte - das wäre schade", sagt Sauer.
Zehn Jahre begleitet ihn dieses seltsame Gebäude nun schon. Er wirkt erst wie jemand, der nicht recht weiß, was er mit diesem vermeintlich nutzlosen Klotz am Bein soll. Aber im nächsten Moment spricht er wieder fast zärtlich von diesem Klotz. "Dreilinden ist das Einfahrtstor zur Stadt, es ist es wert, dass man planerisch und sorgfältig damit umgeht und es nicht einfach vergisst", sagt Sauer und steigt mit seinen Slippern in sein BMW-Coupé. Nächste Woche hat er wieder einen Besichtigungstermin, erzählt er. Ein Autohändler. Vielleicht gehe es ja am Ende ganz schnell.
Sie kommen auch oft an einem besonderen, leerstehenden Gebäude vorbei und fragen sich, was es damit eigentlich auf sich hat? Schreiben Sie uns Ihre Vorschläge an internet@rbb-online.de mit dem Betreff "Bau fällig", wir freuen uns über Ihre Anregungen!
Beitrag von Sebastian Schneider
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