Berliner U-Bahn
Berlin, Hallesches Tor: Am frühen Sonntagmorgen legt sich ein Mann auf die Gleise, die nächste U-Bahn rollt in vier Minuten ein. Zwei Männer springen ins Gleisbett, um ihn zu retten und riskieren dabei ihr Leben. Haben sie alles richtig gemacht? Von Yasser Speck
Luna Kommoß war am frühen Sonntagmorgen auf dem Heimweg. Sie war mit ihrem Freund in einem Club gewesen. Am Halleschen Tor mussten sie auf die U-Bahn warten. Dabei fielen ihnen drei Männer auf. "Die wirkten ein bisschen wie drei betrunkene Typen. Zwei waren so Mitte bis Ende 20. Die beiden haben einen jüngeren Mann immer zurückgehalten", beschreibt Kommoß die Situation. Sie habe nicht ganz verstanden, worum es bei den Dreien geht.
Irgendwann sei dann der junge Mann an den beiden anderen vorbei auf die Gleise der U6 hinabgestiegen und habe sich dort hingelegt.
"Dann lag er da. Mitten auf den Gleisen. Mein Freund und ich haben dann geschaut, wann die nächste Bahn kommt. Da stand dann: in vier Minuten", erzählt Kommoß. Vier Minuten - 240 Sekunden: Dann rollt die nächste Bahn ein und wird den Mann in höchste Lebensgefahr bringen.
Einer der beiden Männer, so erinnert sich Kommoß, fackelte nicht lange. Er sei direkt zu dem jungen Mann in das Gleisbett gesprungen. "Er hat den jungen Mann im Gleisbett dann an den Armen gegriffen. Der andere ist dann hinterher gesprungen und hat geholfen, den offensichtlich unter Drogen stehenden Mann mitten auf den Gleisen aufzustützen", so Kommoß.
"Einer der beiden Retter ist dann hoch auf den Bahnsteig und hat den kaum ansprechbaren jungen Mann von oben herausgezogen." Dann sei der zweite Retter nicht mehr aus eigener Kraft auf den Bahnsteig gekommen. Er musste von dem anderen Helfer ebenfalls aus dem Gleisbett gezogen werden. Aus dem Retter sei plötzlich ein Geretteter geworden.
Luna Kommoß erinnert sich an den Mann im Gleisbett: "Er hatte offene Wunden am Arm und im Gesicht und wirkte, als wäre er auf Drogen." Sie habe sich gefragt, was sie jetzt in dem Moment machen solle. "Wen rufen wir jetzt an? Müssen wir irgendwas betätigen? Was müssen wir jetzt alle tun", fragte sich Kommoß in der Nacht.
Jannes Schwentu ist Pressesprecher der BVG. Er erklärt, was in so einer Situation, wie sie Luna Kommoß erlebt hat, zu tun ist: "Umgehend einen der sogenannten Notsignalschalter betätigen. Von diesen 'roten Kästen mit Griff' sind pro Bahnsteigseite in der Regel drei Stück installiert. Wird der Griff gezogen, werden die Signale für die Züge umgehend auf Rot gestellt und sie können nicht mehr in den Bahnhof einfahren."
Sobald man an dem roten Griff gezogen habe, solle man bei einer Notruf- und Informationssäule den SOS-Knopf drücken, erklärt Schwentu. "Dadurch wird eine direkte Sprechverbindung mit unserer Leitstelle Sicherheit hergestellt." Die Kolleg*innen dort könnten dann den Notfall aufnehmen und zum Beispiel den Rettungsdienst schicken.
"Außerdem werden sie sich umgehend über die Kameras vor Ort einen Überblick über die Situation verschaffen", erklärt Schwentu. Diese "Anleitung" gelte auch, wenn sich ein großer Gegenstand wie ein Fahrrad im Gleis befinde. "Bei einem kleinen Gegenstand wie einem Handy muss und sollte das Notsignal hingegen nicht geschaltet, sondern nur über den SOS-Knopf die Leitstelle kontaktiert werden. Diese schickt dann Hilfe", sagt der Pressesprecher.
Die beiden Retter hätten dennoch etwas falsch gemacht. Schwentu betont nämlich, dass man sich auch nach Betätigen des Notsignalschalters nicht ins Gleis begeben solle. "Der Grund: Die sogenannte Stromschiene neben den Gleisen steht weiterhin unter einer lebensgefährlichen Spannung. Sie muss erst durch die Leitstelle oder den Betriebsdienst abgeschaltet werden."
Als Kommoß sah, dass der Mann aus dem Gleisbett gerettet war, ging sie nicht zur Notrufsäule, sondern rief mit dem Handy die 112 an. "Ich hatte das Gefühl, dass er ein psychisches oder physisches Problem hat. Da dachte ich, medizinische Hilfe wäre notwendig. Ich wollte auf jeden Fall, dass sichergestellt wird, dass es ihm körperlich gut geht."
Die Sanitäter informierten auch die Polizei, die zehn Minuten später eintraf. Die Beamten versuchten auf den Mann einzureden. Doch der verstand offenbar kein Deutsch. Also legten sie ihm Handschellen an und nahmen ihn mit. Kommoß wunderte das.
An die Minuten vom Sonntagmorgen wird sich Luna Kommoß noch lange erinnern. "Dass sich jemand in Lebensgefahr bringt und ihn Menschen retten müssen, damit er nicht stirbt - das habe ich noch nie erlebt."
Sie sei sehr dankbar, dass die beiden Männer da gewesen seien. Dankbar für deren Zivilcourage. "Ich habe mich schon gefragt: Was hätte ich alleine denn gemacht? Ich hätte vermutlich nicht den Mut gehabt, in das Gleisbett zu springen."
Sendung: Fritz, 09.08.2023, 16:40 Uhr
Beitrag von Yasser Speck
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