Serie "Bau fällig" | Stadtbad Lichtenberg
In der Weimarer Republik erholten sich Arbeiter im Volksbad Lichtenberg. In der DDR lernten dort Generationen von Ost-Berlinern, sich über Wasser zu halten. Nach jahrzehntelangem Leerstand erwacht das Denkmal zu neuem Leben. Von Sebastian Schneider
Dieser Text wurde erstmals veröffentlicht am 06.08.2023.
Man kann nicht übers Wasser gehen, weil längst keins mehr da ist, aber stehen kann man schon, auf Höhe des Beckenrandes. Unter den Füßen schwappten einst die Chlorwellen, jetzt bedeckt ein Parkettboden fast das ganze Becken, nur am Rand ist tragfähiges Plexiglas verbaut. So kann man bis auf den vier Meter tiefen Boden der Schwimmhalle gucken. Auch das alte Sprungbrett steht noch. "Geschlossen", zeigt das Schild an der Leiter. Seit mehr als 30 Jahren.
Das Stadtbad Lichtenberg ist ein Schmuckstück, eine Perle des Expressionismus. So ein Haus findet man in Deutschland kein zweites Mal. Von außen sieht man das dem graubraunen Kasten in einer stillen Seitenstraße der Frankfurter Allee aber nicht an. Jahrzehntelang war der Eingang zugemauert, die Fenster waren mit Brettern vernagelt. Die Nachbarn sahen hier einen traurig vor sich hinmodernden Klotz, dessen beste Zeiten längst verloren waren. Viele trauerten auch ihrer Kindheit nach: Hier hatten sie Schwimmunterricht.
Doch seit 2018 wird das frühere Hubertusbad, wie das Haus in der Hubertusstraße auch genannt wird, langsam wieder für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Es gehört dem Land Berlin, verwaltet durch die landeseigene Berliner Immobilienmanagement GmbH (BIM). Durch die gläserne Eingangstür fällt wieder Licht. Tritt man ins Foyer, kann man den Zauber der verschlafenen Schönheit schnell spüren.
An den Decken erahnt man bonbonrot, läuft über Bodenfliesen aus poliertem Kalkstein, links neben dem Eingang hängt eine schwarze Originaltafel: "Bäder für Frauen Montag, Mittwoch, Freitag" steht da in weißer Schrift, "Bäder für Männer Dienstag, Donnerstag, Sonnabend". "Es ist ein Herzensprojekt", sagt die Bauingenieurin Simone Schiermeyer, die die Sanierung für die BIM betreut. Die 48-Jährige kennt dieses Bad schon fast ihr ganzes Leben. Sie hat dort Schwimmen gelernt - wie zuvor schon ihr Vater.
Anfang des 20. Jahrhunderts wird der Vorort Lichtenberg zum Industriezentrum. In Berlin leben damals viele Menschen unter erbärmlichen hygienischen Bedingungen, sie hausen in beengten Mietskasernen. Wegen der Wohnungsnot werden selbst Einzimmerwohnungen oft untervermietet, die Mieter lassen "Schlafleute" für ein paar Stunden Nachtruhe bezahlen. Tagsüber schuften viele in Fabriken oder im Kraftwerk. Nicht einmal jeder fünfte Lichtenberger hat eine eigene Bademöglichkeit. Infektionskrankheiten verbreiten sich damals schnell, Cholera und Typhus, Pocken und Ruhr. Deshalb gibt es seit den 1870er Jahren im nahen Berlin sogenannte Volksbadeanstalten, wo jeder zumindest einmal die Woche unters oder ins Wasser kommt.
1907 erhält Lichtenberg Stadtrecht und damit kommen Bedingungen: Die Verwaltung plant jetzt ein Amtsgericht und ein Krankenhaus, mehrere Schulen - und ein Bad mit Brausen und Wannen. Ein Beitrag zur "Volksgesundheit", offen für alle, mit humanen Eintrittspreisen im Arbeiterbezirk. Doch die hohen Kosten und schließlich der Erste Weltkrieg bremsen die Pläne in der Hubertusstraße jahrelang aus.
1920 verleibt sich Groß-Berlin das kleine Lichtenberg ein, da ist kaum mehr als der Grundstein des Bades gelegt. Der Berliner Magistrat tritt dann nochmal auf die Bremse - alles zu teuer. Vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zum Jahr 1925 wird im gesamten Deutschen Reich kein einziges neues Hallenbad eröffnet. Die Kommunen brauchen das knappe Geld für Wichtigeres, die Menschen haben andere Sorgen: Hunger und Armut, Inflation und politische Unruhen.
Zwischen 1925 und 1928 aber, in einer Phase zarten Aufschwungs, wird das Volksbad dann tatsächlich gebaut, für insgesamt 2,2 Millionen Reichsmark. Das entspräche heute ungefähr 8,1 Millionen Euro. Am 2. Februar 1928 eröffnet es. Rudolf Gleye, einer der beiden Architekten, erlebt den Höhepunkt seines Schaffens nicht mehr. Er ist im Juni 1926 an einem Herzinfarkt gestorben, mit gerade mal 46 Jahren. Die Lichtenberger aber haben Glück mit ihrer "Hupe" - die Geschichte hat ihnen einen schmalen Spalt gelassen. Gut eineinhalb Jahre nach der Eröffnung bricht die Weltwirtschaftskrise aus - ein neues Bad wäre jetzt undenkbar.
So aber kann man noch 95 Jahre später seine Schönheit bestaunen. Die Fliesen sind flaschengrün und meeresblau, karmesin- und eisenrot, ocker- und cremegelb. Man spaziert durch verwinkelte Gänge, sieht kunstvoll gezackte Geländer, sitzt auf Bänken mit abgeplatztem eierschalenweißen Anstrich. Um den Charakter zu erhalten, wurde nur Klarlack drübergezogen. Alles, bloß nicht perfekt. "Wir versuchen, nichts nachzuahmen", sagt Simone Schiermeyer. Als 2018 die Vorbereitungen für die Sanierung starten, liegen die meisten Möbel verrammelt im Keller. Keiner kann mehr sagen, wo was stand - nur alte Fotos helfen.
Die kleine Schwimmhalle mit ihrem Sprungturm aus Messing und dem Parkett kann man heute für Veranstaltungen mieten, Hochzeiten und Partys zum Beispiel, Ausstellungen und Dreharbeiten. Aber noch sei hier Luft nach oben, gibt Kristian Pade zu, der die Buchungen für die BIM betreut - das Haus in der Sackgasse ist noch ein Geheimtipp. Für die BIM würde es sich rechnen, wenn er weniger geheim würde, das ist bei diesem Besuch klar.
Bei seiner Eröffnung 1928 ist das Bad seiner Zeit voraus, so modern, dass es wenige Jahre später schon Gäste aus England, Dänemark, Schweden, Spanien, Ägypten und Japan besichtigen. Es gibt neben den zwei Schwimmbecken einen römischen Saunabereich mit Warmluft- und Dampfbädern, einen Gymnastiksaal, Massagekabinen und eine Sonnenterrasse auf dem Dach, dazu überall Lüftungsschächte. Alles in einem kubistisch-expressionistischen Stil, Neue Sachlichkeit mit einer Prise Bauhaus. In einem Gebäude fürs einfache Volk ist das etwas Besonderes. Eine Wellnessfarm des kleinen Mannes.
Schon in den 1930ern Jahren wird die strenge Trennung von Herren und Damen aufgehoben, man hüpft fortan je nach Belieben in das kleine oder große Schwimmbecken. Der Unterschied: Fünf Meter Beckenlänge. Vor allem Frauen nutzen das Stadtbad Lichtenberg damals.
Im Zweiten Weltkrieg wird das Gebäude stark durch eine Bombe beschädigt, aber zumindest so repariert, dass es weiter genutzt werden kann. Ab 1948 lassen die sowjetischen Behörden hier wieder organisierten Schwimmsport zu. In der DDR lernen Tausende Schülerinnen und Schüler aus Lichtenberg, Friedrichshain und Köpenick das Schwimmen. Anfang der Achtziger auch die kleine Simone Schiermeyer - mit überschaubarer Begeisterung. "Ich fand es als Kind nicht so schön hier reinzugehen. Das Haus wirkte auf mich düster und zugig, kalt und ein bisschen stinkig", erinnert sie sich.
Zu dieser Zeit entstehen moderne Schwimmhallen in den Ost-Berliner Neubauvierteln, heller und besser beheizt. Die meisten Menschen haben ein eigenes Bad oder zumindest eine Dusche, sie brauchen die Wannen und Brausen im Stadtbad nicht mehr. Ein Großteil der Bademeister wird in neuere Häuser versetzt. So fällt die die in die Jahre gekommene Schönheit in der Hubertusstraße aus der Zeit - und allmählich in einen tiefen Schlaf. Das kommt ihr heute paradoxerweise zugute: Weil die DDR nicht das Geld hatte, das Gebäude - sagen wir: pragmatisch - zu erneuern, ist sein alter Zauber konserviert worden. Bis auf ein paar Fliesenbeläge bleibt alles original.
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Im Erdgeschoss des früheren Volksbades hat heute die Lichtenberger Anlaufstelle für Bürgerbeteiligung (LAB) Räume gemietet. Geht es nach der BIM, soll das riesige Haus gemischt genutzt werden, "gewerblich, kulturell, sozial", sagt Simone Schiermeyer. Zum Beispiel für Ateliers, Büros, Therapieräume, im Keller auch für Werkstätten - aber nur welche, die nicht soviel Krach machen. Das Sana-Krankenhaus steht nur ein paar Meter nebenan, überhaupt ist dieser vermeintlich tote Winkel neben der Frankfurter Allee relativ dicht bebaut. Deshalb ist auch bei Feiern in der kleinen Schwimmhalle um 22 Uhr Zapfenstreich.
Kristian Pade legt die Absperrkette zum Treppenhaus zurück, hinauf geht es auf hellgrauen Stufen, die wie Naturstein wirken, tatsächlich Beton, wie auch die Figuren der vier Springer über dem Haupteingang - schon in den Zwanzigern wusste man, den fließenden, modernen Werkstoff zu nutzen. Im zweiten Stock die ehemaligen Therapieräume, Wände in abgeplatztem türkis und bonbonrosa, ehemalige Wärmeräume für Lungenkranke. Die konnten sogar mit einem Aufzug hier hoch fahren. Schwarz-Weiß-Fotos zeigen, wie sich hier entspannt wurde, mit Holzliegestühlen in der Ecke. Zwei Flure weiter die Baderäume, die schön gruselig angeschmodderten Wannen stehen noch.
Auf dem Weg nach oben greifen die Finger erst ein angenehm glatt gehämmertes Messinggeländer, dann plötzlich ins Leere. Diebe haben die Handläufe irgendwann abgerissen und geklaut. Das Unterwasserbad mit seinen jadegrünen Fliesen, das leere Becken in der Mitte des Raumes könnte sich heute ausgezeichnet für eine Sitzecke eignen. Schon geht es weiter - aber wohin? Es ist unmöglich, all die Räume im Blick zu halten. Selbst Pade gesteht nach zweimal Abbiegen im Obergeschoss, dass er sich nicht mehr zurechtfindet. Das Haus hat mehr als 5.400 Quadratmeter Fläche.
1988 muss erst die große Schwimmhalle geschlossen werden, die Lüftung ist kaputt. Ausgerechnet ein Wasserschaden macht dem Hubertusbad 1991 dann endgültig den Garaus. Die "Hupe" ist Geschichte. Der Vorplatz wird abgezäunt. Überall bröckelt der Putz. So verrottet das Kleinod, wird immer wieder durch Vandalismus beschädigt. Regelmäßig gibt es Polizeieinsätze, weil jemand eingebrochen ist. 2008 kann man das Hubertusbad für den Preis einer Eintrittskarte kaufen - das Land Berlin bietet es für den Verkehrswert von einem Euro an. Es gibt ein paar Interessenten, aber es wird nichts draus.
Mehrere Initiativen und eine Genossenschaft fordern, dass die "Hupe" wieder Schwimmbad wird. Aber das sei heute illusorisch, argumentiert die BIM, der Denkmalschutz, die Kosten. Weit mehr als 30 Millionen Euro müsste man laut BIM investieren, um im Hubertusbad wieder Bahnen ziehen zu können, bisher war kein Investor dazu bereit - anders als beispielsweise beim Bad in der Oderberger Straße in Pankow [morgenpost.de].
Berlin müsste die Kosten also selber tragen. Vor ein paar Jahren hat der Senat ein denkmalpflegerisches Gutachten in Auftrag gegeben. Die Fachleute rieten von einer Nutzung als modernes Bad ab - zu teuer und ein zu schwerer Eingriff in die Bausubstanz, hieß es. Der Förderverein Stadtbad Lichtenberg kritisiert das Gutachten, wie auch die Pläne des Senats.
Wie emotional das Ganze für viele Lichtenberger ist, hat sich zuletzt am Tag des offenen Denkmals gezeigt. Da reichte die Warteschlange bis hinunter zur Frankfurter Allee, mehr als 1.000 Besucherinnen und Besucher, das Interesse war so groß, dass das Stadtbad-Team um eine Stunde überziehen musste. "Es gab ältere Menschen, die sagten mit Tränen in den Augen, sie wünschten sich ihre Schwimmhalle zurück, weil hier so viele Erinnerungen dranhängen", sagt Simone Schiermeyer. "Aber würden wir hier ein modernes Schwimmbad rein bauen, müssten wir dafür alles Alte, was den Charme ausmacht, herausreißen."
Die erste Stufe der Sanierung ist inzwischen geschafft, bis 2026 soll auch die zweite bewältigt sein. Voraussetzung ist aber, dass der Senat auch das Geld dafür hergibt. Alleine die Erneuerung der Gebäudehülle würde einen zweistelligen Millionenbetrag kosten, sagt die BIM.
Ein letztes Treppenhaus, ein paar Schritte vor ans Geländer der großen Halle. Von oben guckt man jetzt in das leere Schwimmbecken, blassblau und verstaubt gähnt es einem entgegen. Acht Straßenlampen aus DDR-Zeiten hängen von der Decke, fünf Startblöcke aus Beton stehen am Rand. Es soll mit einem Geländer gesichert werden, aber offen bleiben.
Workshops, Diskussionsveranstaltungen, Co-Working - alles denkbar, im Schatten des alten Sprungturms. Auch die Dachterrasse soll wieder geöffnet werden. "Es gibt noch keine definitive Idee, wie das genutzt werden soll, das überlassen wir der Kreativität. Es wäre nur schade, wenn wir das alles tot restaurieren", sagt Simone Schiermeyer. Das Hubertusbad solle wieder ein offener Ort für die Nachbarschaft werden, auch ohne Wasser im Becken. Und sie sagt: "Ein Gebäude ist erst dann tot, wenn es nicht mehr genutzt wird."
Sie kommen auch oft an einem besonderen, leerstehenden Gebäude vorbei und fragen sich, was es damit eigentlich auf sich hat? Schreiben Sie uns Ihre Vorschläge an internet@rbb-online.de mit dem Betreff "Bau fällig", wir freuen uns über Ihre Anregungen!
Beitrag von Sebastian Schneider
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