Interview | Juristin Christina Clemm
Seit knapp 30 Jahren vertritt Anwältin Christina Clemm Frauen, die Opfer von Gewalt durch Männer wurden. In ihrem neuen Buch zieht sie aus ihrem beruflichen Alltag eine ernüchternde Bilanz: "So gut wie nichts" habe sich verbessert.
rbb|24: Frau Clemm, warum heißt Ihr Buch "Gegen Frauenhass?" Kann man bei allen Gewalttaten gegen Frauen den Hass auf sie als Motiv unterstellen?
Christina Clemm: Ja, es gibt immer Frauenverachtung, auf der diese Taten beruhen. Das Problem ist, dass man die Taten bei geschlechtsbezogener Gewalt immer privatisiert und individualisiert. Es wird oftmals nicht angesehen, welche gesellschaftlichen Strukturen dahinterstecken.
In den seltensten Fällen geschehen diese Taten plötzlich. Bei der Gewalt gegen Frauen wird das aber immer so dargestellt und die lange eingeübte häusliche Gewalt und tiefsitzende Frauenverachtung außer Acht gelassen. Das ist fatal, denn so verkennt man letztlich auch die Möglichkeit, grundsätzlich etwas daran zu ändern.
Erleben Sie diese "Frauenverachtung" auch im Gerichtssaal?
Die meisten Täter würden sagen: Wir hassen Frauen gar nicht, wir lieben sie doch! Aber ich erlebe zum Beispiel unglaublich viele Vorurteile. Da sind beispielsweise Prozessbeteiligte, die Frauen vorwerfen, dass sie eher lügen, Vorteil von falschen Anzeigen hätten oder bestimmten Vergewaltigungsmythen folgen. Auch das Verhalten vor Gericht gegenüber Anwältinnen ist oft von sexistischem Verhalten geprägt.
Am Anfang Ihres Buches schildern Sie eine exemplarische Beziehung. Lisa M. und ihr Mann Mirko lieben sich über Jahre scheinbar innig. Dennoch endet die Beziehung mit Tod der Partnerin. Was geschah zwischen den beiden?
Ich habe dieses Beispiel aus vielen Einzelfällen gebildet, um die Privatsphäre meiner Mandantinnen zu schützen. Bei Lisa M. fing alles in der Jugend an. Sie wird angegrapscht, ihr Vater ist ab und zu gewalttätig gegen ihre Mutter. Sie studiert und lernt ihren späteren Mann Mirko kennen.
Typisch für diese Art von Beziehungen ist, dass sie sehr schnell sehr eng werden. Der spätere Täter schafft es, sie immer mehr zu isolieren: Sie trifft weniger Freundinnen, weil er angeblich immer so gern mit ihr zusammen ist. Er kritisiert ihre Freundinnen und will immer wieder ihren Standort vom Handy geschickt bekommen aus vermeintlicher Fürsorge.
Unmerklich ist sie immer mehr in der Beziehung gefangen. Irgendwann kommt der erste Schlag. Er bereut, sie verzeiht ihm, sie bekommen Kinder und die Schläge werden immer häufiger, bis sie sich doch trennt und dann von ihm getötet wird.
Der Täter wird wegen einer Affekttat sehr milde bestraft, und was besonders bitter ist, finde ich, dass am Ende auch noch die Kinder bei ihm aufwachsen. Diese Fälle gibt es, immer wieder.
Sie beschreiben auch Frauen, die trotz Misshandlungen in der Partnerschaft aus dem Frauenhaus wieder zu ihrem gewalttätigen Partner zurückgehen.
Wenn Frauen in meiner Kanzlei vor mir sitzen, höre ich häufig, dass sie jetzt fest entschlossen seien, sich zu trennen. Ich sage ihnen dann: "Vor mir müssen Sie sich nicht schämen. Wissen Sie, viele, viele Frauen gehen wieder zurück - und auch das ist in Ordnung!"
Warum ist das so? Von außen betrachtet wirkt es für viele ja unverständlich.
Ein Grund für das Zurückgehen ist, dass nicht genügend staatliche Hilfe da ist: Es gibt zwar die Möglichkeit, in einer akuten Situation in ein Frauenhaus zu gehen, wenn es nicht überfüllt ist. Aber das ist keine Lösung auf Dauer. Dann gibt es keinen Kitaplatz mehr, keinen Schulplatz und keine Arbeit.
Die Frauen müssen alles neu aufbauen, aber wie sollen sie das denn schaffen? Das ist eine so schlechte Situation, dass die Frauen den schlagenden Ehemann, der sich vermeintlich geändert hat, eher in Kauf nehmen als ihre Sicherheit.
Sie schreiben in ihrem Buch: "Der gefährlichste Ort für eine Frau ist immer noch ihr eigenes Zuhause." Ist das nicht übertrieben?
Nein, das ist wissenschaftlich und statistisch immer wieder untermauert worden. Der Partner oder Ex-Partner ist statistisch gesehen leider der gefährlichste Mensch im Leben einer Frau.
Die sprichwörtliche Gewalt hinter der verschlossenen Tür. Wie ließe sich das verhindern?
Oft wird vorwurfsvoll gesagt: Die Frauen müssen ihr Schweigen über die Gewalt in ihrer Beziehung brechen. Das stimmt! Zuallererst müsste aber das gesamte Umfeld das Schweigen brechen. Nachbarn hören Schreie in der Wohnung nebenan. Freunde sehen blaue Flecken. Doch alle schämen sich, einen Verdacht in den Raum zu stellen, der vielleicht unbegründet ist. Wir müssen mehr aufeinander achten und uns dafür zuständig fühlen, dass die anderen keine Gewalt erleben müssen.
"Dass es im patriarchalen System kein nachhaltiges staatliches Interesse gibt, geschlechtsbezogene Gewalt gegen Frauen zu verhindern, überrascht kaum." Wie meinen Sie das?
Männer sind privilegiert in dieser Gesellschaft. Sie müssten selbst dafür eintreten, eine andere Gesellschaft zu erkämpfen, in der wir anders und gleichberechtigt zusammenleben.
Sie schreiben in ihrem Buch dann auch: "Im Kern ändert sich, was geschlechtsbezogene Gewalt anbelangt, so gut wie nichts." Ist das nicht übertrieben bei verschärften Gesetzen und der breiten Berichterstattung in den Medien?
Wenn wir die Verurteilungsquoten und die Dunkelfeldforschung ansehen, verändert sich, was geschlechtsbezogene Gewalt angeht, im Kern tatsächlich nichts. Es gibt eher eine Zunahme der Gewalt und eine Abnahme der Verurteilungen. Auch im Gericht ist ein riesiger gesamtgesellschaftlicher Backlash spürbar.
Inwiefern?
Wir haben viele weibliche Richterinnen, wir haben eine weibliche Außenministerin und wir müssen natürlich unsere Partner nicht fragen, ob wir arbeiten gehen dürfen. Es ist also einerseits eine ganze Menge geschehen, strukturell aber hat es sich noch nicht so sehr geändert. Zunehmend wird behauptet, Frauen hätten doch schon alles erreicht, nun sei es auch mal gut. Ich nenne es gern eine "renitente Männlichkeit".
Im Gerichtssaal habe ich neulich zum Beispiel erlebt, dass ein Verteidiger rügte, dass meine Mandantin über ihre mutmaßliche Vergewaltigung zuerst geschwiegen hatte, weil sie sich schämte. Der Anwalt des Angeklagten sagte dann, dass er heutzutage so ein Verhalten nicht mehr verstehen könne. Im Lebenslauf einer Frau gehöre es doch zum guten Ton, auch einmal vergewaltigt worden zu sein. Solche Äußerungen werden sprechbarer, würde ich sagen.
Ist es für sie als Nebenanklagevertreterin nicht frustrierend, wenn Sie sagen, dass die Erfolge in der Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen quasi kaum zu sehen sind?
Ich weigere mich, frustriert zu sein. Immer wieder gibt es ja auch angemessene Gerichtsverfahren, Richterinnen und Staatsanwälte, die sehr gut ausgebildet sind und respektvoll mit allen Verfahrensbeteiligten umgehen.
Ich habe Mandantinnen die, egal wie ihre Verfahren ausgehen, diese Gerichtsverfahren sehr gut überstehen und ein besseres Leben anfangen können. Ich denke, dass es sich lohnt dafür zu kämpfen, die Gewalt, im Übrigen auch Rassismus und sonstige Menschenverachtung zu minimieren und letztlich das Patriarchat abzuschaffen. Weil wir dann auf einen Weg kommen könnten, der ein besseres Leben für alle sichert.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview mit Christina Clemm führte Ulf Morling.
Sendung: rbb24 Inforadio, Vis-à-Vis, 04.09.2023, 13:25 Uhr
Beitrag von Ulf Morling
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