Auf dem Land und am Stadtrand fehlen vielerorts Ärzte und Pflegekräfte. Die Bundesregierung möchte deshalb das bekannte Berufsbild der einstigen Gemeindeschwester neu beleben. Erste Ansätze gibt es schon. Von Sylvia Tiegs
Besteck klappert: Es ist Mittagstisch in der "MoRo Seniorenwohnanlage"in Berlin-Neukölln. Ein Dutzend Rentner lässt sich panierte Schnitzel schmecken, zubereitet vom Küchenteam des MoRo-Vereins.
Das Essensangebot ist nur ein Baustein der Hilfe, die der Verein rund 1.000 Senioren im Rollberg-Viertel anbietet. Die 30 Mitarbeiter:innen unterstützen auch in gesundheitlichen Belangen. Anwohnern wie Gaby Böldt hilft das sehr: "Während ich Corona hatte, hat MoRo dafür gesorgt, dass der Arzt zu mir kam. Und ich habe Grauer-Star-Operationen; eine hinter mir, eine vor mir. Da läuft jemand von MoRo mit mir hoch zur Hermannstraße zum Augenarzt."
Andere Senioren berichten ähnliches. Ohne Begleitung schafften es viele nicht mehr zu ihren Ärzten; zu unsicher seien sie auf den Beinen. "Ohne die Unterstützung von MoRo müssten meine Frau und ich ins Pflegeheim", sagt der Mittachtziger Erwin Schller.
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MoRo hat Finanzprobleme
Doch der MoRo-Verein steckt immer wieder in finanziellen Schwierigkeiten, auch derzeit. Die Helfer werden vom Jobcenter und dem Land Berlin bezahlt, die Gelder sind knapp und zeitlich begrenzt.
Wie wäre es, wenn es hier eine Art staatliche Krankenschwester oder einen Gemeinschaftspfleger gäbe? Jemanden, der einen Blick auf die gesundheitlichen Sorgen und Bedarfe dieser 1.000 Senioren hat, Arztbesuche koordiniert, vielleicht auch die Angehörigen berät und unterstützt?
Tatsächlich arbeiten Hausärzte, Pflegeverbände und Kommunen wieder auf Varianten dieses Berufsbildes hin. Die Modellversuche dazu heißen "Agnes2“ in Brandenburg, oder bundesweit "VERAH".
In der Branche geläufig ist inzwischen vor allem der Name "Community Health Nurse". Dieser englische Zungenbrecher beschreibt eine Tätigkeit, die es international bereits gibt: in Kanada, Finnland, Slowenien oder Großbritannien. Im Kern meint Community Health Nursing: gesundheitliche Basisversorgung in einer Gemeinde oder Gemeinschaft.
Vor allem viele Ostdeutsche kennen das noch: die Gemeindeschwester. Nicht nur seit Mitte der 1970er die legendäre Fernsehfigur "Schwester Agnes" mit ihrer Schwalbe durch fiktive Dörfer der Oberlausitz knatterte. Bis zu 7.000 reale Gemeindeschwestern sorgten sich einst um die Gesundheit der DDR-Bürger; sie impften, wechselten Verbände und maßen Blutdruck. Doch die künftigen Community Health Nurses sollen mehr sein als nur mobile Krankenschwestern.
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Mehr Kompetenzen
"Das Berufsbild knüpft ein bisschen an die alte kirchliche Gemeindeschwester an, aber mit mehr Handlungsspielraum", sagt Andrea Asch, Vorständin bei der Diakonie Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Asch muss ein wenig schmunzeln und sich - wie sie selbst sagt - konzentrieren, um den englischen Titel fehlerfrei über die Lippen zu bekommen. Doch was die Diakonie sich darunter vorstellt, kann sie genau sagen: "Community Health Nurses arbeiten im Quartier, im Kiez. Sie haben einen Überblick über die Menschen, die pflegebedürftig sind und über die Leistungen, die am Wohnort angeboten werden."
So ähnlich definiert es auch der Deutsche Berufsverband der Pflegeberufe: Community Health Nurses – kurz CHN – sollen selbständig agieren, ein Stück weit unabhängig von ärztlichen Anweisungen. Und das nicht in der Fläche von Stadt und Land, sondern auch in Gesundheitszentren oder im öffentlichen Gesundheitsdienst.
Erste Studiengänge dafür gibt es bereits - Community Health Nurse soll ein akademischer Beruf sein. Dafür infrage kommt nur, wer schon eine Krankenpflege- oder ähnliche Ausbildung hinter sich hat.
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Altes Rollenbild, neu gedacht
Jens Stüwe erfüllt diese Kriterien. Der gebürtige Mecklenburger arbeitet als Intensiv- und Anästhesiepfleger in Berlin und studiert Community Health Nursing an der Evangelischen Hochschule Dresden.
Stüwe arbeitet gern im Krankenhaus, sagt er. Aber ihn reize die Idee, sein Berufs- und Tätigkeitsfeld in der Pflege zu erweitern. Schon jetzt arbeitet der Anfang 40jährige ehrenamtlich im GeKo, einem Stadtteil-Gesundheitszentrum in Berlin-Neukölln, zwischen dem Viertel des früheren Flughafen Tempelhof und dem Rollberg-Kiez.
Jens Stüwe | Quelle: Sylvia Tiegs/rbb
Für einen modernen Gemeindepfleger, eine Community Health Nurse, gäbe es hier laut Jens Stüwe viel zu tun. Hier leben Langzeitarbeitslose genauso wie Migranten, Familien wie alleinstehende Senioren. Verschiedenste Gruppen, mit unterschiedlichsten Bedarfen. Jens Stüwe fragt sich: Bekommen die Menschen hier die Gesundheitsangebote, die sie wirklich brauchen? Nutzen sie Vorsorgemöglichkeiten, haben sie Beratungsbedarf? Dem würde er später vielleicht gerne nachgehen, nach seinem Masterabschluss.
Für die Diakonie gehören moderne Gemeindeschwestern zur künftigen Pflegestrategie, sagt Vorständin Andrea Asch. Sie könnten dazu beitragen, dass Menschen länger zu Hause wohnen bleiben könnten. Was bitter nötig wäre, so Asch, angesichts des "dramatischen Bettenabbaus" in den Pflegeheimen.