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Quelle: imago images/pathe

Interview zu "Lolita-Phänomen"

"Es gibt ein Problem damit, missbräuchliche Beziehungen als solche zu bezeichnen"

Ältere Männer, die sexuelle Beziehungen mit sehr jungen Frauen führen: Vor allem, wenn die Mädchen minderjährig sind, wird dies teils kritisch gesehen. Denn oft bleibt unklar, wo Missbrauch anfängt und was eine Einwilligung wert ist, erklärt Diplom-Psychologin Julia von Weiler.

rbb|24: Frau von Weiler, eine sexuelle Beziehung zwischen einer Jugendlichen ab 14 Jahren und einem deutlich älteren Mann ist unter bestimmten Umständen legal. Inwiefern kann ein solches Verhältnis aber trotzdem problematisch oder sogar missbräuchlich sein?

Julia von Weiler: Der Gesetzgeber sagt, bis zum 14. Lebensjahr ist es auf jeden Fall Missbrauch. Bis zu diesem Alter nimmt man an, dass die Kinder kognitiv, emotional und intellektuell nicht in der Lage sind, einer sexuellen Handlung zuzustimmen. Man kann in jedem Fall sagen, dass sich auch ein 14- oder 15-jähriges Mädchen - oder auch ein Junge - in einer vermeintlich einvernehmliche Beziehung mit 30-, 40- oder 50-Jährigen, in einem großen Machtgefälle bewegt. Da ist das Manipulationspotential enorm. Daher stellt sich da die Frage, wie freiwillig das sein kann.

Zur Person

Julia von Weiler

Bei welchem Altersunterschied wird es eigentlich komisch?

Es gibt eine Daumenregel, die sagt: fünf Jahre bei Kindern und Jugendlichen. So gibt es beispielsweise zwischen 13 und 18 Jahren schon einen großen Unterschied. Es geht dabei immer um das intellektuelle, kognitive und auch körperliche Machtgefälle. Wenn es da eine Überlegenheit gibt, muss man da genauer hinschauen.

Wie ist denn die Gesetzeslage? Die wirkt ja doch relativ komplex.

Ich erinnere mich an einen Fall, da wurde ein 14-jähriges Mädchen an ihrem 14. Geburtstag von ihrem Patenonkel missbraucht. Das hat sie ganz deutlich so benannt. Für das Gericht wurde es dann aber schwierig, weil der Onkel von Einvernehmlichkeit sprach und die sexualisierte Gewalt schwer nachweisbar ist. Das Mädchen kam schließlich zu dem Schluss, dass ihr Onkel von der Rechtslage wusste und gezielt gewartet hatte, bis sie 14 war. Ich fürchte, da hatte sie Recht.

Mit 14 wird man vor dem Gesetz zumindest teilweise strafmündig. Da nimmt die Einsichtsfähigkeit zu. Ab dann wird auch das Machtgefälle anders definiert. Sexualisierte Gewalt von Schutzbefohlenen wäre es dann immer noch, wenn Vater, Mutter, Lehrer oder Ausbilderin in sexuelle Handlungen mit der ihr anvertrauten Person verwickelt wären. Aber was alle anderen betrifft, wird es strafrechtlich sehr kompliziert.

Infobox: Rechtslage Minderjährige und Sex

Unter 14 Jahren

Für Minderjährige unter 14 Jahren ist Sex verboten. Dabei ist es egal, ob nur eine Person noch unter 14 Jahren alt ist oder beide. Zwischen 14 und 21 Jahren gelten ebenfalls besondere Vorschriften.

Ab 14 Jahren

Ab 14 Jahren dürfen Jugendliche aus staatlicher Sicht grundsätzlich selber freiwillige sexuelle Handlungen an / mit Personen über 14 Jahren ausführen. Der Begriff der sexuellen Handlung setzt keineswegs voraus, dass es zum Geschlechtsverkehr kommt - so kann beispielsweise ein Zungenkuss ausreichen.

Ab diesem Alter gibt es keine Altersgrenze bezüglich der anderen Person, diese kann auch deutlich älter sein (Elternrechte bleiben allerdings bestehen). Es sei denn, es sind Erwachsene in einem Obhutsverhältnis, die Jugendliche (14-18 Jahre) erziehen, ausbilden, betreuen oder eine Zwangslage ausnutzen. Das sind z.B. Lehrer, Trainer oder Berufsausbilder. Das wäre im Einzelfall genau zu prüfen. Strafbar macht sich auch, wer Jugendliche für sexuelle Handlungen bezahlt (sei es durch Geld oder andere Dinge) oder Ihnen Pornographie in egal welcher Art und Weise überlässt. Strafbar ist Sex mit Jugendlichen unter 16 Jahren, wenn Personen über 21 Jahre dabei die fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung ausnutzen.

Unabhängig vom Alter ist eine sexuelle Handlung immer strafbar, wenn eine Person nicht freiwillig handelt.

Ich erinnere mich aus meiner eigenen Teenagerzeit, dass es im Umfeld mehrere 14-, 15-jährige Mädchen gab, die mit älteren Männern – eine sogar mit dem Vater eines Schulkameraden – liiert waren. Das wurde gesellschaftlich hingenommen – auch wenn es eine Art "Geschmäckle" hatte. Wie kann das sein? Warum handeln da viele Erwachsene nicht verantwortungsbewusst und mischen sich ein?

Unsere Gesellschaft hat ein Problem damit, missbräuchliche Beziehungen auch als solche zu bezeichnen. Das sah man auch im Fall von Maria aus Freiburg. Sie wurde als 12-Jährige von einem über 50-Jährigen online gegroomt (Anm. der Redaktion: "Cyber-Grooming" ist die gezielte Anbahnung sexueller Kontakte mit Minderjährigen über das Internet), der dann mit ihr aus Deutschland geflohen ist und mehrere Jahre untertauchte. Da wurde in der Berichterstattung anfänglich noch von Missbrauch gesprochen.

Doch im weiteren Verlauf wurde das zu einer Beziehung geschrieben. Es können doch auch Beziehungen voller Missbrauch, Gewalt und Machtmissbrauch sein. Wenn ich diese dann aber einvernehmlich nenne, entziehe ich den Betroffenen ihr Recht auf Wiedergutmachung und mache sie zu (frei-)willigen Komplizen. Das ist einfach falsch.

Die sexuelle Revolution der 68er-Jahre hat damit etwas zu tun. Da ging es um die vermeintliche Freiheit von Sexualität. Und die wurde sofort auch von pädokriminellen Strömungen vereinnahmt. Die fanden dann, Sex zwischen Kindern und Erwachsenen sei eine großartige Idee. Und wenn das nicht zugelassen würde, unterdrücke man Kinder in ihrer sexuellen Entwicklung und so weiter. Aus meiner Sicht war die sexuelle Revolution doch vor allem eine Revolution der männlichen Sexualität. Für sie bedeutete es, mit so vielen Frauen schlafen zu können, wie sie wollten – auch, je jünger desto toller. Und das macht und machte auch vor Jugendlichen nicht Halt.

Die Frage, die sich immer wieder stellt, ist: Was mache ich als Mensch, wenn um mich herum alle Tabus zu brechen scheinen. Wie verteidige ich meine innerlichen Tabus? Für eine 12-Jährige ist es im Regelfall ein innerliches Tabu, Sex mit einem 40-jährigen Mann zu haben. Wenn aber alle um sie herum so tun, als wäre das absolut normal, kriegt sie Schwierigkeiten, ihre Intimsphäre zu verteidigen. Weil die Gesellschaft es ihr nicht zugesteht.

Es gibt immer Missbraucher oder Missbraucherinnen, die ganz öffentlich handeln. Und je öffentlicher sie diese Grenzen überschreiten, desto eher scheinen sie damit durchzukommen. Wenn man sich als Erwachsener da nicht klar positioniert und sagt, das geht nicht, wird man Teil der schweigenden Masse. Diese schweigende Masse stärkt immer den Täter oder die Täterin und schwächt die Opfer. Und sie ist eine so träge Masse, dass sie sich auch noch gegenseitig behindert. Was dann oftmals passiert und was ganz besonders grauenvoll ist, ist wenn das Opfer irgendwann sagt, alle hätten es gewusst und nicht geholfen. Dann hinterfragen viele Menschen ihr Schweigen nicht selbstkritisch. Das ist vielen zu schmerzhaft. Lieber nehmen sie es dem Opfer übel und unterstellen, es hätte es ja so gewollt. Da wird einfach alles umgedreht. Das ist das Lolita-Erbe.

Geschichte eines Missbrauchs

"Es haben so viele weggesehen"

Marion Princk hat sexualisierte Gewalt dort erlebt, wo sie nur wenige vermuten: im Kinderzimmer. Als der Missbrauch durch ihren Vater endet, ist sie bereits eine erwachsene Frau. Heute hilft sie anderen Betroffenen. Von Pia Kollonitsch

Das wäre meine nächste Frage. Was bewirken Filme oder Bücher wie Lolita? Die Vorlage von Nabokovs Geschichte war ja auch das Opfer eines Pädophilen, der sie entführt hatte.

Sie bewirken, dass die Grenzen verschoben werden. Wenn man sich die Entwicklungsaufgaben eines Teenagers anschaut, dann stellt man fest, dass der Job ist: autonomer zu werden und sich auszuprobieren. Auch sexuell. Dazu gehört auch, sich auszuprobieren und zu flirten. Durchaus nicht nur mit Gleichaltrigen, sondern eventuell auch mit älteren Personen. Aufgabe von Erwachsenen in dieser Zeit ist es, Kinder und Jugendliche zu unterstützen und ihnen einen sicheren Raum zu geben.

Die Aufgabe der Erwachsenen ist es auch, zu wissen, wenn eine 14- oder 15-Jährige mit mir flirtet, ist es mein Job, für eine Grenze zu sorgen. Weil ich weiß, dass ich diesem jungen Menschen mit meinem Erfahrungsschatz so weit überlegen bin, dass das niemals eine Beziehung auf Augenhöhe sein kann, sondern sie immer missbräuchlich ist.

Die Erwachsenen müssen die Jugendlichen dann klar in ihre Grenzen verweisen und so ihrer Verantwortung gerecht werden. Das wird gerne vergessen. Da heißt es dann schnell, die Jugendlichen würden sich so sexy anziehen und seien ja ohnehin schon viel weiter. Es kommt zur Schuldumkehr. Und was mich wirklich empört: da schließen sich dann alle an. Da heißt es wieder, das Mädchen hätte eben den kurzen Rock angehabt und den Täter so verführt. Damit wird unterstellt, die jugendlichen Mädchen seien vollkommen wilde, sexuell übergriffige Wesen und die armen Männer könnten sich angesichts dessen überhaupt nicht mehr kontrollieren. Wenn das stimmte, dürfte kein einziger Mann jemals in einer verantwortungsvollen Position ein Amt innehaben – weil Männer ja demnach überhaupt nicht in der Lage zu sein scheinen, ihre hormonellen Triebe zu kontrollieren.

Wir sprechen fast nur von Mädchen. Sind denn wirklich fast ausschließlich sie von diesen ungleichen Beziehungen betroffen? Und sind fast ausschließlich Männer Täter?

Das ist eine wichtige Frage, denn ich denke, dass die Jungen nicht gesehen werden. Insbesondere, wenn sie von Frauen gegroomt – also manipuliert und in solche Beziehungen verstrickt – werden. Da ist die Gesellschaft auch grausam: denn ein Junge, so heißt es, könne sich glücklich schätzen, wenn er von einer erfahrenen Frau in den Sex eingewiesen wurde. Die Mädchen gelten als enthemmte sexuelle Wesen, die die Männer überwältigen. Und bei den Jungs wird nicht der Missbrauch gesehen, den erwachsene Frauen ausüben, wenn sie mit Kindern oder Jugendlichen sexuelle Handlungen vollziehen. Die MiKaDo-Studie aus 2015 untersuchte das Vorkommen von sexueller Gewalt in der Kindheit. Ich erinnere mich sehr gut an ein Ergebnis: Über 46 Prozent der betroffenen Männer berichtete, mindestens auch ein Mal von einer Frau in ihrer Kindheit missbraucht worden zu sein. Das wird in unserer Gesellschaft so gut wie gar nicht besprochen.

Hat es das Internet eigentlich leichter für Täter und schwerer für Opfer gemacht?

Absolut. Das Internet wirkt wie ein Brandbeschleuniger auf dieses Phänomen. Die Täter und Täterinnen haben es durch die digitalen Kommunikationswege noch nie so leicht gehabt, mit potenziellen Opfern in Kontakt zu treten und sie auch über diesen Weg an sich zu binden und sie zu bedrohen. Das Smartphone ist das ultimative Tatmittel. So ist der Täter immer dabei. Egal, wo das Opfer ist und was es macht. Und auch da kommt es wieder zur Schuldumkehr.

Hochproblematisch ist derzeit das Thema "selbstgenerierte Missbrauchsdarstellungen". Die entstehen durch Livestream-Missbrauch in Videotelefonaten. Laut Internet Watch Foundation, einer Meldestelle für Missbrauchsdarstellungen in Großbritannien, haben Fälle mit solchen Aufnahmen in den vergangenen drei Jahren um 413 Prozent zugenommen. Bei den Sieben- bis Zehnjährigen sind 70 Prozent aller gemeldeten Missbrauchsdarstellungen selbstgeneriert und bei den Elf- bis Vierzehnjährigen 90 Prozent.

Da wird das mit der Idee der Eigenverantwortung dann noch komplexer. In solchen Fällen sind die Täter und Täterinnen nicht mal körperlich in einem Zimmer mit ihren Opfern. Dann heißt es schnell, "wieso hast Du nicht die Kamera ausgemacht." Das macht es für die Betroffenen sehr schwer – denn die fühlen sich in aller Regel ohnehin mitschuldig. Im Übrigen war es schon immer die Strategie von Tätern und Täterinnen, die Verantwortung für die Taten den Opfern zuzuschreiben und zu sagen, sie hätten das doch so gewollt.

Das ist mit Kompetenz alleine nicht zu lösen. Die Kinder- und Jugendlichen können noch so fit sein im Internet, sie sind strategisch agierenden erwachsenen Tätern und Täterinnen immer unterlegen. Egal ob analog oder digital.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24

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