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Berliner Treffpunkt
Die Weltzeituhr: Seit Jahrzehnten ein perfekter Ort, um sich zu treffen. Erdacht hat sie Formgestalter Erich John, gebaut wurde sie in Rekordzeit trotz Mangelwirtschaft. Dass sie auch Kritik anzeigt, entging der DDR-Führung. Von Oliver Noffke
"Wieso fotografieren die Leute das?" Dem Akzent des Mannes zufolge ist es in seinem Herkunftsland drei bis vier Stunden später als auf dem Berliner Alexanderplatz. Ein schlanker Herr mit grauen Haaren scheint auf diese Frage geradezu gewartet zu haben. "Das ist die Weltzeituhr." Sein Dialekt ist einfach zu verorten. Er wohnt offenbar 73 Minuten mit dem Schnellzug südlich von Berlin. Mit einem Finger malt der Leipziger Striche in die Luft. "Die senkrechten Linien entsprechen den Längengraden." Die Augen seines Gegenübers weiten sich. "Das zeigt, wie spät es auf der Erde ist?"
Der Sachse will nun mit seinem Wissen punkten. Er öffnet den Mund - doch sein Publikum marschiert bereits Richtung Singapur, biegt kurz vorher links ab, passiert Hanoi, Aschgabat und Taschkent. Zwei Schritte weiter bleibt der Mann stehen. Er starrt auf den Metallring, checkt sein Handy, blickt wieder nach oben. Schließlich trottet er zurück. Die Augen groß wie Planeten. "Das gibt’s ja nicht. 14:05 Uhr plus 30", jubelt er. "In Kabul ist es jetzt 14:35 Uhr. Das stimmt ja." Zufrieden sächselt es ihm entgegen: "Made in GDR!" Der Mann aus Afghanistan bekommt daraufhin nur noch ein "Warum..." herausgepresst, bevor - jetzt aber endlich - ein Vortrag über diese Berliner Ikone beginnt. In reinster Leipz'scher Mundart.
Erschaffen hat die Weltzeituhr Erich John. Der 91-Jährige spricht mit böhmischen Akzent. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg musste er seine Heimat verlassen. Die Familie war enteignet worden, außer Strafarbeiten gab es nichts mehr. John wurde nach Mecklenburg umgesiedelt, wo er eine Lehre zum Bauschlosser absolvierte. In Berlin lebt er seit den frühen fünfziger Jahren. Er kam, um an der Kunstschule in Weißensee Formgestaltung zu studieren. Später lehrte er dort. Biesdorf ist unterdessen seine Heimat geworden.
Das Einfamilienhaus in einer verkehrsberuhigten Straße ist tipptopp in Ordnung. John und seine Frau bitten trotzdem um Nachsicht wegen irgendeiner Unordnung, die sich nicht so recht zeigen will. Dass beide seit Jahrzehnten hier wohnen, ist unverkennbar. Bis unters Dach steckt das Haus voller Erinnerungen. An den Wänden hängen Bilder von Menschen, mit denen das Ehepaar auf Reisen Freundschaft geschlossen hat. Die meisten hat John selbst gemalt. Manche Motive auch mehrfach. "Ein paar Striche mehr oder weniger und die gesamte Stimmung ist eine andere", sagt er.
Der Ruheständler sitzt aufgeregt im Wintergarten. Unter den Glasscheiben windet sich ein knochiger Weinstock. Ein paar Reben hängen über dem gedeckten Tisch. Beim Sprechen ist seine böhmische Herkunft unverkennbar. Wie von einer singenden Peitsche knallt John das R über die Zunge. Es macht seine Sätze noch lebendiger. Auch heute noch scheint er nicht so glauben zu können, dass er die Weltzeituhr bauen durfte. "Ich war ein junger Spund von 36 Jahren."
Im Sommer 1969 sollte Ost-Berlin einen neuen, zentralen Platz bekommen. Groß und eindrucksvoll, einer Weltmetropole würdig, so die Vorgabe der SED-Führung. Spätestens am 7. Oktober, dem 20. Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik musste der Platz fertig sein. Also wurde im Vorjahr nach Ideen, Architekten und Formgestaltern gesucht.
Für die Umgestaltung des Platzes war Walter Womacka verantwortlich. Er hatte wenige Jahre zuvor die SED-Führung mit dem Natursteinmosaik am Haus des Lehrers begeistert. Insbesondere Walter Ulbricht war von Womacka überzeugt. 1968 wurde er zum Rektor der Kunsthochschule Weißensee ernannt. John, der zu diesem Zeitpunkt selbst in Weißensee lehrte, bekam so die Möglichkeit an einem Ideenwettbewerb für eine Uhr teilzunehmen.
"Wir gehen gleich noch in den Keller", sagt John, "da liegen meine Notizbücher." Anschließend soll es auf den Dachboden gehen. Vorher gibt es aber noch Kaffee und Kuchen. "Bitte zugreifen."
Seit 40 Minuten filmt das Smartphone, unbewegt steht das Stativ: vorn die Weltzeituhr, dahinter der Fernsehturm. Die Foto-App ist auf Zeitraffer eingestellt. Im Schnelldurchlauf wird sofort klar, wie die Weltzeituhr funktioniert. Die Orte stehen fest, das bunte Band mit den goldenen Buchstaben dreht sich hingegen langsam nach rechts. Haben die Ziffernblätter den nächsten Längengrad erreicht, bleiben sie bis zu drei Minuten lang stehen.
Um zu verhindern, dass die Uhr der wahren Zeit hinterher hinkt, läuft sie etwas schneller, als sie müsste. Funkt der Zeitzeichensender Mainflingen bei Frankfurt am Main, dass eine neue Stunde begonnen hat, dreht sich das Band weiter.
"Yeah, and saturn is the second hand." Die junge Peruanerin glaubt mir kein Wort. Saturn soll der Sekundenzeiger sein? "It runs way too fast." Er drehe sich doch viel zu schnell, protestiert sie. Wir blicken auf die Kugel, die über dem runden Metallkörper schwebt. Sie stellt die Sonne dar. Vier Stangen strahlen aus dem Bauch der Kugel, wie die Richtungspfeile einer Windrose. Das Gestänge trägt eine symbolische Darstellung des Planetensystems.
Wenn dieses Plantensystem die Sekunden zählt, müsste Saturn alle 60 Sekunden vorbeifliegen. Richtig? Die Frau nickt. Also muss jede Viertelminute eine der Stangen vorüberziehen. Wieder Nicken. Wir blicken in die Mitte des Sonnensystems. Eine der Stangen naht.
"Go!", befiehlt die Frau. Wir zählen still. Als die nächste Stange herbeigefahren kommt, ruft die Peruanerin: "Aaaand stop." "13 seconds", sage ich. "I've counted 16." Kurzes Kopfrechnen. "You were right." Saturn braucht eine Minute für eine Umdrehung, sagt sie. "Wie schnell die Zeit vergeht."
Die junge Frau gibt ihre Erkenntnis an Mutter und Großmutter weiter, die ebenfalls versuchen, die Zeit abzulesen. Wieder Unglauben, diesmal auf Spanisch. Wieder wird nachgezählt. Die Stichprobe ergibt 12, 14 und 16 Sekunden. "Excelente!" Jetzt begibt sich das Trio auf die Suche nach Lima. Auf der anderen Seite der Uhr angekommen, setzen die drei zu einer Choreografie an, die sich unter der Weltzeituhr zu mancher Stunde im Minutentakt wiederholt. Köpfe in den Nacken, ausgestreckter Arm nach oben, die Finger suchen, bleiben stehen, Blick aufs Handydisplay, Köpfe wieder in den Nacken und dann alle: "Ah-haaa..."
Die jüngste der drei kommt zurück. "5.27 a.m.!" In Lima würden jetzt noch alle schlafen, sagt sie. Dass man auf dem Alexanderplatz sehen kann, wie spät es überall auf der Welt ist, sei jetzt aber schon überraschend. "Nur in Berlin geht die Uhr gerade nicht richtig", sage ich. "Because of daylight savings?" Wegen der Sommerzeit? Sie trifft ins Schwarze. Die aktuelle mitteleuropäische Zeit zeigen die vier kleinen Uhren am Stiel.
"Haben Sie eigentlich eine Uhr entworfen oder einen Treffpunkt, Herr John?" Er stellt die Kaffeetasse ab und lehnt sich im Stuhl zurück. "Das ist eine gute Frage. Sowohl als auch." Schon im späten 19. Jahrhundert befand sich an gleicher Stelle eine Uhr mit weithin sichtbarem Ziffernblatt. "1880 hatte nicht jeder eine Uhr am Handgelenk. Da war die Uhr wichtig." Ende der Sechziger Jahre habe in der DDR jeder eine Armbanduhr getragen. Sein Leitgedanke sei deshalb gewesen: "keine Uhr", so John. "Aber die Zeit kann ich darstellen."
Im Keller hat John auf einem schmalen Tisch die Geschichte seiner Weltzeituhr aufgebaut. Ein Ringhefter mit Fotos und seine alten Notizbücher. Im Juni 1968 brachte er erste Ideen zu Papier - gelangweilt, während einer Sitzung. Dem Endprodukt sehen sie bereits verblüffend ähnlich. Er habe gar nicht anders gekonnt, als eine globale Uhr vorzuschlagen. "Da war ja die Mauer und es war genau '68, die Studenten-Unruhen und in Böhmen der Dubček." Proteste im westlichen Deutschland und der Prager Frühling im südöstlichen Nachbarland. "Ich dachte, es muss etwas sein, das deutlich macht, dass Berlin eine Weltstadt ist."
Nach dem Wettbewerb soll John persönlich DDR-Bauminister Wolfgang Junker den Entwurf erklären. Ob er das denn auch bauen könne, sei er dabei gefragt worden. "Ich hätte ja auch wegen Hochstapelei im Gefängnis landen können, wenn es nicht geklappt hätte." Schon bei den ersten Entwürfen habe er deshalb darauf geachtet, dass alles mit verfügbaren Mitteln hergestellt werden konnte. Form follows Mangelwirtschaft.
Im Sozialismus sei dies Alltag für Formgestalter wie ihn gewesen, sagt John: "Mit der vorhandenen Technologie und den wenigen Ressourcen möglichst brauchbare Produkte für den Menschen zu machen. So einfach wie möglich und so wirkungsvoll wie möglich, mit dem geringsten Aufwand der Zielvorstellung am nähsten kommen." So wurde für die Weltzeituhr das Getriebe eines Trabants in seine Einzelteile zerlegt und neu zusammengesetzt.
"C'è un motore Trabant lì dentro." Die italienische Touristengruppe starrt ihre Führerin teilnahmslos an. Ein Trabantmotor bewege das alles. Tatsächlich ist der Antrieb schon immer elektrisch. Die Touristenführerin lässt nicht locker, ihre Asphaltmüden wachzurütteln: "Una piccola machina della DDR." Das kleine DDR-Auto, sagt sie. "La machina di cartone?" Das Pappauto, fragt einer. "Sì." Die Gruppenleiterin freut sich, als wäre bei einer Gameshow ein Tor aufgegangen. Unterdessen machen fünf Italiener:innen über 40 "Ah". Fünf unter 25 lassen beim Gähnen die Schultern noch ein Stück tiefer fallen.
"E che cos'è?" Was ist das nun, will einer der Älteren schließlich wissen? Nun sammelt die Touristenführerin ihren Hauptpreis ein und erklärt einer zumindest teilweise aufmerksamen Gruppe eine Berliner Ikone. Anschließend beginnt wieder der Tanz. Rom suchen, Köpfe in den Nacken, Arm lang, Finger ausgestreckt, Blick aufs Handy, Köpfe wieder hoch, "Ah-haaa...". Endpose: Gruppenselfie.
Erich John hält einen alten Bauhelm in der Hand. 30.9.1989 ist mit Filzstift auf der Oberseite festgehalten. "Vom 20. Jahrestag", sagt er. Alle die damals noch gelebt haben, seien noch einmal zusammengekommen. Der Helm ist mit Unterschriften übersät.
Gebaut wurde die Uhr von Arbeitern der Optischen Werke in Rathenow. Nach Feierabend. Allein mit DDR-Technik hätte der enge Zeitplan von neun Monaten Bauzeit nicht eingehalten werden können, sagt John. "Das große Kugellager für den drehenden Ring gab's in der DDR nicht." Er korrigiert sich direkt: "Das heißt - die gab es schon", bei den Kranbauern in Eberswalde zum Beispiel. "Aber Lieferzeit drei Jahre." Die Firma Rothe Erde konnte hingegen innerhalb von drei Monaten liefern. Allerdings hatte die ihren Sitz in Nordrhein-Westfalen. Der Ankauf musste deshalb vom Zentralkomitee der SED genehmigt werden.
"Eigentlich ganz schön fies", sagt der etwa 20 Jahre alte Spendensammler mit dem Stuttgarter Einschlag in der Zunge. "Die ganze Welt ist auf der Uhr zu sehen, aber niemand durfte das Land verlassen." Zwar war das Reisen in der DDR stark eingeschränkt. Viele Orte auf der Weltzeituhr waren tatsächlich für die Menschen unerreichbar. Seit dem Morgen versuchen der Spendensammeler und seine Mitstreiter:innen Leute anzusprechen, die auf den Ziffernring der Weltzeituhr starren. Theoretisch ein perfekter Ort, um Spenden einzusammeln. Viel schlenderndes Laufpublikum. Praktisch lassen sich zwar viele Personen ansprechen, etwa jede zweite zuckt dann aber mangels Deutschkenntnissen nur mit den Schultern.
Der Nachmittag ist angebrochen. Unter der Weltzeituhr heißt das: Soundcheck. Ein Mann Anfang 30 hat seine Beatbox aufgebaut und daneben einen Stapel CDs platziert. Er rappt ein paar Zeilen, ist erst unzufrieden mit der Lautstärke, dann mit dem Song. Er wechselt ein paar Mal die Tracks hin und her. Ein Mann mit Arbeitshose und freiem Oberkörper wippt schon mit, immer dem Takt etwas hinterher. Die Touristen versuchen Blickkontakt mit Rapper wie Tänzer zu vermeiden. Finger zeigen auf den bunten Ring der Uhr.
Zwei Männer Ende 50, Anfang 60 halten mit ihren E-Rädern unterhalb von Neu-Dehli. Sie sehen fertig aus, verschwitzt und durstig. Ihre Räder sind schwer bepackt. "Endlich am Ziel", prustet es mit rheinischem Dialekt. Wo sie wohl losgefahren sind? Sofort wird das Handy gezückt. Was soll denn drauf, fragt der eine. "Na, Uhr und Fernsehturm." Der Tonfall verdeutlicht: doofe Frage. "Hast du auch Bangkok drauf?" Ist mit drauf, versichert der Erste. Dann schauen sie sich um. "Wo kann man denn hier was essen?"
Von der Umgestaltung des Alexanderplatzes 1969 sei neben seiner Weltzeituhr eigentlich nur noch der Brunnen der Völkerfreundschaft so erhalten, sagt Erich John. So sei eben der Lauf der Zeit und schließlich habe sich der Alex schon immer verändert. "Laufend" quasi, sagt er mit einem Lächeln.
Aktuell wird wieder an vielen Ecken des Platzes gebaut. "Schade, dass ich schon so alt bin. Ich hätte furchtbar gerne mitgemacht." Besonders der Entwurf eines Hochhaus, das auf der Rückseite von Galeria Kaufhof entstehen soll, habe es ihm angetan. Der Entwurf erinnere ihn an die schnörkellosen Entwürfe von Mies van der Rohe, dem großen Bauhaus-Vordenker. "Aber mit über 90 ist man halt doch nicht mehr in der Lage dazu." Auf die Fahrt zum Alexanderplatz habe er heute keine Lust mehr.
Auf dem Dachboden hat John die Schätze seiner Karriere als Formgestalter aufgebaut: Ein Mikroskop, das wohl jedes DDR-Schulkind kennt, die Schreibmaschine Erika, Operngläser, Bestecksets. Und noch mehr Malereien. Landschaften auf Island, Fischer in Massachusetts oder Marokko, Freunde in einer mallorquinischen Bar. Es sind Dutzende Motive. Die meisten mit Acrylfarbe, einige Aquarelle, ein paar Ölgemälde sind auch dabei. Aber mit Öl male John nicht mehr so gern. "Das dauert einfach zu lange." Ein ganzes Leben steckt unterm Dach. Erinnerungen, Momente und die Gebrauchsobjekte, denen er eine Form geschenkt hat. Doch sein wahrer Schatz verstecke sich hinter dem Haus, sagt er.
Jenseits des kleinen, akkurat gehaltenen Gartens fällt eine Böschung ab. Ein alter Mühlengraben sei das, sagt John. Das Land gehöre der Stadt. Weil es zwischen den Grundstücken der Anwohner mäandert, habe sich nie jemand darum gekümmert. Nun ist es ein grünes Kleinod. Beim Betreten fällt die Temperatur spürbar ab, selbst ein heißer Sommertag bleibt außen vor. "Diese Bäume habe ich gepflanzt", sagt John. Ihre Kronen reichen 20, 25 Meter hoch. Mittendrin liegt ein Tümpel brach. Seerosen schwimmen darauf. Manchmal lege er sich hier einfach in den Schatten, sagt Erich John. "Dann genieße ich die Zeit."
Hinweis: Eine frühere Version dieses Textes enthielt leider fehlerhafte Angaben. So war zu lesen, dass Herr Johns Muttersprache Tschechisch gewesen sei. Das ist nicht korrekt. Auch die Angabe, dass die Weltzeituhr von einem Trabantmotor angetrieben wurde, war fehlerhaft. Tatsächlich wurde in den Rathenower Optischen Werken aus dem zerlegten Getriebe eines Trabants ein neues Getriebe für die Uhr geschaffen. Seit 1969 befindet sich diese Spezialanfertigung im Inneren der Weltzeituhr. Die entsprechenden Stellen wurden korrigiert. Wir bitten die Fehler zu entschuldigen.
Beitrag von Oliver Noffke
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