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Audio: rbb|24 | 20.10.2023 | O-Ton aus dem Interview mit Susanne | Quelle: Stadtmuseum Berlin/Jadama

Interview | Wohnungslose Frau aus Berlin

"Nicht alle sind versoffen, verludert und verwahrlost"

Susanne ist Rentnerin und hat keine Wohnung. Sie lebt in einem Berliner Wohnheim der Wohlfahrt. Dafür schämt sie sich. Trotzdem führt sie Menschen durch ihr Viertel und thematisiert ihre Situation. Sie möchte, dass die Betroffenen gesehen werden.

rbb|24: Guten Tag, Susanne. Können Sie kurz schildern, unter welchen Umständen Sie leben – was Ihr Obdach betrifft?

Susanne: Ich lebe seit dreieinhalb Jahren in einem Wohnheim für Wohnungslose eines anerkannten Trägers der allgemeinen Wohlfahrtspflege. Ich bin sehr gut untergebracht. Aus Schilderungen weiß ich, dass es da auch ganz andere Einrichtungen gibt. Leider gibt es keine einheitlichen Standards. Weder auf Bezirks- und schon gar nicht auf Landesebene.

Ich habe ein Zimmer für mich allein und kann mich völlig frei bewegen – also rein- und rausgehen, wann und wie ich möchte. Mein Zimmer hat eine Art Gästetoilette mit einem Handwaschbecken. Zum Duschen benutze ich die Gemeinschaftsdusche meiner Etage. Ähnlich verhält es sich mit der Küche. In meiner Unterkunft wohnen ungefähr 58 Menschen. Vorwiegend sind das Männer. Die Zimmer verteilen sich auf vier Etagen, eine davon wird nur von Frauen bewohnt.

Selbst Teile der Mittelschicht bedroht

Wohnungslosigkeit wird auch in Brandenburg zum Problem

In Brandenburg sind derzeit knapp 3.300 Menschen als wohnungslos registriert. Menschen, die gar auf der Straße leben, sind da noch gar nicht eingerechnet. Sozialverbände fordern nun, den sozialen Wohnungsbau deutlich nach oben zu fahren. Von Andreas B. Hewel

Wie kamen Sie in die Situation, wohnungslos zu sein?

Ich bin – ganz klassisch – zwangsgeräumt worden, weil ich Mietschulden hatte. Diese Schulden waren aufgelaufen, weil ich meinen Job als Rechtsanwalt- und Notargehilfin verloren und dadurch keine regelmäßigen Einkünfte mehr hatte. Ich konnte die Miete nicht mehr zahlen und war auch kaum in der Lage, mich sonst über Wasser zu halten. Das war eine desolate Situation. Mir sind in dieser Zeit auch verschiedene Verträge gekündigt worden wie Telefon und Internet. Sodass ich mich kaum, ohne das Haus zu verlassen, mit meiner Umwelt in Verbindung setzen konnte. So habe ich auch die Hilfsangebote, die es sicherlich gibt, nicht in Anspruch genommen. Ich habe mich eingeigelt und vergraben. Wie ein kleines Kind: Augen zu, dann sieht mich keiner.

Die Gerichtsvollzieherin hat mich dann anlässlich der Räumung an das zuständige Bezirksamt verwiesen, damit mir geholfen wird. Ich wurde dann meinem jetzigen Wohnheim zugewiesen. Ich habe zuletzt in Wilmersdorf gewohnt. Pikanterweise bin ich auch in Wilmersdorf untergebracht. Ich bin hier auch aufgewachsen, bin also in einer mir sehr vertrauten Umgebung untergekommen. Das ist einerseits sehr angenehm, weil ich mich mühelos orientieren kann.

Andererseits hat mich das sehr lange Zeit in meiner Bewegungsfreiheit behindert, weil ich immer in Sorge war, Bekannten zu begegnen, die dann fragen, wo ich inzwischen wohne. Darauf hätte ich keine Antwort parat gehabt. Und im Grunde genommen habe ich die auch heute noch nicht, obwohl ich mittlerweile mit meiner Situation relativ offensiv umgehe. Sonst hätte ich mich auch nicht für die Ausstellung zur Verfügung gestellt. Ich habe mich lange Zeit aus Scham unsichtbar gemacht.

Begriffsklärung

Unterschied zwischen Wohnungs- und Obdachlosigkeit

Auf der Straße gelebt haben Sie aber zu keinem Zeitpunkt. Also Sie waren nie obdachlos?

Nein. Ich musste nicht eine Minute auf der Straße verbringen. Ich hatte direkt nach der Zwangsräumung meinen Platz.

Was hätte Ihnen geholfen, den Verlust Ihrer Wohnung zu verhindern?

Zuallererst ein Job. Eine Beschäftigung, die einträglich genug gewesen wäre, dass ich meine Miete hätte zahlen können. Abseits davon aber auch beispielsweise die Unterstützung von Familie. Die ich durch die Situation verloren habe. Die Zwangsräumung hat mich komplett auf mich selbst zurückgeworfen – und das ist kein schöner Zustand.

 

Ist es in Ihrer Situation besonders schlimm, eine Frau zu sein?

Für mich persönlich spielt mein Geschlecht in dieser Situation überhaupt keine Rolle. Aber es gibt hier in dieser Schicksalsgemeinschaft die unterschiedlichsten Charaktere, Biografien und Schicksale, die aufeinanderstoßen. Außerdem hinterlässt die Situation, je länger sie anhält, bei allen Spuren.

Doch ich persönlich muss mich nur gerade aufrichten, die Schultern zurücknehmen und kann mir so schon über meine Körperhaltung Respekt verschaffen. Dazu sind andere Frauen nicht in der Lage. Und ja, da gibt es auch Versuche von Übergriffen und Auseinandersetzungen.

Nur weil man das gleiche Schicksal teilt, heißt es nicht, dass man sich auch gut versteht.

Es war schon herauszuhören: ohne Job keine Wohnung und ohne Wohnung kein Job. Ist das wirklich diese ganz klassische Negativspirale?

Ganz genau so ist es. Manchmal fühle ich mich an die Geschichte vom Hauptmann von Köpenick erinnert. Der konnte ja auch keinen Wohnsitz vorweisen, konnte deshalb keine Aufenthaltsgenehmigung vorweisen und ohne die keinen Wohnsitz bekommen. Und auch keine Arbeit.

#Wiegehtesuns? | Ehemalige Obdachlose

"2020 endet gut: Ich bin von der Straße weg"

Drei Jahre lang hat Andrea keine eigene Wohnung. Ausgerechnet im Coronajahr glückt ihr der Neuanfang. Jetzt lebt sie in den eigenen vier Wänden und will auch beruflich durchstarten. Wie hat sie das geschafft? Ein Gesprächsprotokoll.

Sie haben schon von der großen Scham, die Sie noch immer verspüren, berichtet. Ist die das Unangenehmste an ihrer Situation? Oder ist es besonders anstrengend, mit den Behörden klarkommen zu müssen?

Ach nein, die Behörden habe ich inzwischen eingenordet. Letztlich hat man es da auch nur mit Menschen zu tun, die gute oder schlechte Tage haben. Und ich war es ja auch schon von Berufs wegen gewöhnt, mit Menschen auf Behörden umzugehen.

Was mir am meisten zu schaffen macht, ist die teilweise entrechtete Situation. Die Bevormundung, der ich unterliege. Ich bin ja nicht frei in meinen Entscheidungen, sondern aufgenommen von Staates Gnaden. Ich bin dankbar, dass es diese Hilfsangebote gibt. Aber ich unterliege hier bestimmten Regeln, die ich größtenteils nachvollziehen kann, die ich aber nicht selbst gestalten kann. Ich muss mich ständig anpassen.

Ausstellung

"Mitten unter uns. Wohnungslose Frauen* in Berlin"

Worauf hoffen Sie? Sie sagten ja, ein Job hätte Ihnen geholfen, Ihre Wohnung zu behalten. Wäre eine Arbeitsstelle ein Wunsch?

Einen Job suche ich gar nicht mehr. Ich bin inzwischen in Rente. Ich kann mir Beschäftigungen suchen. Und über querstadtein habe ich das auch getan. Da haben wir eine Tour entwickelt, bei der ich durch eine Gegend führe, die mich wesentlich geprägt hat und in der ich mich auskenne und mit der ich immer verbunden war. Ich versuche, auf diese Art und Weise einerseits auf die verschiedenen Probleme wie Armut, Wohnungs- und Obdachlosigkeit hinzuweisen und andererseits auch auf die Mängel in der Wohnungswirtschaft – ganz allgemein aber auch im Hinblick auf den sozialen Wohnungsbau – aufmerksam zu machen. Das hilft mir. Damit bin ich sehr beschäftigt.

Ich versuche die Gäste meiner Führungen für die verschiedenen Problematiken zu sensibilisieren. Ich denke, man kann das besser nachvollziehen, wenn jemand aus persönlicher Sicht schildert, was es eigentlich heißt, wohnungslos zu sein und sich in Altersarmut zu befinden. Denn von Armut und Altersarmut werden in Zukunft ja noch mehr Menschen betroffen sein. Und auch alle sie sind dann vom möglichen Verlust ihrer Wohnung bedroht.

Sie sind ja auch als Protagonistin in der Ausstellung "Mitten unter uns. Wohnungslose Frauen* in Berlin" anzutreffen. Mussten Sie sich überwinden, Teil der Ausstellung zu sein?

Ich musste mich sehr überwinden. Denn ich trete damit ja aus der Anonymität heraus und präsentiere mich einer mir unbekannten Öffentlichkeit. Ich weiß ja nicht, wer in diese Ausstellung geht und wer mich da sieht. Das ist schon gewöhnungsbedürftig.

Aber nur wenn ich mir selbst und weiteren Betroffenen Gesicht und Stimme verleihe, kann auf das Problem hingewiesen werden. Und wir brauchen Öffentlichkeit und Empathie und Unterstützung. Denn es gibt viel zu viele Vorurteile und die gilt es, aufzubrechen.

Ich möchte erreichen, dass die einzelnen Menschen gesehen werden. Den es gibt nicht "die Obdachlosen" oder "die Wohnungslosen". Das ist keine homogene Gruppe, sondern es sind alles Individuen mit ihren eigenen Geschichten. Und die sollte man auch so sehen und nicht alle über einen Kamm scheren. Nicht alle sind versoffen, verludert und verwahrlost. Hier im Haus leben Menschen, die ihre Wohnung verloren haben, aber nach wie vor arbeiten gehen. Wäre ich nicht Rentnerin, würde ich vielleicht auch vom Wohnheim aus weiterhin arbeiten gehen.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24

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