Interview | Konfliktforscher
Auf der Solidaritätsbekundung für Israel am Brandenburger Tor forderten mehrere Redner, sich klar zu positionieren. Doch in einem komplexen Konflikt kann Empathie für beide Seiten existieren, sagt Konfliktforscher Jannis Grimm von der FU Berlin.
Jannis Grimm: Es ist aus einer Mobilisierungslogik heraus nachvollziehbar, klare Antagonismen zu ziehen, um Leute dazu zu bringen, sich Protesten anzuschließen und auf die Straße zu gehen. Gleichzeitig gibt es auch einen Gegeneffekt: So ein Aufruf kann suggerieren, dass alle, die nicht bei der Demo erscheinen, auf Seiten von Hamas stehen. Es stellt den Konflikt vereinfacht dar als einen zwischen lediglich zwei Seiten. Dabei ist der Schluss natürlich zu kurz, dass die Nichtteilnahme an einer uneingeschränkten Solidarisierung mit Israel automatisch im Umkehrschluss bedeutet, man würde die Gräueltaten der Hamas unterstützen oder ignorieren. In der Realität ist die Position vieler Menschen oft einfach sehr viel differenzierter und entzieht sich dichotomen Konfliktlogiken.
Diese Aufrufe führen zu einem hohen Erwartungsdruck unter Menschen, die vielleicht eine differenzierte Sicht zum Konflikt haben und deswegen beispielsweise gar nicht auf die Straße gehen – also auch nicht auf Solidaritätskundgebungen mit Palästina. Das betrifft etwa jene, die sagen, es liege gar nicht in ihrem Ermessen, sich jetzt für oder gegen eine Seite dieses Konflikts zu entscheiden. Es ist keine Frage von persönlichen Präferenzen, wer als Mensch behandelt werden darf und wer nicht. Es ist keine Frage der individuellen Entscheidung, wer welche Rechte hat und wer nicht. Und vielleicht möchte man sich eben mit allen Opfern von Gewalt und Missbrauch solidarisieren.
Derzeit herrscht bei vielen leider die Wahrnehmung, dass man sich für eine Seite entscheiden und dabei implizit die andere komplett ausblenden muss. In der Wirklichkeit ist Empathie aber eben kein Nullsummenspiel. Trauer und Solidarität kann man durchaus mehreren Seiten geben, insbesondere der Seite der zivilen Bevölkerung, die sowohl in Israel als auch in Palästina am meisten unter diesem Konflikt leidet.
In Freundeskreisen oder in familiären Zusammenhängen führt das natürlich zu Konflikten. Gleichzeitig ist aber eine Dimension viel maßgeblicher: die gesellschaftliche Dimension. Es wird von vielen Menschen wahrgenommen, insbesondere von Menschen, die einen muslimischen oder arabischen Hintergrund haben, dass von ihnen eine Haltung erwartet wird. Sie müssen jetzt beweisen, dass sie Teil der deutschen Gesellschaft sind und da Farbe bekennen. Da stellt sich dann durchaus die Frage: Warum sollen ausgerechnet wir das tun? Und wo können wir unsere differenzierten Sichtweisen ausdrücken?
Es gibt wenige Konflikte, die hierzulande so sehr polarisieren und politisieren wie der Konflikt in Nahost, der ja untrennbar mit der deutschen Geschichte verbunden ist. Es ist in der Dimension aber sicherlich neu, die Eskalation ist ja auch in ihrer Dimension eine ganz andere als bisher. Das Leid erreicht ebenfalls ein seit Jahrzehnten nicht mehr dagewesenes Ausmaß. Aber grundsätzlich ist es immer schon ein Spagat gewesen für all jene, die einerseits Empathie für Opfer in Israel zeigen wollten, aber andererseits auch darauf hinweisen wollten, dass die Opfer in Gaza oder in der Westbank nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Für diejenigen war es immer schon sehr schwierig in Deutschland, nicht zwischen die Mühlen von zwei polarisierten Lagern zu kommen.
Ich überspitze das jetzt mal: Zwischen dem Lager, das Israel als Repräsentanten einer kolonialen und imperialistischen westlichen Politik im Nahen Osten betrachtet, die da nichts verloren hat. Und einem anderen Lager, das vor allem die existenzielle Bedrohung Israels seit seiner Staatsgründung, sein uneingeschränktes Selbstverteidigungsrecht und die deutsche historische Verantwortung dabei, an Israels Seite zu stehen, betonen.
Wie auch immer man zu diesen Polen steht, es ist eine empirische Tatsache, dass diese beiden antagonistischen Positionen in Deutschland derzeit koexistieren und das Spannungsfeld abstecken, in dem sich Menschen mit persönlichem Bezug zu diesem Konflikt bewegen. Dazwischen befinden sich insbesondere diejenigen, die versuchen, eine Mittelposition oder eine differenziertere Position einzunehmen. Und die qua dieser "with us or against us"-Logiken in Richtung einer der zwei Pole gezwungen werden - das vielleicht aber gar nicht wollen.
Die traditionellen oder klassischen Medien spielen in diesem Konflikt aktuell eine eher vermittelnde Rolle. Es ist dem hohen journalistischen Ethos vieler Berichterstattenden zu verdanken, dass diese Polarisierung nicht noch viel stärker vorangeschritten ist.
Was wir dagegen schon beobachten können, ist die eskalative Rolle von sozialen Medien, insbesondere X [ehemals Twitter]. Dort werden News oder Posts, die besonders emotionalisierend sind, über Algorithmen gepusht. Und häufig bleibt die Quellenkritik dabei auf der Strecke oder es werden so sehr schnell Fake News verbreitet.
Das führt dazu, dass die Emotionen sehr schnell hoch wallen, dass Leute sich auch gegenseitig blockieren und so immer stärker mit den Bildern konfrontiert sind, die ihre eigene Meinung bestärken. Das führt dazu, dass wir nahezu in Echtzeit mit Bildern von der Brutalität dieses Krieges konfrontiert sind. Gleichzeitig verstärken sich so aber auch Gerüchte, welche etwa die ohnehin schon in ihrer Grausamkeit kaum zu beschreibenden Gräueltaten der Hamas noch zusätzlich ausschmücken.
Umgekehrt gehen aber auch Posts über die Folgen der Luftangriffe durch die israelische Armee in Gaza schnell viral – manchmal mit Bildern, die das tatsächliche Ausmaß der Zerstörung zeigen, manchmal aber auch durchmischt mit Fotografien, die eigentlich aus anderen Konflikten wie Syrien stammen. Insofern diese Diskurse gewisse Kreise in ihrer Meinung bestärken, führen sie dazu, dass verschiedene Teile der Öffentlichkeit immer segmentierter voneinander sind und kaum mehr zueinander sprechen.
In diesem Kontext befinden sich Journalisten, insbesondere großer Zeitungen und großer Nachrichtenagenturen, die auf einmal Kritik von allen Seiten abkriegen, weil sie zum Beispiel nicht schnell genug Verantwortung zuweisen für ein Bombardement eines Krankenhauses. Sie fühlen sich der Quellennachvollziehbarkeit, der Transparenz verpflichtet, versuchen auf Langsamkeit und Mäßigung in einem Konflikt hinzuwirken. In einem Konflikt wie diesem, wo die Dynamiken sich so schnell selbst wiederholen, ist es jedoch fast nicht möglich mitzuhalten. Gleichwohl ist es umso wichtiger, dass Journalist:innen diese Rolle übernehmen und eine Art von Ruhepol bieten.
Es gibt immer die große und auch berechtigte Sorge, dass eine Kontextualisierung von Gewaltdynamiken als Legitimierung derselben herangezogen wird. Gleichzeitig ist es für nahezu jeden, der sich akademisch mit dem Konflikt beschäftigt, vollkommen klar, dass die Geschichte der Konfrontationen zwischen palästinensischen Organisationen und der israelischen Armee und die Blockade von Gaza über die letzten Jahrzehnte einen maßgeblichen Kontext bildet, in dem Hamas so stark geworden ist, wie sie das heute ist. Das darzulegen und anzuerkennen heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass man es dadurch verteidigen oder schönreden will. Da gibt es nichts schönzureden.
Aber um an die Ursachen zu gehen, muss man Verständnis dafür entwickeln, in welchem Besatzungskontext diese Dynamiken stattfinden. Die Sorge davor, sehr schnell als "Hamasversteher:in" oder "Islamistenversteher:in" eingeordnet zu werden, ist indes ein sehr abschreckender Faktor für sehr viele Fachkolleg:innen, sich zu dem Konflikt zu äußern.
Das ist einer der meist erforschtesten Konflikte der Welt. Aber es ist eben in einer wahnsinnig emotionalisierten und aufgeheizten Öffentlichkeit auch ein Thema, in dem eine unbedachte Wortwahl sehr stark in Entrüstung ausschlagen kann und wo man sehr wenig Kontrolle hat über die Interpretation der eigenen Worte.
Die Gefahr, falsch verstanden oder misinterpretiert zu werden, gilt umso mehr, wenn jene Fachkolleg:in einen arabischen Namen haben oder Muslime sind. Weil sie immer wieder in die Verlegenheit gebracht werden, sich ganz explizit von Terror distanzieren zu müssen, bevor sie überhaupt zu diesem Thema als sprechfähig anerkannt werden - was ja eigentlich selbstverständlich sein sollte.
Wenn sich Muslime oder Araber aber explizit gegen Terrorismus positionieren sollen, werden sie nicht als gleichberechtigte Bürger behandelt, sondern als potentiell extremistische Fremdkörper. Von dieser Unterstellung können sie sich erst durch ein öffentliches Bekenntnis freimachen. Die Ablehnung dieses Erklärungsdrucks ist für viele ein gewichtiger Grund, sich nicht öffentlich zu äußern, wegen angeblicher Sympathien mit islamistischen Organisationen – ein Druck, der für viele auch deshalb unverständlich ist, weil Menschen muslimischen Glaubens weltweit bei weitem den größten Anteil an den Opfern islamistischer Anschläge ausmachen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Helena Daehler.
Sendung: rbb24 Inforadio, 23.10.2023, 17:30 Uhr
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