Gewalt in Beziehungen
Schläge, Erniedrigungen, Überwachung des Handys: Gewalt in Beziehungen kann viele Formen annehmen. Die Opfer sind meist Frauen. Mithilfe einer neuen App sollen sie sich besser schützen können - und Täter vor Gericht bringen. Von Philip Barnstorf
Fast eine Viertelmillion Menschen, meist Frauen, sind 2022 in Deutschland Opfer häuslicher Gewalt geworden. Ein Anstieg um 8,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Und das sind nur die vom Bundeskriminalamt erfassten Fälle. Die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen.
Stefanie Knaab will das nicht hinnehmen. "Ich bin selbst durch die Gewaltspirale in einer Beziehung gegangen", sagt sie. "Erst wurde der Täter subtil und dann immer offensichtlicher übergriffig. Dann entschuldigte er sich groß mit Blumen, Schmuck und vermeintlich romantischen Aktionen. Aber dann passierte die Gewalt immer wieder."
Sie habe es schließlich geschafft, sich aus der Beziehung zu befreien. Im Nachhinein sagt sie: "Für mich war es damals sehr schwer, die Struktur der Gewalt zu erkennen." Viele Frauen wüssten nicht, dass der Partner psychische Gewalt ausübt, wenn der Partner sie fortwährend verbal degradiert. Knaab entwickelte deshalb die Idee zu einer App, die das Bewusstsein der Frauen stärken und die Dokumentation der Gewalt erleichtern soll.
2020 gewann Knaab bei einem Hackathon der Bundesregierung den Auftrag, gemeinsam mit Experten von Opferschutzverbänden, Rechtsmedizin, Kriminologie und Polizei ihre App-Idee zu verwirklichen. Inzwischen finanziert das Bundesinnenministerium nach eigener Aussage die Entwicklung und den Rollout mit 3,72 Millionen Euro.
Die derzeit als Pilotprojekt laufende App ist bewusst geschützt und wird derzeit von Betroffenen getestet. Um die Glaubwürdigkeit und Integrität der App zu gewährleisten, stellen Knaab und ihre Mitarbeiter sie nicht öffentlich jedem zur Verfügung. "Unsere App gelangt nur an Frauen, die wirklich betroffen sind", sagt Knaab. Wie sie das genau machen, will sie nicht sagen, auch weil viele Täter ihre Opfer stark kontrollierten. "Wir haben mehrere Verteilungskanäle und erreichen die Frauen an ihren alltäglichen Orten."
Derzeit benutzen mehr als 1.000 Frauen, die in ihren Beziehungen häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, das Programm. Dabei müssen sie sich nicht anmelden oder identifizieren, aus gutem Grund: "Das Thema häusliche Gewalt ist immens stigmatisiert", sagt Knaab. "Viele Frauen trauen sich nicht, sich jemandem anzuvertrauen, und ihnen wird sehr häufig auch nicht geglaubt."
Die App zeigt den Frauen daher anonyme Aussagen anderer Gewaltopfer, wie etwa: "Ich habe in meiner Beziehung das Gefühl, dass ich nichts richtig machen kann", oder: "Mein Partner kontrolliert meine finanziellen Ausgaben". Die Nutzerinnen können diesen Sätzen dann zustimmen oder sie ablehnen. So sollen die Frauen merken, dass sie nicht alleine sind mit solchen Problemen.
Außerdem empfiehlt die App entsprechend der Antworten Hilfsangebote wie etwa spezielle Beratungsstellen oder regionale Frauenhäuser. "Weil viele sich nicht trauen, sich Unterstützung zu holen, wollen wir hier eine Brücke bauen", sagt Knaab, die die App gemeinsam mit acht Mitarbeitern im Verein Gewaltfrei in die Zukunft betreibt.
Häusliche Gewalt ist vor Gericht häufig schwer nachzuweisen. Viele Opferanwälte raten ihren Klientinnen daher, die Täter gar nicht erst vor Gericht zu bringen, um sich einen quälend langen Prozess mit ungewissem Ausgang zu sparen. Um hier Abhilfe zu schaffen, sollen Frauen mithilfe der App die gegen sie gerichtete Gewalt so dokumentieren, dass sie sie vor Gericht besser beweisen können. So können Frauen in der App Beschreibungen der Gewalt und Fotos etwa von Verletzungen oder Sachbeschädigungen machen und speichern.
"Wir ersetzen damit kein rechtsmedizinisches Gutachten", sagt App-Gründerin Knaab, "Aber wenn Frauen die Gewalt immer wieder beschreiben, und/oder entsprechende Fotos hochladen, unterstützt dies den Gerichtsprozess und die Glaubwürdigkeit."
Gemeinsam mit ihren Mitarbeitern sowie Experten vom Niedersächsischen Landeskriminalamt und der Berliner Innensenatsverwaltung wertet Knaab das anonyme Nutzerinnenverhalten aus, um das Programm weiterzuentwickeln. Gerade arbeitet das Team zum Beispiel daran, einen sogenannten "stillen Notruf" einzurichten. Wenn Frauen ihre Adresse in der App hinterlegt haben, sollen sie mit einem Knopfdruck die Polizei rufen können. Dabei müssen die Frauen nicht sprechen. Das könne wichtig sein, wenn der Partner etwa vor der Tür steht und sie bedroht.
Knaab und ihre Mitstreiter arbeiten außerdem an einer Funktion, mit der Frauen Fotos, die sie schon auf ihrem Handy haben, als Beweismaterial hochladen können. "Betroffene haben uns mitgeteilt, dass sie von ihren Partnern per Whatsapp bedroht werden oder hunderte kontrollierende Anrufe bekommen", sagt Knaab. "Wir wollen es deshalb einrichten, dass die App auch Screenshots dieser Nachrichten speichern kann."
Derzeit wird die App in Pilotprojekten in Berlin und Hannover getestet. Nächstes Jahr soll sie in ganz Niedersachsen verfügbar sein und in Berlin sollen weitere Verteilungskanäle hinzukommen. "Ab 2025 wollen wir die App auch in weiteren Bundesländern anbieten", sagt Knaab. "Wir haben schon viele Anfragen."
Beitrag von Philip Barnstorf
Artikel im mobilen Angebot lesen