Verdrängung von Suchtpraxen in Berlin
Mehr als 130 heroinabhängige Suchtkranke bekommen in der Praxis in der Köpenicker Straße Hilfe - aber vielleicht nicht mehr lange, denn der Mietvertrag ist in Gefahr. Und die Suchtpraxis am Schlesischen Tor in Kreuzberg ist nicht die einzige, die auf der Kippe steht. Von Anja Herr
Andrea war mal heroinabhängig, in den 80er Jahren. Dann wurde sie wieder clean - und danach wieder rückfällig. Geholfen hat ihr schließlich die Praxis am Schlesischen Tor: Hier holt sie ihr Rezept für Methadon-Tabletten, hier kennt sie den Apotheker, hier redet sie mit ihrem Arzt. "Ich brauche hier keine Angst zu haben. Das ist mein Arzt, mein Beichtvater", sagt Andrea, und schaut zu Volker Westerbarkey. Dann lachen die beiden laut.
Volker Westerbarkey und Andrea kennen sich seit mehr als zehn Jahren. Der Arzt erkundigt sich nicht nur nach dem Gesundheitszustand seiner suchtkranken Patientin, sondern auch nach ihrer Tochter. Er weiß, dass diese Tochter eine wichtige Stütze ist - und dass auch er zur Stabilität in Andreas Leben beiträgt: "Eine tragfähige, stabile Beziehung zwischen Arzt und Patient ist das Wichtigste", sagt er.
Aber genau solche Beziehungen sind jetzt in Gefahr: Die Eigentümerin der Räume, die luxemburgische Kapitalgesellschaft BR Rhein Sàrl, möchte in Zukunft nicht mehr an die Gemeinschaftspraxis vermieten. Für die mehr als 5.000 Patienten, die hier pro Jahr versorgt werden, ist das ein echtes Problem. Denn andere Räume im Bezirk zu finden, scheint nahezu unmöglich. Die zuständige Hausverwaltung, die Residea Immobilien Management GmbH, will sich gegenüber rbb24 nicht äußern.
Ursprünglich sollte die Praxis bereits zum 1. Januar weichen. "Aufgrund des Protests und mit politischer Unterstützung wurde nun eine Verlängerung des Mietvertrags bis Ende Juni 2024 erreicht", teilte die Praxis mit. Das sei aber keine langfristige Lösung. Auch bis dahin sei es unwahrscheinlich, andere Räume im Kiez zu finden. "Wir haben viele Klienten aus dem Bereich Görlitzer Park und Wrangelkiez. Wenn das Angebot für diese Menschen wegfällt, wird das sicher zu noch mehr Problemen mit suchtkranken Menschen führen, die nicht versorgt werden", befürchtet Volker Westerbarkey. Er geht davon aus, dass manche Patienten ihre Therapie dann abbrechen – mit fatalen Folgen.
Auch der Bezirk hält die Situation für problematisch – zumal Ende 2021 bereits eine weitere Anlaufstelle für Suchtkranke in Kreuzberg weichen musste: Damals wurde der Mietvertrag des Drogennotdienstes am Checkpoint Charlie nicht verlängert. 350 Patienten wurden dort damals versorgt. Die Einrichtung ist nun in Spandau gelandet – für einige der ursprünglichen Klienten ist das nur schwer erreichbar. Sollte nun auch die Praxis am Schlesischen Tor verdrängt werden, sehe sie ein Problem auf Friedrichshain-Kreuzberg zukommen, sagt Bezirkssprecherin Sara Lühmann: "Die Versorgung der Menschen wäre auf jeden Fall gefährdet."
Laut Lühmann gibt es viele Menschen mit Suchtmittelerkrankungen im Bezirk, die auf spezialisierte Praxen angewiesen sind: "Die können auch häufig nicht quer durch die Stadt fahren, die brauchen das Angebot in Wohnortnähe. Da sind wir sowieso schon unterversorgt, und jede weitere Schließung ist ein echtes Problem." Es gebe auch keine alternativen Räumlichkeiten, die der Bezirk zur Verfügung stellen könne. Man habe bereits Kontakt zum Vermieter aufgenommen, auch zu städtischen Wohnungsbaugesellschaften - bislang ohne Erfolg.
Hinzu kommt, dass die Zahl der suchtmedizinisch qualifizierten Ärzte berlinweit stark rückläufig ist - und dieser Trend setze sich fort, teilt die Landessuchtbeauftragte Heide Mutter rbb24 mit: "In den nächsten Jahren werden viele Suchtmediziner aus Altersgründen ihre Praxen abgeben oder ihre Tätigkeit beenden. Ein entsprechender Nachwuchs im Bereich der Suchtmedizin oder an Fachärzten für Psychiatrie steht nicht zur Verfügung." Bereits jetzt seien Außenbezirke wie Marzahn-Hellersdorf stark unterversorgt. Die Landessuchtbeauftragte verweist darauf, dass der Sicherstellungsauftrag der ärztlichen Versorgung der Kassenärztlichen Vereinigung obliegt – die Senatsverwaltung sei mit ihr bereits seit längerem im Gespräch, um angesichts der schwierigen Versorgung alternative Modelle zu entwickeln.
Die Kassenärztliche Vereinigung bewertet die Situation etwas anders. "Insgesamt versorgen in Berlin 120 Ärzte etwa 3.800 Patient:innen mit dieser Suchtproblematik. Aus Sicht der KV Berlin ist die Versorgungslage anhand dieser Zahlen ausreichend", teilt die KV rbb|24.de auf Anfrage mit. In Friedrichshain-Kreuzberg stünden 20 Praxen zur Verfügung, die Substitutionsbehandlung für Suchtkranke anbieten.
Aber auch die KV fände es problematisch, wenn die Praxis am Schlesischen Tor wegziehen müsste: "Dadurch würde das über Jahre aufgebaute Arzt-Patientenverhältnis gefährdet, das die Basis einer erfolgreichen Suchtbehandlung darstellt", schreibt sie. Die Patienten seien oft nicht so mobil, dass sie Wege zu neuen Standorten bewältigen können. Damit stünde eine über Jahre erfolgte Behandlung für viele Betroffene vor dem Aus.
Und nicht nur die Praxis am Schlesischen Tor sei von Verdrängung bedroht: "Die hohen Gewerbemieten sind in Berlin ein ernsthaftes Problem für die ambulante Versorgung geworden", so die KV. Die Verdrängung von Praxen, die keine bezahlbaren Gewerberäume mehr finden, betreffe immer mehr niedergelassene Ärztinnen und Ärzte. Senat und Bezirke seien in der Verantwortung, das Thema Gewerbemieten anzugehen und bei der Suche nach Räumlichkeiten zu unterstützen.
Für den Arzt Volker Westerbarkey und seine Patientin Andrea geht es nun erstmal um die Gemeinschaftspraxis am Schlesischen Tor. Sie haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass der Vermieter ihnen vielleicht doch eine langfristige Perspektive gibt.
Deshalb protestieren sie am Mittwoch mit einer gemeinsamen Kundgebung vor der Praxis in der Köpenicker Straße 1 gegen das Verschwinden der Praxis von diesem Standort. Unterstützt werden sie dabei von Bundestagsabgeordnete und Initiativen aus dem Kiez.
Sendung: rbb24 Abendschau, 20.11.2023, 19:30 Uhr
Beitrag von Anja Herr
Artikel im mobilen Angebot lesen