Internationaler "Orange Day"
Die meisten denken bei Gewalt gegen Frauen an körperliche Übergriffe, doch häusliche und partnerschaftliche Gewalt fängt oft subtiler an. Wie Betroffene "Red Flags" erkennen, wo sie Hilfe finden und wie Angehörige und Bekannte unterstützen können. Von Jenny Barke
Manchmal kann der Weg in eine gewalttätige Beziehung mit einem gut gemeintem Vorschlag beginnen. Eine Frau möchte mit dem Rauchen aufhören, der Partner empfiehlt ihr, sich nicht mehr mit der rauchenden Freundin zu treffen. Eine Frau möchte abends das Haus verlassen, der Partner empfiehlt ihr, zu Hause zu bleiben, weil es im Dunkeln zu gefährlich sei. Es sind zwei von vielen Fällen, der Sama Zavaree in ihrer Praxis begegnen. Sie ist Koordinatorin bei der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen BIG e.V. Täglich rufen bei der Initiative Frauen an, die Schutz, Hilfe oder Beratung suchen.
"Die meisten denken an körperliche Gewalt, an das Schlagen, Schubsen, Treten. Dabei beginnt Gewalt bereits dann, wenn es ein Ungleichgewicht gibt", erklärt Zavaree. Meist werde die Person heruntergemacht, herabgesetzt, beschimpft und lächerlich gemacht.
Gewalt kann sich in verschiedensten Formen ausdrücken. So unterscheiden Expertinnen und Experten unter anderem zwischen sozialer, psychischer, digitaler und sexueller Gewalt.
Einer Frau ihrem Umfeld zu entziehen, wie in den anfänglichen Beispielen, gehört zur sozialen Gewalt. Sukzessive wird die Frau von ihren Angehörigen und Freunden getrennt. "Ein eindeutiger Indikator ist, wenn das Umfeld schlecht gemacht wird", so Zavaree. Es fielen dann Sätze wie 'Triff doch deine Schwester nicht, du hast dich doch sowieso immer über sie beschwert!'. Dann werde oft der Druck erhöht, Kontrollanrufe folgten, das Handy werde überwacht.
Auch wirtschaftliche Gewalt spielt oft eine Rolle, ebenfalls kann diese subtil beginnen: Der Partner mimt den Gönner und Versorger, empfiehlt der Frau, zu Hause zu bleiben, teilt ihr Haushaltsgeld zu. "Dann wird das Thema Arbeiten immer abstrakter, auch, weil der Typ gesagt hat: 'Das schaffst du nicht, ich biete dir ein gutes Leben!', und die Frau traut sich das Arbeiten nicht mehr zu."
Weil sich das Ungleichgewicht oftmals langsam aufbaut und subtil ist, zweifeln viele Frauen anfangs daran, Betroffene von Gewalt zu sein. Diese Entwicklung beschreibt auch Ev von Schönhueb. Sie ist Sozialarbeiterin bei der Berliner Fachberatungs- und Interventionsstelle Frauenraum. Wie Sama Zavaree steht sie von Gewalt betroffenen Frauen beratend zur Seite. "Trotz der Gewalt ist da immer noch derselbe Mensch, da ist immer noch Liebe trotz der Tat und für die Frauen ist es sehr schwer, sich daraus zu lösen", sagt von Schönhueb.
Der erste Schritt heraus aus der Gewalt ist es deshalb, diese als solche erkennen zu lernen. "Wichtig ist, dem eigenen Gefühl zu trauen und sich nicht zu fragen, ob das normal ist oder nicht. Wenn ich mich das frage, dann ist schon etwas im Argen", sagt Zavaree. Sogenannte Red Flags, also Warnzeichen in einer Beziehung seien zum Beispiel wiederholte Aufforderungen, etwas zu tun, was die Frau nicht möchte. "Wenn sie aufgefordert wird, bestimmte Kleidung zu tragen, Alkohol zu trinken oder Drogen zu konsumieren, beim Sex gefilmt zu werden - wenn die Frau das nicht will, dann ist es Nötigung."
In einer nächsten Eskalationsstufe wiederholen sich diese Muster. Erst wird die Frau schlecht gemacht, dann folgt die Entschuldigung. Erst gibt es einen schlimmen Streit, der völlig unverhältnismäßig wirkt, dann folgen rote Rosen. Erniedrigung, Entschuldigung, Erniedrigung, Entschuldigung.
Von außen betrachtet mag es leicht sein, über dieses toxische Verhalten zu urteilen. Doch die Expertinnen warnen davor, Frauen dafür zu verurteilen, die die Mechanismen nicht erkennen oder ihnen nicht so leicht entfliehen können. "Gewalt gegen Frauen richtet sich gegen alle Frauen, jeden Alters und ist gesellschaftlich in allen Schichten vertreten", sagt von Schönhueb. Und Zavaree ergänzt: "Zum Beispiel in einer gutbürgerlichen Beziehung nach zehn Jahren zu sagen, ich habe die ganze Zeit Gewalt erlebt, ist extrem schambehaftet."
Dabei sei es enorm wichtig, dass Betroffene sich anderen Menschen anvertrauen. Da seien Verurteilungen kontraproduktiv, kritisiert von Schönhueb: "Zum Teil üben dann die Angehörigen der Frauen Druck aus, dass die Frau die Familie nicht zerstören soll. Dabei ist es doch eigentlich andersrum bei häuslicher Gewalt: Der Mann zerstört die Familie." Auch Zavaree beobachtet diese Dynamiken: "Viele aus dem Umfeld fragen die Frauen dann: 'Warum bist du nicht früher gegangen?' Dabei sollten wir als Freundinnen, Schwestern, als Gesamtgesellschaft diese Frage gar nicht so stellen."
Stattdessen sollten ins Vertrauen gezogene Personen dabei unterstützen, dass die Betroffenen kleine Schritte gehen. Zum Beispiel ein unverbindliches und anonymes Beratungsgespräch bei BIG e.V. oder dem Berliner Frauenraum vereinbaren, könne ein erster Schritt sein, sagt BIG-Koordinatorin Zavaree: "Ganz wichtig ist uns, dass die Frauen wissen, dass wir ihnen glauben. Und wir helfen ihnen bei allem, der Anzeige bei der Polizei und der Rechtsberatung, der Wohnungssuche. Aber alle Entscheidungen liegen bei der Frau."
Auch die gesamte Gesellschaft sei bei der Unterstützung in der Verantwortung, sagt von Schönhueb: "Wenn ich als Nachbarin oder Nachbar etwas mitbekomme, sollte ich mich einmal mehr trauen, die Polizei zu rufen. Dann hat die Frau selbst nicht die Polizei gerufen und bekommt nicht den Zorn des Partners ab. Es kann dann ein Missverständnis sein, aber manchmal sind diese Notrufe auch lebensnotwendig und lebensrettend."
Die Zahl der Fälle von häuslicher Gewalt nehmen seit Jahren zu. In einem im Sommer veröffentlichten Lagebericht des Bundesinnenministeriums [bmi.bund.de] wurden vergangenes Jahr 240.547 Opfer registriert - im Schnitt 659 Fälle täglich. Das entspricht einem Anstieg um 8,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr 2021. 71,1 Prozent der Opfer waren weiblich.
Bei der Partnerschaftsgewalt waren im vergangenen Jahr 80,1 Prozent der Opfer weiblich. In 39,5 Prozent der Fälle ging die Gewalt demnach von ehemaligen Partnerinnen und Partnern aus, in 31,1 Prozent von Ehepartnerinnen und Ehepartnern, in 29,1 Prozent von Partnerinnen und Partnern nichtehelicher Lebensgemeinschaften.
Unklar bleibt, warum die Zahlen steigen. Es könnte an einer gestiegenen Anzeigenbereitschaft liegen oder an einer tatsächlichen Zunahme der Gewalt. Doch die Studienlage dazu ist dünn, kritisiert Elisabeth Oberthür von der Frauenhauskoordinierung. Der Verein mit Sitz in Berlin unterstützt Frauenhäuser und Fachberatungsstellen bundesweit, versucht das Hilfesystem weiterzuentwickeln und die Forderungen der Frauenhäuser in die Politik zu tragen. "Es gibt ganz viele Fragen, wo wir, um sinnvolle Maßnahmen zu ergreifen, zunächst valide Daten zu den kausalen Zusammenhängen benötigen", sagt Oberthür.
Ihre Liste an Beispielen ist lang: Es gebe keine Erfassung, wie viele Frauen jedes Jahr nicht in Frauenhäusern aufgenommen werden können. Es gebe in Deutschland nicht ausreichend systematische Erfassung zu Femiziden und ihren Vorgeschichten – die wichtig wäre, um die Tötungen verhindern zu können. Es gebe in den polizeilichen Statistiken keine Auskünfte, wie Gewalt an Kindern, Familienmitgliedern oder neuen Partnern mit Fällen von Partnerschaftsgewalt zusammenhängt.
Das größte Defizit sieht Oberthür beim Dunkelfeld. Das Hellfeld zeigt nur die gemeldeten Fälle der polizeilichen Kriminalstatistik. Die aktuellste Studie über das Dunkelfeld in Deutschland ist von 2005 [bmfsfj.de]. Letztmalig valide Daten zum Dunkelfeld wurden EU-weit 2012 erhoben [fra.europa.eu]. Damals hatte jede dritte Frau angegeben, seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren zu haben. Die Zahlen sind lange überholt - und auch noch sehr geschlechterbinär erfasst. "Eine neue Studie sollte beispielsweise auch auf Gewalt gegen queere Menschen oder TIN*-Personen* eingehen", wünscht sich Oberthür.
Das Bundesinnenministerium hat im Sommer gemeinsam mit dem BKA eine neue Dunkelfeldstudie gestartet. Erste Ergebnisse werden für 2025 erwartet.
Neben Studien fehlt es auch an Plätzen für gewaltbetroffene Frauen. Die Istanbul-Konvention des Europarats ist ein internationales Abkommen zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Seit 2018 in die Konvention auch in Deutschland geltendes Recht. Die Istanbul-Konvention empfiehlt, pro 10.000 Einwohnern einen Familienplatz im Frauenhaus zu schaffen. Ein Familienplatz sind 2,5 Plätze, für eine Frau und 1,5 Kinder - so die Statistik. Theoretisch müsste Berlin also 900 Frauenhausplätze anbieten, kommt aber trotz eines neu eröffneten Frauenhauses nur auf knapp die Hälfte der Plätze.
Je nach Infrastruktur müssten gefährdete Frauen im ungünstigsten Fall mehrere Stunden per Stunden Bus und Bahn fahren, so Oberthür. Und bis Anfang des Jahres galt in dem Flächenland auch noch, dass sich Frauen an den Kosten im Frauenhaus beteiligen mussten - pro Platz etwa zehn Euro pro Person und Nacht. "Wir brauchen nicht nur mehr Plätze, sondern auch eine andere Qualität der Plätze. Sie müssten für alle Frauen ungeachtet ihrer Lebenssituation kostenlos und barrierefrei zugängig sein, egal, wo in Deutschland sie leben." Die wenigsten Frauenhäuser seien beispielsweise für Frauen mit körperlichen Behinderungen zugänglich.
Doch das sei keine Aufgabe, die Berlin oder Brandenburg allein lösen könnten. Dafür bräuchte es aus Sicht der Frauenhauskoordinatorin dringend eine bundesweite einheitliche Gesetzgebung für eine langfristige Finanzierung. "Es darf nicht davon abhängen, wo man lebt, zu welchen Bedingungen man Schutz findet." Es sei in Deutschland noch nicht angekommen, dass das eine gesamtgesellschaftliche und ressortübergreifende Aufgabe sei. "Das ist nichts, was ein kleines Bundesfamilienministerium tragen kann, was traditionell eher wenig Budget hat. Das ist auch eine Frage der inneren Sicherheit und eine justizielle Frage."
Vor Jahresende beraten Kommunen, Länder und Bund über eine solche bundeseinheitliche Regelung - im Koalitionsvertrag der Ampel [spd.de] ist verankert, dass das Hilfssystem ausgebaut werden soll.
Dass der Kampf gegen häusliche Gewalt nur so schleppend vorangeht, hängt Sama Zavaree von BIG e.V. zufolge mit den misogynen, also frauenfeindlichen Strukturen in der Gesellschaft zusammen. "Wir leben in einem System, in dem Frauen weniger wert sind." Auch für sie ist diese Beobachtung in ihrer täglichen Arbeit herausfordernd. Um ihre professionelle Distanz zu wahren, hilft es ihr, auf die Missstände öffentlich aufmerksam zu machen.
Zavaree wünscht sich nicht nur mehr Frauenhausplätze und eine bessere Forschung. Sondern auch, dass der Blick nicht immer nur auf die Opfer, sondern auch auf die Täter gerichtet wird. "Wir müssen darüber sprechen, dass die Täter in die Verantwortung genommen werden müssen." Dies könne geschehen, indem nicht die Frau die gemeinsame Wohnung verlassen muss, sondern der Mann. Oder dass es mehr Beratungsstellen für gewalttätige Männer gebe. In Berlin gibt es derzeit nur zwei davon.
Und auch die Gerichte müssten sich besser mit den Dynamiken häuslicher Gewalt auseinandersetzen, sagt von Schönhueb. "Wir erleben oft, dass Gerichte es so darstellen, als wäre die Gewalt etwas nur zwischen Mann und Frau und hätte nichts mit den Kindern zu tun." Das Sorgerecht bleibt trotz laufender Strafverfahren gegen den gewalttätigen Partner oft weiterhin geteilt. "Natürlich hat der Vater ein Recht auf Umgang. Aber Kinder erleben die häusliche Gewalt zu Hause oft mit, und ein Aussetzen des Umgangs kollidiert mit den Väterrechten." Vor den Entscheidungen des Familiengerichtes über Sorgerecht und Umgang sollte deshalb stehen, Druck auf den gewaltausübenden Mann auszuüben, zum Beispiel mit der Auflage, dass Männer in Antigewaltkurse gehen. "Nur dann kann die Familie auch erstmal zur Ruhe kommen."
*TIN*-Personen: trans*, inter* und nicht-binäre* Menschen
Sendung: radioeins, 25.11.2023, 6 Uhr
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