Interview | Psychiater zu Einsamkeit
Einsamkeit ist nicht nur ein weitverbreitetes Phänomen, das krank macht. Es trifft häufig auch schon 30-Jährige. Weitere Risikofaktoren: Alleinleben in Städten und sprachliche und kulturelle Hürden, sagt der Berliner Psychiater Mazda Adli.
rbb|24: Hallo Herr Adli. Wann ist man eigentlich einsam und wann allein?
Mazda Adli: Einsamkeit und Alleinsein kann man keinesfalls gleichsetzen. Einsamkeit ist eine – in der Regel belastende – menschliche Grunderfahrung. Genau genommen ist es eine Unterform von sozialem Stress. Während Alleinsein für viele ein angenehmer Zustand ist – der sogar ein richtiger Luxus sein kann. Solange das Alleinsein jederzeit unterbrochen werden kann, wenn man es nicht mehr sein möchte, ist man definitiv nicht einsam. Deshalb fühlen wir uns in der Regel auch nicht einsam, wenn wir alleine durch den Wald oder am Strand entlang spazieren. Das wird eher als wohltuend empfunden.
Einsamkeit hingegen beschreibt einen Zustand, bei dem es an Unterstützung durch andere mangelt. Also an Menschen, die mit einem Zeit verbringen oder einen mögen. Ihren giftigen Stachel bekommt Einsamkeit dadurch, dass die Betroffenen in der Regel den Eindruck haben, diesen Zustand nicht aus eigener Kraft unterbrechen zu können.
Einsamkeit wird oft mit Depression in Verbindung gebracht. Bedingt das eine vielleicht sogar das andere? Und was war dann zuerst?
Einsamkeit kann einer Depression vorausgehen, sie kann der Depression aber auch folgen. Beides ist möglich. Einsamkeit ist, wie ich es gerade schon beschrieb, eine Form von anhaltendem oft chronischem Stress. Und Depression ist eine ganz klassische Stressfolgeerkrankung. Einsamkeit kann also ein Wegbereiter für eine depressive Erkrankung sein. Übrigens nicht nur für Depressionen, sondern auch für andere psychische und auch körperliche Erkrankungen. Es gibt gute und sehr große Studien, die zeigen, dass Einsamkeit gesunde Lebensjahre kosten kann. Es gibt sogar so etwas wie eine Einsamkeitssterblichkeit. Einsamkeit ist also ein Risikofaktor für Erkrankungen.
Gleichzeitig ist es so, dass Depressionen sehr viele Auswirkungen auf das Alltagsverhalten haben. Die Betroffenen ziehen sich zurück, haben keine Energie, keinen Antrieb mehr. Und dieser soziale Rückzug hat dann oft auch zur Folge, dass die Menschen sich von Freunden, Familienangehörigen und anderen, die sie umgeben, zurückziehen. Manchen fällt es sehr schwer, überhaupt noch das Haus oder sogar das Bett zu verlassen. Das birgt natürlich einen Risikofaktor für Einsamkeit. Das ist auch aus psychotherapeutischer oder psychiatrischer Sicht sehr wichtig im Auge zu behalten. Denn wenn eine Person einsam wird, eventuell auch durch eine Erkrankung, dann ist das ein Zustand, der zum krankheitsaufrechterhaltenden Faktor werden kann.
Wer hat ein besonders großes Risiko, einsam zu werden?
Einsamkeit ist etwas, was uns alle betreffen kann. Es gibt jedoch tatsächlich bestimmte Risikokonstellationen wie beispielsweise das Alter. Mittlerweile weiß man, dass es nicht allein ein Thema des hohen Alters ist. Der erste große Altersgipfel für das Thema Einsamkeit liegt bei ungefähr 30 Jahren. Einen zweiten, etwas kleineren Peak gibt es dann mit 60. Anders als vermutet, gibt es dann minimale Ausprägungen von Einsamkeitswerten beim Alter um 75 Jahren. Es steigt dann relativ steil jenseits der 80 wieder an. Die Gründe für Einsamkeit unterscheiden sich dabei je nach Lebensalter. Im hohen Alter liegt es vor allem am fehlenden Lebenspartner und gesundheitlichen Einschränkungen. In jüngerem Alter ist es eine Häufung von Faktoren wie Einkommen, Arbeitsverhältnis und Beziehungsstatus. Klar ist aber inzwischen, dass das junge Erwachsenenalter und das hohe Alter die beiden großen Risikobereiche für Einsamkeit in der Lebensspanne sind.
Dann hat man gerade während der Pandemie in den Städten gesehen, dass Einsamkeit schneller entsteht, wenn Menschen allein wohnen. In den großen Statistiken kann man zwar kein Stadt-Land-Gefälle so ganz klar nachzeichnen, doch aus meiner klinischen Erfahrung und den Sprechstunden kann ich schon sagen, dass Einsamkeit gerade die Menschen, die in den großen Städten alleine leben, sehr betrifft. Manche können auch mit der Anonymität einer Großstadt nicht gut umgehen. Gerade in der Pandemie sind viele junge Erwachsene, die für ihr Studium nach Berlin gezogen sind, ganz einsam geworden.
Auch kulturelle und sprachliche Hürden können einsam machen. Sie machen es schwer, am Alltagsleben teilzuhaben. Das betrifft etwa Menschen mit Migrationsgeschichte, die vielleicht auch noch zusätzlich Ausschlusserfahrungen machen und das Gefühl haben, nicht dazuzugehören.
Im Bezirk Reinickendorf war neulich die Stelle eines Einsamkeitsbeauftragten ausgeschrieben. Darüber wurde sich im Internet auch lustig gemacht. Also ob man dafür wirklich studiert haben müsste und so weiter. Was muss denn ein Einsamkeitsbeauftrager können?
Es gibt ja nicht das Berufsbild des Einsamkeitsbeauftragten. Aber ich finde es sehr innovativ und vorbildlich von Reinickendorf, dass man dort mit gutem Beispiel vorangeht und das Thema damit auf die Agenda setzt. Ich finde, das ist ein wichtiges Signal. Auch, um das Thema besprechbar zu machen, das sehr stark tabuisiert ist.
Die Aufgabe eines solchen Einsamkeitsbeauftragten kann sicherlich jeder wahrnehmen, der eine Motivation hat, sich gegen diesen Belastungsfaktor zu engagieren. Da geht es vermutlich darum, Ideen zu haben und Strategien zu entwickeln, wie die Belastung durch Einsamkeit verringert werden kann. Menschen müssen gute Gründe haben, vor ihr Haus zu treten und mit Gleichgesinnten in Kontakt zu kommen.
Ist Einsamkeit das Thema der Zukunft? Weil die Gesellschaft überaltert und zudem die Digitalisierung dafür sorgt, dass viele gern zuhause sitzen und sich fast ausschließlich im Internet bewegen?
In der Tat kann man den Eindruck bekommen, dass das Thema an Bedeutung zunimmt. Das liegt in erster Linie daran, dass es ein steigendes Bewusstsein dafür gibt, dass durch die Pandemie noch befeuert wurde. Da ist man sensibler dafür geworden, dass Einsamkeit viele Menschen betrifft. Es ist aber nach wie vor ein Thema über das zu sprechen vielen sehr schwerfällt. Einsamkeit ist noch immer ein extrem schambelastetes Thema. Ich kann auch als Psychiater bestätigen, dass es vielen Menschen sehr viel leichter fällt, über beispielsweise Depressionen zu sprechen.
Was hilft noch? Wie kommen Menschen, die sich einsam fühlen, da wieder raus?
Über Einsamkeit zu sprechen und sich zu öffnen, ist wirklich das Allerwichtigste. Vielleicht einem Hausarzt gegenüber. Oder gegenüber Familienangehörigen oder man spricht mit einem Nachbarn. Bei den nordafrikanischen Touareg gibt es einen Spruch, der sagt: "Einsamkeit ist nicht traurig, wenn sie beachtet wird". Wir müssen also hinschauen und darüber sprechen, damit das Thema etwas von seiner Tabu-Last und damit auch von der psychologischen Last verliert.
Ein weiteres Gegengift sind soziale Kontakte und soziale Verbundenheit zu anderen Menschen. Mein Rat an Betroffene ist daher auch, jeden Grund zu nutzen, um vor die eigene Haustüre zu treten. Denn soziale Zeit, die man vor der eigenen Haustür verbringt, tut uns psychisch gut und wirkt Einsamkeit entgegen. Man kann auch vor die Tür seines Mietshauses treten, das Klingelschild studieren und schauen, wie die anderen Menschen heißen, die im selben Haus wohnen – und sich darüber klarwerden, wie viele davon man eigentlich kennt. So kann man sich in der eigenen Nachbarschaft noch mehr Vertrautheit schaffen. Man kann auch die eigene Straße und die Nebenstraße entlanglaufen und schauen, was da für Läden sind, wie es riecht und was da für Menschen leben und arbeiten. Das hilft, um sich mehr Zugehörigkeit und das Gefühl, dorthin zu gehören und zuhause zu sein, zu verschaffen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24
Sendung: rbb24 Abendschau, 07.11.2023, 19:30 Uhr
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