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Quelle: dpa/Schoening

Obdachlos in Berlin

"Ohne unsere Freunde hätten wir gar nichts"

Hilfseinrichtungen registrieren seit Monaten eine Zunahme obdachloser Menschen in Berlin. Gleichzeitig hat die Inflation das Leben auf der Straße härter gemacht. Wie kommen Obdachlose über die Runden? Von Roberto Jurkschat und Anna Gräfe

In den vergangenen Herbstnächten war die Kälte auf der Straße für Oliver ein vergleichsweise kleines Problem. Er dreht sich um und deutet auf den Schlafsack an seinem Rucksack. "Regen ist schlimmer. Regen und Nässe. Wenn man sich mitten in der Nacht einen neuen Schlafplatz suchen muss." Im Sommer ist Oliver deshalb umgezogen: vom Spreeufer am Ostbahnhof, wo es bei hohen Temperaturen kühl war, in eine nahegelegene Tiefgarage.

Seit sechs Monaten lebt Oliver auf der Straße. Warum er keine Wohnung mehr hat, möchte er nicht erzählen. "Das hat private Gründe", sagt er knapp. Gemeinsam mit anderen Wohnungslosen hält er sich meistens am Ostbahnhof auf, Zahnpasta, Brötchen und Bier sind nicht weit entfernt. "Hier gibt's Pennymarkt und Rewe, das ist schon mal gut", sagt Oliver.

Oliver lebt seit sechs Monaten in Berlin auf der Straße. | Quelle: rbb

Helfer sehen Anzeichen für deutlich mehr Obdachlose

Wie viele Obdachlose in Berlin leben, ist eine Frage, die die Senatsverwaltung für Soziales bislang nicht genau beantworten kann. Bei einer Zählung im Jahr 2020 wurden rund 2.000 Obdachlose registriert, die meisten davon männlich und innerhalb des S-Bahnrings, fast jeder zweite kam aus dem europäischen Ausland.

Hilfsorganisationen gingen allerdings damals schon davon aus, dass diese Zahl nicht annähernd stimmen kann, von einer erheblichen Dunkelziffer von bis zu 10.000 Menschen war die Rede. Seit einiger Zeit sehen Streetworker und Hilfseinrichtungen in Berlin Anzeichen, dass die Zahl der Menschen ohne feste Wohnung noch einmal gestiegen ist.

Die Berliner Stadtmission etwa hat in der vergangenen kalten Jahreszeit in ihren Schlafeinrichtungen der Kältehilfe 3.700 unterschiedliche obdachlose Menschen beherbergt. Im Jahr davor waren es rund 2.700. Auch bei Tagestreffs für Menschen ohne feste Wohnung, wie in der Selingstraße in Charlottenburg, sprechen Mitarbeitende von einer deutlichen Zunahme derjenigen Menschen, die sich täglich in der Einrichtung aufwärmen.

Armut wächst

Einen Grund für die große Obdachlosigkeit in Berlin sieht der Sozialstadtrat des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg, Oliver Nöll (Die Linke), in der aktuellen Gesetzeslage. "Viele Menschen aus meist osteuropäischen Ländern sind hier nicht sozialhilfeberechtigt. Wer aus Osteuropa zum Arbeiten herkommt und keinen Job findet, landet schnell auf der Straße", so Nöll. Pandemie, Inflation und Probleme am Wohnungsmarkt hätten außerdem dazu geführt, dass Menschen schneller in Wohnungslosigkeit abrutschen.

Die Soziale Wohnungshilfe des Bezirks habe im Jahr 2022 insgesamt 631 Menschen wegen akuter Wohnungsnot in Einrichtungen nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) unterbringen müssen - doppelt so viele, wie im Jahr davor. Betroffen seien vor allem Menschen gewesen, die noch nicht auf der Straße gelandet waren aber sich ihre Wohnungen nicht mehr leisten konnten. "Viele Wohnungen sind so teuer geworden, dass sie vom Jobcenter nicht mehr bezahlt werden. Zugleich fallen immer mehr Sozialwohnungen aus der Mietbindung. Deshalb beobachten wir bei uns eine größere soziale Durchlässigkeit und wir vermuten, dass das auch zu mehr Obdachlosigkeit führt", erklärt Nöll.

Allein zwischen 2016 und heute hat sich die Zahl der Sozialwohnungen in Berlin von rund 115.000 auf etwa 93.000 verringert. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung geht davon aus, dass es 2028 nur noch 58.000 Wohnungen Sozialwohnungen geben wird. Zugleich haben in Berlin aber rund 530.000 Haushalte einen Wohnberechtigungsschein, der es normalerweise ermöglichen soll, in einer Sozialwohnung zu leben.

René wurde vor einem Jahr auf der Straße von einem Sozialarbeiter gefragt, ob er in ein Tiny House ziehen will. Seit August lebt er in einer Wohnbox am Kreuzberger Bethaniendamm. | Quelle: rbb

"Die Menschen spenden weniger"

Um die Obdachlosigkeit in Berlin zu bekämpfen, setzt die Senatsverwaltung für Soziales an verschiedenen Punkten an. Generell können Obdachlose in Not- und Gemeinschaftsunterkünften unterkommen, sofern es dort freie Plätze gibt. Von Oktober bis April stehen Obdachlosen zudem rund 1.100 Betten in den Einrichtungen der Kältehilfe zur Verfügung. In zwei 24/7-Unterkünften in Mitte und Kreuzberg bekommen zudem rund 140 Menschen regelmäßige Mahlzeiten und professionelle Unterstützung rund um die Uhr. Seit 2018 werden in Berlin zwei Housing-First-Projekte gefördert: Dabei wird Menschen zuerst eine Wohnung vermittelt, ohne, dass sie vorher irgendwelche Bedingungen erfüllen müssen, wie clean werden oder einen Job haben. Insgesamt 60 Obdachlose konnten in Berlin zudem bereits in Tiny Houses ziehen.

Einer von ihnen ist René, der seit August in einer Wohnbox am Kreuzberger Bethaniendamm lebt. Oliver und andere Freunde trifft er jeden Morgen am Ostbahnhof. Der Tag startet beim Weißen Kreuz oder der Bahnhofsmission, Aufwärmen, Kaffee, Frühstück, Toilette. Um das Geld für den Tag zusammen zu bekommen, fragen Oliver und René Passanten nach Geld, sammeln Flaschen, halten Türen auf. Die Inflation, erzählt René, mache sich auch bei Obdachlosen bemerkbar. "Früher war es ein halber Tag, bis ich mein Geld drin hatte, jetzt ist man morgens bis abends unterwegs, um etwas zu Essen und zu Trinken zu bekommen", sagt er. "Alles ist teurer geworden, die Menschen spenden weniger."

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Renés Wohnbox in Kreuzberg ist knapp 4 Quadratmeter groß, ausgestattet mit Bett und Ablageflächen, ohne Strom und Heizung, draußen steht eine mobile Toilette. Bewerben musste sich René nicht – ein Sozialarbeiter habe ihn angesprochen, ein Jahr später konnte er in die Wohnbox ziehen. Für René hat sich dadurch viel verändert, wie er sagt. Er könne ruhig schlafen, habe einen trockenen und windgeschützten Ort für sich und seine Sachen - "man ist einfach relaxter". Er brauche auch nicht viel mehr, auch eine Wohnung sei für ihn, seitdem er in der Box ist, nicht mehr wichtig. "Das Wichtigste sind meine Freunde. Ohne die hätte ich gar nichts."

Bürgergeld auch ohne festen Wohnsitz oder Konto

Nach dem Einzug in sein Tiny House hat René Bürgergeld beantragt. Einen Anspruch auf die 502 Euro haben auch Menschen ohne festen Wohnsitz. Bescheide aus dem Amt können sie etwa in Packstationen abholen. Auch ein Konto ist nicht notwendig, das Geld kann in Form von Schecks beim Weißen Kreuz hinterlegt werden. Im Januar steigt das Bürgergeld auf 563 Euro, auf der Straße eine Menge Geld. Dennoch hätten am Ostbahnhof viele einen solchen Antrag nicht gestellt, sagt René. "Ich denke, da spielt auch Scham eine Rolle, wie die einen auf dem Amt anschauen, wenn man sich nicht ausweisen kann, keine Unterlagen mehr hat und keinen festen Wohnsitz."

Vor drei Jahren hatte das EU-Parlament in einer Resolution das Ziel formuliert, Obdachlosigkeit bis 2030 zu beenden. Der Berliner Senat hat sich dazu bekannt – allerdings nennt Streetworker Andreas Abel von der Organisation Gangway den Vorsatz unrealistisch. "Was in Berlin fehlt, ist bezahlbarer Wohnraum", sagt Abel. Die finanzielle Unterstützung von Vereinen und Organisationen, die Obdachlosen helfen, werde dem großen Bedarf derzeit nicht gerecht. Die Zahl der Obdachlosen nehme zu, aber die finanziellen Mittel und die Kapazitäten zur Unterbringung wüchsen nicht im selben Umfang. "Manchmal hat man den Eindruck, Berlin will die Obdachlosigkeit zum Nulltarif bekämpfen. Das wird nicht funktionieren."

Sendung: rbb24 Inforadio, 03.11.2023, 08:10 Uhr

Beitrag von Roberto Jurkschat und Anna Gräfe

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