rbb exklusiv | Nach vier Jahren
Am 23. August 2019 wird Fritz G. in Trebbin von einem Zug überfahren. Polizei und Staatsanwaltschaft gehen sofort von einem Suizid aus. Doch die Eltern glauben das nicht. Jetzt muss die Staatsanwaltschaft Potsdam den Fall neu aufrollen. Von Gabi Probst, rbb24 Recherche
Am Morgen des 23. August 2019 verabschiedet Dagmar G. in Ludwigsfelde ihren Sohn Fritz mit den Worten: "Schreib einfach, wo du bist, sag Papa Bescheid, ich bin arbeiten, habe Spätdienst. Er holt dich dann ab." Sie umarmt ihn noch einmal, wie immer. Es wird ihre letzte Umarmung sein. Einen Tag später erfährt sie, dass er am Bahnhof Trebbin neben den Gleisen gefunden wurde, überfahren von einem Zug.
Der genaue Todeszeitpunkt ist bis heute unklar, auch was genau geschehen ist.
An jenem Freitag geht der 19-Jährige zuerst zur Berufs- und dann zur Fahrschule. Gegen 17 Uhr trifft er sich mit Kollegen beim Grillfest in der Agrar-Genossenschaft Trebbin, wo er zwei Wochen zuvor eine Lehre als Mechatroniker begann. Sein Meister, Matthias Heyer, beschreibt ihn als aufgeschlossen, freundlich und pünktlich. "Also so wie man sich das wünscht als Meister, ein Lehrling mit Potential."
Fritz hätte sich "tierisch gefreut" in der Werkstatt arbeiten und beim Grillfest dabei sein zu dürfen, erzählt er. Die Grillfete sei um 20:30 Uhr zu Ende gewesen. "Wir haben alle ein bisschen was getrunken, also war nicht viel, war wirklich im Rahmen", erinnert sich Heyer. Ein Kollege hätte dann gemeinsam mit einem weiteren Kollegen zuerst ihn nach Hause und dann Fritz weiter zum Bahnhof gefahren.
Sein Kollege sagt, dass es zwischen 21:15 und 21:30 Uhr war, als er mit Fritz am Bahnhof ankommt. Die Fahrzeit beträgt maximal 10 Minuten. Als die Eltern später den Schrittzähler des Handys ihres Sohns auslesen lassen, zeigt dieser an, dass der junge Mann nach 20:24 Uhr nicht mehr selbständig gelaufen sein soll. Bis heute ist nicht ermittelt, wie die Abläufe an jenem Abend genau waren.
Am nächsten Morgen wird Fritz tot aufgefunden. 200 Meter weg vom Bahnsteig. Vom Zug überfahren.
Seine Mutter schreit laut los, als die Polizei die Nachricht überbringt: "Dann hat er vier Fotos gehabt und auf einmal siehst du von Fritz einen Schuh, diesen Gürtel, das Portemonnaie, das Schlüsselbund - auseinandergerissen. Ich habe geschrien, was ist da passiert? Dann hat er gesagt, die Beine sind abgetrennt." Die Polizei aus Ludwigsfelde legt sich sofort auf einen "Suizid" fest. Die ermittelnde Staatsanwaltschaft aus Potsdam schließt sich dem Urteil an.
Doch was man eigentlich aus jedem Krimi kennt, wird nicht gemacht: Obwohl Fritz' persönliche Sachen verstreut in der Gegend - vor und hinter den Gleisen - liegen, werden keine Fotos von den Fundorten gemacht. Alles wird stattdessen auf einen Gullideckel gelegt. Es gibt auch keine kriminaltechnische Untersuchung. Bei der Obduktion wird später das Handy in der Hosentasche von Fritz gefunden. Die Polizei sucht nicht einmal danach. Später stellt sich heraus, dass damit am Vorabend um 21:45 Uhr über WhatsApp ein Freund angerufen wird. Doch der hört den Anruf nicht. Die Fundsachen werden der Mutter übergeben, die sie aufbewahrt und hofft, dass sie irgendwann doch auf fremde DNA-Spuren untersucht werden. Denn sie glaubt nicht an einen Suizid.
Zu der Trauer mischt sich beim Vater, Wolfgang B., Wut. Ihm fehlen die Worte. Stockend sagt er: "Es ist alles nur unfassbar. Anders kann ich das nicht sagen."
Die Eltern engagieren die Rechtsanwältin Petra Klein und Detlef Schrader, einen pensionierten Ermittler des LKA Berlin. Die beiden vernehmen Zeugen und kommen zu dem Schluss, dass es kein Suizid war.
Danach stricken die Ermittler einen Unglücksfall. Die Akte Fritz wird geschlossen. Für Petra Klein, einst selbst Ermittlerin im LKA Berlin, ist das unbegreiflich. "Man findet einen jungen Mann, geht voreilig davon aus, dass hier ein Suizid vorgelegen hat oder ein Unglücksfall – und nicht die naheliegende Möglichkeit, dass auch Fremdverschulden in Betracht kommt", sagt sie.
Detlef Schrader und die Rechtsanwälte finden zahlreiche Defizite in der Polizeiarbeit, vernehmen Zeugen, lassen Gutachten anfertigen.
Zwei namhafte Gutachter kritisieren die unterlassene Tatortarbeit. Denn um ein Fremdverschulden sicher auszuschließen, so der Sachverständige Michael Weyde, "hätte seinerzeit eine andere Tatortarbeit durchgeführt werden müssen. Insbesondere hätte der Tatort spurentechnisch weiter untersucht und entsprechend die Untersuchungen dokumentiert werden müssen. Beides ist nicht geschehen."
Gutachter Dietmar Otte listet reihenweise offene Fragen auf, weil er Flüssigkeiten und Blut an den persönlichen Gegenständen von Fritz sieht und vermutet, dass diese nie untersucht wurden. Detlef Schrader meint, dies sei wichtig: "Es könnte durchaus passiert sein, dass vorher irgendeine Auseinandersetzung stattgefunden hat, bei der der später Getötete oder auch andere Leute Blut verloren haben, das dann an Geldbörse, Schlüssel und den Personalausweis gelangt ist", erklärt der Ex-Ermittler.
rbb24 Recherche begleitet den Fall seit Frühjahr dieses Jahres und findet heraus, dass es rund um den Bahnhof immer wieder zu Auseinandersetzungen unter Jugendlichen kommt. Erst im Sommer diesen Jahres gibt es am Bahnhof eine Messerstecherei. 2019, als Fritz ums Leben kommt, kommt es zu einer Massenschlägerei in Trebbin. Türsteher einer Diskothek werden Wochen später mit Macheten angegriffen. Schon Ende 2018 sei die Situation eskaliert, erinnert sich Frank Seifert. Er holt sich damals das Ordnungsamt, den Polizeiwachenleiter, die Bundespolizei und die Johanniter Unfall Hilfe an den Tisch. "Daraufhin hat man mir gesagt, dass bei unseren Besuchern auch islamistische Gefährder dabei sind. Und wenn ich kann, soll ich die Leute draußen lassen."
Eine Zeugin, die am Bahnhof wohnt, berichtet dem rbb, dass sie an dem Abend, an dem Fritz das letzte Mal gesehen wird, "vier bis sechs Mann" wahrgenommen hätte. Aus Angst bleibt sie anonym. "Die haben laute Musik gehört und getrunken, haben 'rumgeblöckt', sich "angekeest", erzählt sie.
Fritz Zug verspätet sich an dem Abend. Trifft er vielleicht auf diese Jugendlichen, z.B. im Wartehäuschen? Trinkt er irgendwo noch etwas? Sein Alkoholpegel im Blut ist hoch. Kommt es zum Streit? Verteidigt er sich vielleicht mit dem Gürtel, der am nächsten Morgen rund 200 Meter weit weg von ihm gefunden wird? Fragen, die bis heute offen sind. Und was ist mit den Schmierereien auf den Aufrufen der Eltern, die sie immer wieder am Bahnhof aufhängen?
Auch darüber reden die Eltern und ihre Anwältin im August 2023 endlich mit dem Leiter der Potsdamer Staatsanwaltschaft, Wilfried Lehmann. Der Termin ist das Ergebnis eines Bittbriefs der Eltern an die Brandenburger Justizministerien. Doch sie können ihn nicht überzeugen, die Ermittlungen wieder aufzunehmen. Oberstaatsanwalt Lehmann überzeugen auch die Gutachter nicht, er will mehr Beweise.
Auch rbb24 Recherche hatte – wie die Eltern und die Anwältin – Fragen an die Staatsanwaltschaft zu den Ermittlungen. Die Antwort kommt vor einigen Tagen von der Generalstaatsanwaltschaft, die 2022 eine Beschwerde noch mit "Vermutungen und Hypothesen" abschmetterte. Jetzt heißt es, Potsdam muss die Ermittlungen wieder aufnehmen und "den Hinweisen soweit wie möglich nachgehen, um auch eine theoretische Beteiligung Dritter auszuschließen". Nach vier Jahren ein Lichtblick für die Eltern. Auf dem Bahnhof in Trebbin sagt die Mutter: "Mein Leben besteht nur noch daraus, überall Blumen hinzubringen. Man hält es nicht aus."
Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sollten Sie selbst von Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. Bei der Telefonseelsorge finden Sie rund um die Uhr Ansprechpartner, auch anonym.
Telefonnummern der Telefonseelsorge: 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222 www.telefonseelsorge.de
Sendung: rbb24 Brandenburg aktuell, 02.11.203, 19:30 Uhr
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