Organisierte Kriminalität
Deutsche Drogenfahnder stoßen immer öfter auf die sogenannte "Dschihadisten"-Droge Captagon. Bisherige Ermittlungen deuten auf ein syrisches Kartell. Die Recherche eines ARD-Netzwerks führt auch zu einem Drogenfund in Berlin.
Es ist an einem Mittwochabend vor zwei Jahren kurz nach Ladenschluss. Der 24-jährige Mohammed F. *) nimmt auf einem Supermarkt-Paktplatz in Berlin-Lichtenberg mehrere Taschen von zwei Männern aus einem weißen Transporter entgegen. Mohammed F., aufgewachsen im syrischen Aleppo, war vor einigen Jahren als Flüchtling nach Berlin gekommen. Ein Cousin aus Belgien hatte ihn per WhatsApp gebeten, die Pakete aus dem Libanon entgegenzunehmen. Ein anderer Mann aus Syrien werde sie bei ihm abholen, für den Weitertransport.
Das sei unter seinen Landsleuten so üblich, sagt Mohammed F. später beim Berliner Landeskriminalamt (LKA) aus. Auch dass er sich zunächst nicht für den Inhalt der Taschen interessiert habe. Darin befinden sich 60 Kilogramm Tabletten, 354.000 Stück Captagon-Amphetamin - eine verbotene Droge in größerer Menge, wie das LKA später feststellt.
Legt man den Stückpreis von 20 US-Dollar zu Grunde, für den die Captagon-Tabletten im arabischen Raum gehandelt werden, liegt der Straßenverkaufswert bei rund 6,5 Millionen Euro. Captagon, das zu weiten Teilen aus Amphetamin besteht, wird vor allem in Syrien und dem Libanon in illegalen Fabriken als Tablette hergestellt und hauptsächlich in den arabischen Raum geschmuggelt. Die syrische Regierung steht im Verdacht, an diesem milliardenschweren Geschäft beteiligt zu sein.
Geschmuggelt wird die Ware in vielen Fällen auf dem Land- oder Seeweg nach Europa, wird hier mit sogenannter Tarnware in Container umverpackt und dann per Schiff oder Flugzeug weiter in den arabischen Raum geschickt. Anfang Oktober war die Droge weltweit in die Schlagzeilen geraten, nachdem israelische Medien berichteten, einige Hamas-Terroristen hätten bei ihren Angriffen am 7. Oktober Captagon-Tabletten bei sich gehabt.
Gemeinsame Recherchen eines Netzwerks aus rbb, BR, MDR, SWR, Frankfurter Allgemeine Zeitung und Mediengruppe Bayern zeigen, dass Deutschland für den weltweiten Captagon-Handel an Bedeutung gewinnt. Die bisherigen Ermittlungen legen den Verdacht nahe, dass Syrer als Hintermänner die Strukturen für den Handel mit Captagon aufbauen – mit Verbindungen auch nach Berlin. Die Recherchen des Verbunds zeigen auch, dass die Ermittlungen unterschiedlicher Behörden derzeit noch nicht konzentriert wurden. Ermittlungsergebnisse aus verschiedenen Bundesländern werden erst langsam zusammengeführt.
Als Mohammed F. irgendwann einen Blick in die Taschen wirft, die ihm da zum Weitertransport übergeben wurden, entdeckt er die Pillen. Sein Cousin aus Belgien behauptet, das sei lediglich Pflanzendünger aus Saudi-Arabien. Ein Nachbar, den er ins Vertrauen zieht, rät ihm angeblich: "Wirf die Pillen ins Klo und halte dich da raus." Da ruft Mohammed F. die Polizei an. Von nun an wird sein Telefon abgehört. Seine Kontakte, auch der Cousin, insgesamt fünf Personen, können am Ende nicht namentlich identifiziert werden, sie führen Aliasnamen.
Das Verfahren wird nach drei Monaten eingestellt, die Drogen werden vernichtet. So geht es aus der Verfahrensakte der Staatsanwaltschaft hervor, die das ARD-Netzwerk einsehen konnte. Das Berliner Landeskriminalamt misst dem Verfahren keine größere Bedeutung zu, zumal Captagon auf dem Drogenmarkt der Hauptstadt nach Kenntnis von Polizei und Staatsanwaltschaft keine besondere Rolle spielt.
Im Jahr darauf werden allerdings zwei syrische Straßenhändler mit 460 Tabletten in Neukölln aufgegriffen. Doch auch diesem Aufgriff wird keine größere Bedeutung beigemessen. Dabei zeigen Recherchen des ARD-Netzwerks, dass Captagon-Tabletten in der arabischen Community in Neukölln für 15 bis 20 Euro gehandelt werden.
Unterdessen laufen in anderen Bundesländern inzwischen größere Captagon-Verfahren: In der Abteilung für Organisierte Kriminalität der Staatsanwaltschaft Aachen ermittelt man gegen eine syrische Tätergruppe wegen des Verdachts des "gewerbs- und bandenmäßigen Schmuggels und Handels von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge": Anfang Oktober heben Ermittler der Zollfahndungsamtes (ZFA) Essen im Raum Aachen ein Drogenlager mit 300 Kilogramm Captagon-Tabletten aus.
Am selben Tag nehmen sie in der Region um Aachen vier Männer als Tatverdächtige fest, Syrer im Alter von 33 bis 45 Jahren. Ihnen werden weitere Funde aus den vergangenen Monaten an den Flughäfen Köln/Bonn und Leipzig/Halle zugeschrieben. Insgesamt 460 Kilogramm Captagon: 3,2 Millionen Tabletten, Straßenverkaufswert: Rund 60 Millionen Euro. Es ist der bislang größte Captagon-Fund in Deutschland.
Die Schmuggler hatten den Großteil der Tabletten in dem Garagenkomplex zwischen 16 Tonnen Sand versteckt, der säckeweise auf Paletten gestapelt war. "Die Täter haben die Captagon Säcke in diesen Sandsäcken verpackt und haben sie dann in einer äußeren kleinen Schicht Sand eingebettet. So dass bei einem äußerlichen Betrachten der Säcke, auch wenn man die befühlt hat, keine Tabletten festzustellen waren", sagt Ermittlungsleiter Andreas B. **) im Interview.
Der langjährige Drogenfahnder kennt sich entlang der Grenze zu Belgien und den Niederlanden aus. Captagon war ihm erstmalig im vergangenen Jahr aufgefallen. Bei einem Zoll-Fund im Paketzentrum am Flughafen Köln/Bonn. Damit begannen seine Ermittlungen: 10 Kilogramm Amphetamintabletten, versteckt in einer Tarnladung, im Inneren von sieben Paketen mit Bremszylindern, die nach Bahrein geliefert werden sollten. Die Drogen waren bei der Kontrolle an einem Röntgengerät aufgefallen.
Es folgten drei weitere Funde, versteckt im Filter eines Luftreinigungsgeräts, sowie am Flughafen Leipzig/Halle in einer Ladung Duftkerzen und einem Pizzaofen, jeweils mit Adressaten in Saudi-Arabien. Der Gesamtwert der Captagon-Funde in Deutschland in den vergangenen drei Jahren wird auf eine halbe Milliarde Euro geschätzt.
Die Staatsanwaltschaft Aachen prüft zurzeit mögliche Verbindungen zu weiteren Captagon-Verfahren unter Beteiligung syrischer Tatverdächtiger. In Essen sind bereits im vergangenen Jahr drei Männer als Teil eines internationalen Schmugglerrings verurteilt worden. In Regensburg wurde im Juli eine Produktionsstätte für Captagon-Tabletten ausgehoben [tagesschau.de]. Dort waren zwei Syrer festgenommen worden. Bei der Festnahme fanden hier die Ermittler 300 Kilogramm Captagon-Tabletten. Außerdem wurden Rohstoffe für eine mögliche Herstellung von gut drei Tonnen Captagon gefunden. In dieser Sache ermittelt die Staatsanwaltschaft in Ellwangen.
Die Sprecherin der Aachener Staatsanwaltschaft, Katja Schlenkermann-Pitts, sagte im Interview mit dem ARD-Netzwerk von BR, MDR, RBB und SWR mit Blick auf die Fälle in Ellwangen, Essen und Köln/Bonn oder auch in Aachen und Leipzig "und auch den Marktwert dieser ganzen Tabletten", dass es sich "hier um eine organisierte Tätergruppierung handeln kann, die auch länderübergreifend tätig ist." Sie kündigte für ihre Behörde deshalb an, diese "Strukturen und Zusammenhänge weiter beleuchten" zu wollen.
Von dem Berliner Verfahren und dem Fund bei Mohammed F. wusste die Staatsanwaltschaft Aachen allerdings bislang nicht.
Sendung: rbb24 Inforadio, 21.12.2023, 09:05 Uhr
Beitrag von Arne Meyer-Fünffinger (BR), Margherita Bettoni (MDR), Ludwig Kendzia (MDR), Nadja Malak (MDR), Olaf Sundermeyer (RBB), Ahmet Senyurt (SWR)
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