Jugendliche in der Krise
Erst Corona-Lockdowns, jetzt so viel Kinderarmut wie nie: Die Folgen sind vor allem in Berlins Großsiedlungen zu spüren. Kann Jugendarbeit die Probleme auffangen? Ein Besuch in der Rollberge-Siedlung und in Lichtenrade-Ost. Von Jannis Hartmann
Ali zieht an seiner Capri-Sonne, dann fängt er an zu erzählen. "Ich bin jetzt in der zehnten Klasse", sagt er. "Und ich habe keine Ahnung, was ich später machen will. Ich weiß nicht, was ich für eine Ausbildung machen will. Ich weiß nichts". Ali ist 16 Jahre alt, trägt eine glänzende, schwarze Daunenjacke. Er wohnt in der Rollberge-Siedlung in Berlin-Waidmannslust, noch hinter dem Märkischen Viertel. Für Jugendliche wie ihn sei sie hier schwer zu finden: eine Zukunft. Zwischen den grauen Wohnblöcken und Hochhäusern, da scheint die Perspektive auf eine gute Zukunft irgendwie versperrt.
Auf dem Stadtplan des Sozialmonitors, einer Studie des Senats, ist sein Viertel dunkelrot eingefärbt. Dunkelrot heißt: Die Kinderarmut liegt bei über 49 Prozent. In Alis Siedlung liegt sie bei über 60 Prozent. Viele Jugendliche in der Rollberge-Siedlung haben wie Ali eine Migrationsgeschichte.
Die Zahlen der Senatsstudie sind von 2020. Seitdem hat sich die Lage eher verschlechtert: Ein langer Lockdown, in dem Jugendliche in kleinen Wohnungen ausharren mussten und ein etwas kürzerer. Hinzu kommen steigende Energie- und Lebensmittelkosten, die Eltern in finanzielle Schwierigkeiten bringen.
Für Deutschland meldet das Statistische Bundesamt dann diesen Sommer: Noch nie waren so viele Minderjährige von Armut bedroht - jedes fünfte Kind.
"Es muss Einrichtungen geben, in denen Jugendliche herausfinden, was sie überhaupt wollen und was ihnen Spaß macht", sagt Ali. Am liebsten würde er verschiedene Betriebe gezeigt bekommen. Einfach mal schauen, welche Berufe es überhaupt so gibt. Sogar beim Jugendamt habe er nach einer Berufsberatung gefragt. Das gehe aber nur langsam voran. Wirklich weiter sei er nicht gekommen.
Aufgenommen fühlt er sich dagegen im Streethouse, dem Jugendclub in seiner Nachbarschaft. In dem Flachbau gibt es eine Küche, Gemeinschaftsräume mit großen Sofas und sogar einer Playstation. Betrieben wird der Jugendclub vom Bezirk Reinickendorf. Ali kommt häufig nach der Schule hier hin, auch seine Freunde sind dann da. "Weil wir sonst nichts zu tun haben", sagt Ali. "Das ist auf jeden Fall besser, als auf der Straße zu hängen."
Auch Leyla hat als Jugendliche ihre Nachmittage im Streethouse verbracht, später war sie Praktikantin im Jugendclub. Heute macht die 22-Jährige eine Ausbildung zur Erzieherin, im Streethouse leitet sie nebenbei die Mädchengruppe.
Die Jugendlichen seien seit Corona viel verschlossener und in sich gekehrt, sagt sie. Viele wüssten nicht, was sie mit ihrer Zukunft machen sollen; Sie hätten die Hoffnung verloren, dass ihnen geholfen werde. Leyla glaubt, dass die Lockdowns viel verändert haben: Zuhause bleiben, Unterricht nur digital. "Das ist schon schwer, jetzt wieder in die Gesellschaft zu kommen", sagt sie.
Auch die Wohnungen, in denen Jugendliche die Lockdowns verbringen mussten, seien oft nicht gut in Schuss. Viele Häuser in der Siedlung hätten Schimmel an den Wänden. Da hätte auch der Rückkauf durch die städtische Gewobag 2019 nichts verbessert. Als Alis Zuhause nach einem Rohrbruch unter Wasser stand, rissen die Eltern die vollgesogenen Teppiche schließlich selbst raus.
Im Jugendclub habe man immer ein Ohr für seine Sorgen, sagt Ali. Vor allem Leiter Sami helfe immer. Der kenne ihn schon seit er klein ist. Jugendarbeit, das heißt eben auch über Jahre Vertrauen aufbauen.
Dem entgegen steht, dass Projekte immer nur mit einer einjährigen Laufzeit gefördert werden, sagt Anna Nikitin vom Paritätischen Wohlfahrtsverband. "Es muss sichergestellt werden, dass die Jugendarbeit in der Stadt fest verankert ist - und dass die Projekte nicht jedes Jahr um ihre Mittel bangen müssen", so Nikitin. Für Jugendliche bedeute das im schlimmsten Fall: Langjährige Vertrauenspersonen verschwinden plötzlich aus dem Leben.
Nach den Silvesterkrawallen 2022/23 hat das Land Berlin 90 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, auch für Jugendarbeit. Doch auch diese Projekte beschränken sich bis Ende 2024. Gleichzeitig wandelt sich Berlin: Seit 2006 seien 100.000 Kinder und Jugendliche dazugekommen.
"Wenn wir uns die Jugendarbeit in Berlin anschauen, dann werden maximal 60 Prozent von dem gestellt, das eigentlich benötigt wird", so Nikitin. Also: Zu kurze Öffnungszeiten, zu wenig Angebot. Es sei üblich, dass Jugendclubs an Ausflugstagen geschlossen bleiben. Museum oder Hausaufgabenbetreuung - beides geht nicht.
Verschärfen dürfte sich das durch die Sparmaßnahmen in der Haushaltskrise. Denn Jugendclubs seien auf Drittmittel vom Bund angewiesen. Exkursionen, Praktikumsstellen und Mittel für Ehrenämter - all das stünde gerade auf dem Spiel, sagt Nikitin.
Das Boxtraining im Kinder- und Jugendhaus Nahariyastraße ist so ein Ehrenamt. Geleitet wird das Training von Profiboxer Cebrail Beyazgül - oder wie ihn die Jugendlichen hier nennen: Onkel. Der Jugendclub eines kirchlichen Trägers liegt in Lichtenrade Ost. Die Kinderarmut ist auch hier besonders hoch - das Viertel ist das südlichste der dunkelrot markierten Viertel im Sozialmonitor.
Anders als das Streethouse in der Rollberge-Siedlung, ist der Träger nicht der Bezirk, sondern die Evangelische Kirchengemeinde Lichtenrade. Als freier Träger ist der Jugendclub noch stärker auf Mittel angewiesen, die für einzelne Projekte gezahlt werden. Nichts von dem, was der Jugendclub leistet, ist fest im Haushalt des Bezirks gesichert.
Zweimal in der Woche treffen sich Jugendliche hier zum Training. "Schlagen, nicht schieben" ruft Beyazgül, während die Boxhandschuhe der Jugendlichen immer wieder auf den Boxsack treffen. Das Ziel des Boxtrainers ist auch ein Antiaggressionstraining: Es ginge nicht nur ums Draufhauen, sondern auch ums Köpfchen. Er wolle das Selbstbewusstsein der Jugendlichen aufbauen, so der Profiboxer.
Am wichtigsten sei, dass sich alle bei seinem Training wohlfühlen, sagt Beyazgül. Wolle man Jugendlichen wirklich eine Perspektive schaffen, dann müsse man sich auch fragen: Was fehlt den Jugendlichen grundsätzlich im Leben?
Beyazgül hat darum einen Schüler zum Co-Trainer erkoren: Gino, 20 Jahre alt. Er habe sich früher allein gelassen gefühlt und "Scheiße gebaut", weil ihm niemand geholfen habe, sagt Gino. Das sei eine schmerzhafte Erfahrung gewesen. Seine neue Rolle als Trainer habe das verändert. Denn für das Boxen brauche es Disziplin. "Ein Trainer kann mehr Vater sein als der eigene Vater", sagt Gino.
Dass das Training von Leuten aus dem Viertel geleitet wird, ziehe Jugendliche an, die sonst nicht gekommen wären, sagt Gino. Er habe zum Beispiel die kleinen Brüder zweier Freunde überredet. Die seien auf die schiefe Bahn geraten, erzählt Gino. Seinetwegen kämen die Jungs jetzt doch zum Training. Mittlerweile sei die Nachfrage so groß, dass Jugendliche sogar abgelehnt werden müssen.
Ist Gino nicht im Jugendhaus, dann macht er seinen 34a-Schein. Damit kann er später als Türsteher, Ladendetektiv oder in der Objektüberwachung arbeiten. Am meisten leuchten Ginos Augen aber, wenn er über die Kindergruppe spricht. "Ich liebe kleine Kinder, die sind richtig süß", sagt er. Es mache ihn stolz, anderen etwas beizubringen. Auch Eltern würden sich bei ihm bedanken. "Das fühlt sich gut an, ich kannte das vorher gar nicht", sagt Gino.
Wenn Boxtraining ist, so scheint es, dann gibt es für Jugendliche nicht nur das Hier und Jetzt inmitten einer sozial benachteiligten Siedlung. Wenn im Jugendclub der Schweißgeruch in der Luft liegt, dann wird im besten Fall auch eine Perspektive auf die Zukunft eröffnet. Zumindest für Gino, der hat im Jugendhaus Nahariyastraße seinen Traum für die Zukunft gefunden: Er will später einen eigenen Boxclub betreiben.
Sendung: rbb24 Inforadio, 14.12.2023, 9:25 Uhr
Beitrag von Jannis Hartmann
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