Co-Elternschaft
Christine und Gianni haben eine gemeinsame Tochter. Entstanden ist sie nicht aus einer Liebesbeziehung, sondern in einer Co-Elternschaft. Ein Familienmodell, für das sich gerade immer mehr Menschen entscheiden. Von David Donschen
Die zehnjährige Milla sitzt in der Küche und rührt mit einem Löffel im feuchten Puderzucker. Der Zucker soll eigentlich auf das Lebkuchenhaus, das vor ihr steht, landet aber immer wieder in Millas Mund - trotz der Ermahnungen von Mutter Christine.
Mit ihrem Vater Gianni würde Milla niemals ein Lebkuchenhaus bauen. Er mag kein Weihnachten, erzählt sie – aber er ist auch gar nicht hier, denn Christine und Gianni wohnen nicht mehr zusammen. Sie erziehen ihre Tochter im Wechselmodell.
Doch Milla ist kein Trennungskind. Ihre Mutter und ihr Vater waren nie ein Paar – die beiden sind Co-Eltern. Die Idee: Menschen, die in keiner romantischen oder sexuellen Beziehung stehen, gründen eine Familie und ziehen ein Kind gemeinsam groß. Auf dieses Familienmodell abseits der klassischen Vater-Mutter-Kind-Konstellation lassen sich immer mehr Menschen in Deutschland ein. Sei es, weil sie Singles sind und trotzdem Kinder wollen, weil sie gemeinsam mit Freundinnen und Freunden Kinder großziehen möchten oder weil sie als homosexuelles Paar in der Beziehung keine Kinder zeugen können.
So war es auch bei Christine Wagner. Nach Abschluss ihres Studiums fühlt sie sich bereit, Mutter zu werden – da ist sie Ende 20. "Ich hatte das Gefühl, jetzt ist es so weit", sagt die heute 41-jährige Ärztin. Damals lebt Christine mit einer Frau zusammen. Gemeinsam überlegen sie, wie Christine schwanger werden könnte. Eine anonyme Samenspende kommt für sie nicht infrage: "Mir war es wichtig, dass mein Kind seinen Vater kennt und eine Beziehung zu ihm hat."
Christine schaut sich in ihrem Freundeskreis nach potenziellen Vätern um, wird aber nicht fündig. Sie sucht im queeren Stadtmagazin Siegessäule per Annonce nach einem schwulen Mann, der Vater werden möchte. Es melden sich nur zwei Männer zurück, mit beiden passt die Chemie nicht. Auch über eine Gruppe für Menschen mit Kinderwunsch der Schwulenberatung in Schöneberg wird es nichts. "Totaler Frauenüberschuss", erzählt Christine.
Schließlich gründet Christine zusammen mit ihrer damaligen Partnerin 2011 das Portal Familyship - hier können Singles oder Paare per Gesuch Co-Eltern finden. Kurz nach dem Launch der Webseite meldet sich Gianni Bettucci an. "Ich hatte schon mit 20 einen starken Vaterwunsch", erzählt der 49-Jährige. Gianni ist schwul, wie Christine probiert er erstmal, über Annoncen und Kinderwunschgruppen an eine Co-Mutter zu kommen – ohne Erfolg. Dann schreibt er auf Familyship sämtliche Frauen aus Berlin an, die dort einen Co-Vater suchen. Christine und ihre Partnerin sind die einzigen, die antworten.
Das erste Treffen der drei in einem Café ist chaotisch. Als Manager einer Artistengruppe ist Gianni oft auf Reisen. Damals geht es am nächsten Tag nach Australien, Gianni hat deshalb nur eine halbe Stunde Zeit und ist mit den Gedanken ganz woanders. Und trotzdem denkt sich Christine: "Das könnte passen!"
Christine und Gianni beschließen, sich besser kennenzulernen. Sie kochen zusammen, fahren gemeinsam in den Urlaub, treffen Familie und Freunde des anderen. "Das Kennenlernen war sehr wichtig. Schließlich mussten wir herausfinden, ob wir die nächsten 20 Jahre miteinander auskommen", erzählt Christine.
Ein Jahr lang lassen sie sich dafür Zeit, dann steht fest: Sie wollen zusammen ein Kind bekommen. Dass sich Christine in der Zwischenzeit von ihrer Partnerin getrennt hat, ändert nichts an ihrem Wunsch. Christine und Gianni ziehen zusammen. 2013 kommt Tochter Milla zur Welt.
Die ersten Jahre sind nicht einfach. Christine und Gianni sind mit Problemen konfrontiert, wie sie auch Liebespaare nach der Geburt erleben. Wenn Milla zum Beispiel partout nicht von Gianni ins Bett gebracht werden will, sondern nur von Christine. "Das war eine Herausforderung für mich zu verstehen, welche Rolle ich da einnehme mit einer Person, mit der ich keine Intimität teile", sagt Gianni.
Liebespaare sind meistens mehrere Jahre zusammen, bevor sie ein Kind bekommen. Sie haben Zeit, sich auch in Konfliktsituationen kennenzulernen. Gianni und Christine erleben sich in diesen Situationen das erste Mal, als Milla schon auf der Welt ist. Und sie trauen sich zu Beginn nur selten, Probleme anzusprechen.
"Das Wichtigste in einer Co-Familie ist Kommunikation", sagt Jenny Wilken vom Regenbogenfamilienzentrum Berlin, die Co-Familien berät. Es brauche Platz und den Mut, von Anfang an über die eigenen Empfindungen, Vorstellungen und Wünsche zu sprechen. Gianni und Christine lernen mit Hilfe einer Mediatorin, ihre Konflikte auszutragen.
Einige Zeit nach Millas Geburt beginnen Christine und Gianni neue Liebesbeziehungen. Das führt auf die Dauer zu Problemen beim Zusammenleben. "Das war uns dann teilweise zu nah", erzählt Christine. Als Milla fünf Jahre alt ist, entscheiden sie, in getrennten Wohnungen zu leben.
Milla leidet am Anfang unter der Trennung, so wie viele Scheidungskinder. Der Unterschied: Zwischen Gianni und Christine folgt kein Rosenkrieg, es gibt keine Verletzungen. Heute freut Milla sich darüber, zwei Kinderzimmer zu haben.
"Erste Studien zu Co-Elternschaften zeigen, dass es Kindern dort nicht schlechter geht als in anderen Familien", sagt Jenny Wilken. Besonders viel Forschung gibt es zu diesen neuen Familienmodellen noch nicht. Genau wie in klassischen Kleinfamilien gelte aber laut Wilken vor allem eins: "Das Wichtigste ist, dass die Kinder umsorgt sind und wissen, wer ihre Familie ist."
Rechtlich sind viele Facetten von Co-Elternschaft noch nicht geregelt. In einer Konstellation wie bei Christine und Gianni mit einem biologischen Vater und einer biologischen Mutter ist es noch am einfachsten. "Ganz anders sieht das aus bei Co-Elternschaften, in denen mehr als zwei Personen Fürsorgeverantwortung für Kinder übernehmen", sagt Alicia Schlender, die am Fachbereich Geschlechterstudien der Humboldt-Universität zu Co-Elternschaft forscht.
Schlender sieht viele Hürden: Wenn zum Beispiel ein homosexuelles Paar zusammen mit einer dritten Person ein Kind großzieht, hat ein Elternteil weniger Rechte als die anderen beiden, die als Mutter und Vater eingetragen sind. "Ihnen steht keine Elternzeit zu, auch keine Steuererleichterungen oder Elterngeld. Und wenn ihr Kind im Krankenhaus liegt, bekommen sie keine Auskunft", sagt Schlender. Mehrelternschaften müssten rechtlich geregelt werden, sagt sie.
Tatsächlich hat die Ampelkoalition in ihrem Koalitionsvertrag die Idee einer "Verantwortungsgemeinschaft" festgehalten. Durch sie sollen zwei oder mehr Menschen die Möglichkeit bekommen, jenseits von Liebesbeziehungen oder Ehe "rechtlich füreinander Verantwortung zu übernehmen." Konkreter ausformuliert ist diese Idee allerdings noch nicht. Und Schlender glaubt auch nicht, dass damit eine Mehrelternschaft gemeint ist.
Neben rechtlichen Hürden sehen Christine und Gianni auch gesellschaftliche Vorbehalte. Ihre eigenen Eltern waren zum Beispiel am Anfang sehr skeptisch. "Jetzt sind sie die glücklichsten Großeltern", sagt Gianni.
Und Milla? Die bekommt zwei Welten mit. Die quirlige ihres Vaters und die eher ruhige ihrer Mutter. Hat Christine keine Sorgen, dass all das manchmal zu viel für ihre Tochter ist? "Nö, die wird schon groß!"
Sendung: Inforadio, 18.12.2023, 06:00 Uhr
Beitrag von David Donschen
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