Tier des Jahres 2024
Immer mehr Igel ziehen Städte als Lebensraum dem Land vor. In Berlin leben sie besonders in großen Parks. Aber genetische Untersuchungen zeigen: Berliner Igel sind besonders mobil. Forscher haben eine Theorie, woran das liegt. Von Philip Barnstorf
Schon in dem Grimmschen Märchen gewann der Igel das Rennen gegen den Hasen. In dieser Woche hat er sich auch gegen das Eichhörnchen und den Rotfuchs durchgesetzt. Der stachelige Insektenfresser bekam nämlich die meisten Stimmen von den Spendern der Deutschen Wildtierstiftung und ist damit Tier des Jahres 2024.
Wirklich aktiv war er dabei nicht: Igel halten nämlich gerade Winterschlaf in Laubhaufen, unter dichten Hecken und im Unterholz. Da macht ihnen auch der jüngste Kälteeinbruch nichts aus. Experten vermuten allerdings, dass immer weniger Igel in Deutschland leben, weil der Mensch ihren Lebensraum zerstört. Darauf möchte die Wildtierstiftung nach eigener Aussage aufmerksam machen. Für rbb|24 ein Grund zu fragen: Wie geht es den Berliner Igeln? Und was können Menschen tun, um ihnen zu helfen?
Dirk Schäuble, Referent für Artenschutz beim Umweltverband BUND, schätzt, dass mindestens eine vierstellige Zahl Igel in der Hauptstadt lebt. Aber so richtig sicher weiß das niemand. "Igel sind meist nachts unterwegs, leben eher versteckt und einer sieht aus wie der andere. Daher sind sie schwer zu zählen", sagt Anne Berger, die am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) in Lichtenberg Igel erforscht.
Außerdem schwanke die Größe der Population, sagt Berger. "In guten Jahren bekommt eine Igelmutter zehn Junge und vier überleben. In schlechten Jahren sind es weniger."
Um herauszufinden, wieviele Igel wirklich in deutschen Städten unterwegs sind, hat das IZW im September 2023 ein bundesweites Monitoring gestartet. Dabei sind auch Bürger aufgerufen, Igelsichtungen zu melden. [nabu-naturgucker.de] In einigen Jahren erwartet Berger belastbare Zahlen.
Aber wie viele es auch immer sind, klar ist: Viele Berliner Igel sind aus Brandenburg zugewandert. Gerade auf dem Land werden die Lebensbedingungen für Igel nämlich immer schlechter. "Das liegt an den großen Monokulturen, egal ob das Acker oder Wald ist", sagt Igel-Expertin Berger, "Der Igel braucht einen abwechslungsreichen Lebensraum mit vielen Hecken. Dort kann er sich ein geschütztes Nest einrichten, seine Jungen großziehen, tagsüber schlafen und Winterschlaf halten." Außerdem töteten in der Landwirtschaft eingesetzte Pestizide so viele Insekten, dass Igel auf dem Land immer weniger Nahrung fänden.
Also ziehen die Tiere die "mosaikartige Großstadtlandschaft" vor, wie Berger sagt. "Mal hat man einen Park, dann Kleingärten, ein Einfamilienhaus mit Garten, oder eine Wiese zwischen Hochhaussiedlungen. Das kommt dem Igel zugute."
In der Stadt finden die "Kulturfolger" auch mehr Futter undzwar nicht nur Insekten: "Ich habe schon Igel gesehen, die Schokotorte essen, obwohl sie mit ihrer Laktose-Intoleranz davon Dünnpfiff kriegen", sagt Anne Berger. Auch Dönerreste landeten gelegentlich auf der Speisekarte. "Da ist der Igel opportunistisch und nimmt, was er kriegen kann."
Allerdings wird ihm das manchmal auch zum Verhängnis. So seien schon Tiere gestorben, weil sie in weggeworfene Joghurtbecher krabbelten. Dabei verhaken sich die Stacheln am Becherrand, sodass sie nicht mehr rauskommen.
Immerhin: Urbane Igel werden weniger von Uhus, ihren natürlichen Feinden, gejagt. Auch die Futterkonkurrenz durch Dachse ist überschaubar. Dafür machen ihnen Autos, Hunde und Rasenmäher zu schaffen.
Mit solchen Vor- und Nachteilen des Großstadt-Lebens haben es Igel überall zu tun. Dennoch sind die Berliner unter ihnen nach aktuellem Forschungsstand etwas Besonderes. Wie Studien etwa aus Zürich zeigen, teilen sich Großstadt-Populationen normalerweise in mehrere Gruppen auf, die jeweils etwa in einem großen Park leben. Weil ihre Lebensräume durch Flüsse, Autobahnen oder großflächig versiegelte Wohngebiete voneinander getrennt sind, haben die Gruppen wenig miteinander zu tun. "Innerhalb einer Gruppe sind die auch alle miteinander verwandt und bilden einen sogenannten Clan", sagt Igelforscherin Berger.
Auch in Berlin gebe es etwa einen Lichtenberger Igel-Clan, der vor allem im Tierpark lebe. Weitere Clan-Reviere seien der Tiergarten und der Treptower Park. Aber Berger und ihr Team haben bei der Untersuchung von Hunderten Igelspeichelproben etwas Ungewöhnliches entdeckt: "Wir haben die Gene von Lichtenberger Clan-Mitgliedern zum Beispiel in Spandau oder Steglitz gefunden und umgekehrt. Die sind stadtweit miteinander verwandt."
Woran liegt das? "Meine Theorie ist, dass Leute, die angeschlagene Igel aufpäppeln, sie woanders wieder aussetzen", sagt Anne Berger. Für die Kleinsäuger ist die stadtweite Mobilität einerseits gut. So weitet sich ihr Genpool, was ihre Überlebensfähigkeit erhöht.
Andererseits: "Igel kennen in ihrem Revier jedes Zaunloch, wissen wo Regenwürmer sind. Wenn man sie versetzt, müssen sie sich komplett neu orientieren und sich vielleicht noch mit anderen Igeln rumschlagen", gibt Berger zu bedenken.
Das sollten auch Menschen beachten, die Igeln helfen wollen. "Wenn man einen Igel sieht, der sich nicht bewegt, sollte man ihn nicht gleich mitnehmen", warnt Dirk Schäuble vom Natuschutzbund (BUND).
Stattdessen sollte man ihn zunächst beobachten. Ist das Tier verletzt, unterernährt, oder nach Wintereinbruch noch unterwegs, sollte man professionellen Rat erfragen, etwa bei der Igelstation in Berlin-Hermsdorf (Bezirk Reinickendorf) oder im brandenburgischen Bernau.
Genauere Tipps gibt es auch auf der Seite des BUND [bund-naturschutz.de].
Neben dem Schutz einzelner Individuen können Menschen vor allem für mehr Igel-Lebensraum sorgen. Kathrin Herrmann, die Berliner Landestierschutzbeauftragte, empfiehlt etwa Gartenbesitzern, Laubhaufen unbedingt liegen zu lassen und den Garten vor allem im Herbst möglichst gar nicht aufzuräumen.
"Bei Gartenzäunen muss darauf geachtet werden, dass sie igelfreundlich sind, also dass die Igel unter ihnen durchkriechen könnten", so Herrmann. Gefährlich sind außerdem die immer beliebteren Mähroboter, vor allem, wenn sie nachts fahren. "Igel rollen sich bei Gefahr zusammen und werden dann lebensgefährlich bis tödlich verletzt", sagt die Tierschutzexpertin. Sie fordert deshalb, Mähroboter allenfalls tagsüber und nur unter Aufsicht einzusetzen.
Herrmann sieht aber nicht nur private Gartenbesitzer in der Pflicht. Auch die Stadt könne etwas tun, indem sie mehr Rückzugsräume in Parks für Igel und andere Wildtiere einrichte und die Parks naturnah gestalte.
Sendung: Radioeins, 05.12.23, 17:30 Uhr
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